Hey Joe!

Georg Seeßlen hat ein anregendes Buch über Lars von Triers „Nymphomaniac“ (2013) geschrieben

Von Andreas JackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Jacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was passiert wenn ein Altachtundsechziger, wie Georg Seeßlen, eines der größten Opfer dieser politisch-kulturellen Bewegung in der Filmszene, den Regisseur Lars von Trier interpretiert? Und diese Ausgangsfrage verschärft sich noch, wenn Seeßlen seine Studie außerdem noch auf einen Film des Regisseurs fokussiert, der zugleich als ein weiterer Abgesang und eine Abrechnung mit den 68ern betrachtet werden kann. Denn so kann man „Nymphomaniac“ durchaus sehen. Die einfachste Antwort lautet, dass mindestens zweierlei Dinge passieren müssen. Zum Einen hat Seeßlen Theodor W. Adorno gelesen und seinen Text mit lauter dialektischen Widersprüchen versehen. Zum anderen hat er sich ausgiebig mit den Poststrukturalisten beschäftigt und wendet ihre Ideen auch immer wieder an.

Beide Theorien lassen die Lektüre zunächst sympathisch erscheinen. Sie strukturieren Seeßlens Filminterpretationen wesentlich und sie unterstützen sie. Im zweiten Fall ist es vor allem Michel Foucault, dessen Überlegungen Seeßlen weit mehr inspiriert haben als die von Gilles Deleuze, Jacques Derrida oder gar Jacques Lacan. Aber auch deren Ideen tauchen in diesem Buch auf.

Bevor diese Rezension sich nun in weiteren Details verliert, muss die sprachliche Gewandtheit des Autors gelobt werden. Der Vielschreiber Georg Seeßlen hat einen äußerst verführerischen Stil, der den Leser sogleich in sein Buch hineinzieht. Dazu muss man sagen, dass hier kein Filmwissenschaftler, sondern ein erfahrener Filmjournalist schreibt und dazu noch einer, der sein Handwerk äußerst gut versteht. Seeßlens präziser und zugleich salopper und flotter Tonfall fasziniert. Etwas ermüdend wird auf Dauer nur der Inhalt. Aber woran das liegt, ist noch zu zeigen. Seeßlen verfügt über einen sehr gefälligen Zugang, hinter dem sich stets erstklassige Recherchen und ein umfangreiches Wissen über den Regisseur und sein gesamtes Werk verbergen. Das allein macht seine Studie schon lesenswert. Sie ist auf einem beachtlichen Niveau geschrieben und liefert zahlreiche Anregungen.

Seeßlen glaubt dabei nicht an die Eindeutigkeit einer Interpretation bei einem Regisseur, der einem bei jeder Position eine lange Nase zeigt, weil er die Gegenposition bereits selbst kennt und längst (mit)reflektiert hat. Demnach kann man sich dem Phänomen Lars von Trier nur nähern, wenn man die Vieldeutigkeit seines Diskurses nachzeichnet, ohne sich jemals auf eine Interpretationslinie festzulegen. Schon in den Vorbemerkungen weißt Seeßlen auf all die Paradoxien hin, die eine lineare Interpretation des dänischen Regisseurs schier unmöglich machen. Was seinen Argumentationsstil allerdings wesentlich von dem Diskurs des Regisseurs unterscheidet, ist Seeßlens Dialektik. Bei von Trier sind es eher extrem ambivalente Kippbilder, die seine Kunst ausmachen.

Er steht Walter Benjamins „Dialektik im Stillstand“ und seiner Melancholie sicherlich näher als Adornos kritischer Schärfe und seiner von Hegel kommenden Negation. Und noch mehr geht es bei von Trier um gefühlte Ambivalenz und nicht einfach um den Logos in den abendländischen Denkstrukturen.

Seeßlen geht mit seinem Ansatz, der vor allem aus einem geschickten Mix aus Frankfurter Schule und Poststrukturalismus besteht, ganz bewusst ein Risiko ein: Er erzeugt durch Überlagerungen verschiedener Diskurse und Argumente Konfusion. Man hat manchmal das Gefühl, dass die Fluchtlinie seiner Analyse, die Dissemination seiner Interpretationen, vielleicht etwas zu freizügig gewählt wurde. Sein überladener, überfrachteter, barocker Stil wird aber andererseits dem behandelten Regisseur aus den genannten Gründen gerecht. Seeßlens Analysen sind immer dann am besten, wenn sie nah am Gegenstand bleiben. Und sie werden schwieriger, wenn sie allzu philosophisch werden und einen Terrain betreten der zahlreichen Spekulationen Tür und Tor öffnet. So ist es wohl die Erbschaft Adornos, die hier eine Feindlichkeit gegenüber den Lüsten nahelegt. Denn was „Nymphomaniac“ auf keinen Fall darf; ist sexuell zu stimulieren. Es geht in dem Film laut Seeßlen um das Leiden am Sex, und nur darum (und genau das ist fragwürdig). Eine solche vollkommene Enthaltsamkeit lässt sich nicht so ohne Weiteres als Ziel der Filme von Lars von Trier belegen.

Auffällig ist außerdem, dass Seeßlen für seine ausschweifenden philosophischen Exkurse oftmals nur kleine Segmente aus den Filmen entnimmt, um diese dann eindringlich zu interpretieren. Ist es nicht die Aufgabe eines Interpreten, neues Material herbeizuschaffen und dem neugierigen Leser zugänglich zu machen? Oder gehen die Exkurse, wie zum Beispiel der über die griechischen Nymphen, bei der Deutung eines Regisseurs, der sich für klassische Dramen überhaupt nicht interessiert, nicht einfach zu weit? Auch davon kann letztendlich keine Rede sein, denn auch der Begriff der Nymphe wird spätestens über Nabokovs „Lolita“wieder sehr konkret auf den Film angewendet. Und das Seeßlen sich auf Friedrich Nietzsches Griechenlandbild beruft, passt ebenfalls zu einem Regisseur, der einen Film gedreht hat, der nicht zufälligerweise „Antichrist“ (2009) heißt.

Der erfahrene Filmjournalist hat einen reichen Wissensfundus und entnimmt ihm oftmals nur auserlesene Proben, um den Leser nicht unnötig zu langweilen. Seeßlens Leitmotivtechnik ist anregend. Und am Ende der Lektüre muss man sogar zugestehen, dass sich die Dialektik eben doch den Kippbewegungen anzunähern weiß, die den Erzählstil der Filme Lars von Triers ausmachen. Es handelt sich um eine Form der Dialektik, die oft mit dem nächsten interpretatorischen Satz bereits ihre Richtung wieder ändert. Wie ein Fisch, der immer wieder durch die Fangnetze der Analysen gleitet, betrachtet Seeßlen dabei das Werk dieses dänischen Regisseurs. Und doch hat er noch lange nicht alle Köder ausprobiert, um ihn zu fangen. Aber Seeßlen geht auch davon aus, dass er sich nicht fangen lässt.

Hinzu kommt eine psychoanalytische Lesart, und Seeßlen hat das Mutterproblem, das den dänischen Regisseur unermüdlich an der Arbeit hält, längst erkannt. Wie Antje Fleming vor ihm (deren Buch über die Frauenfilme des dänischen Regisseurs im selben Verlag erschienen ist) pocht er darauf, dass von Trier sich selbst inszeniert, wenn er über sich spricht, und dass er dabei dennoch zugleich auch authentische Aussagen über sich trifft. Das Paradox besteht demnach darin, dass biografische Aussagen und Inszenierung sich hier nicht voneinander trennen lassen. Was ist also Konstruktion und was ist Wahrheit? Und das ist nur eine der vielen grundsätzlichen Paradoxien, die in diesem Buch ohne jede Auflösung stehen gelassen werden können.

Was dabei jedoch weitgehend fehlt, sind moralische Wertungen oder kritische Einschätzungen des Werkes und des Regisseurs. Wenn sie auftauchen, handelt es sich meistens doch nur um rhetorische Floskeln, die kaum mehr als einen kurzen Aufmerksamkeitsimpuls setzen wollen. Und das ist ein Problem in diesem Buch. Seeßlen versucht jeden moralischen Ansatz, jede ernsthafte Pathologisierung des Regisseurs oder seiner Filmfiguren zu vermeiden. Wenn er sie vornimmt, dauert es nicht lange, bis er sie rasch wieder zurücknimmt. Oder sie bleiben einfach unscharf. So behauptet er beispielsweise, dass alle weiblichen Filmheldinnen bei von Trier Psychotikerinnen wären, nur um sie einige, wenige Seiten später als Hysterikerinnen zu bezeichnen. Sind sie nun beides oder doch besser keins von beidem? Heben sich nicht überhaupt die vielen, verschieden Zuschreibungen in dieser Analyse gegenseitig (wieder) auf? Die intendierte Dialektik nivelliert dabei zumindest eben auch jede einfache Einschätzung und Beurteilung. So kann es zu keiner ernsthaften Kritik an dem Regisseur oder seinen Filmen kommen. Aber fordern die Provokationen bei von Trier nicht geradezu moralische Empörungen heraus? Seeßlen hat offensichtlich Angst, auf Lars von Trier hereinzufallen, der jedoch möglicherweise doch nicht ganz so klug ist, wie der Filmjournalist glaubt. Und diese Angst, in die Interpretationsfallen des Regisseurs zu rennen, lassen Seeßlens Rezension letztlich zu sehr in der Schwebe. Ohne ethische Wertmaßstäbe einem Regisseur gegenüberzustehen, der (un)moralische Filme dreht, wirkt unbeholfen. Bei aller Raffinesse wäre es ein Leichtes gewesen, hier mehr Angebote zu machen, den Regisseur tatsächlich zu dekonstruieren.

Auf der anderen Seite werden die Herstellungsprozesse, die vielschichtigen Inhalte, die Auswahl der Schauspieler, die Verbindungen unter den Filmen, der ganze Werkzusammenhang so überzeugend dargestellt und interpretiert, dass man bereit ist, Seeßlen diese Schwäche zu verzeihen. Und Seeßlen weigert sich nicht, in die Diskurse, die die Filme stiften, wirklich einzutreten. Er taucht in die Filme ein. Was aber dennoch fehlt, ist ein genauerer Blick auf die Inszenierungsstrategien des Regisseurs. Seeßlen ist von der Idee eines Arthouse-Regisseurs, einen Porno zu drehen, einfach zu begeistert um die sich dahinter verbergenden Probleme genauer zu betrachten. Exzellent sind hingegen seine Ausführungen zum Casting der Darsteller. Hier wird tief in der Vita der Stars gestöbert und der Zusammenhang mit der Rolle eingehend erschlossen. Aber auf der Ebene der Dramaturgie bleiben die Türen doch verschlossen. Es sind die philosophischen, soziologischen und filmwissenschaftlichen Horizonte, die Seeßlen am meisten interessieren. Zu sehr behält von Trier aber auch hier als letzte Autorität das letzte Wort, die er gar nicht sein will.

Woher kommt nun dieser Enthusiasmus des renommierten Filmkritikers für dieses Projekt? Um es gleich vorwegzunehmen: Es war der Sex, der Seeßlens Sympathie für von Trier in dieser Dimension entflammte und der ihn dazu trieb, dieses Buch zu schreiben. Und auch dagegen kann man nichts haben. Denn warum sollte dieses Thema nicht die Motivation für eine Filmanalyse schaffen? Aber leider verdammt Seeßlen gerade diese Ebene in „Nymphomaniac“. Er will gar nicht wahrhaben, dass dies ein Pornofilm ist. Es gehe von Trier um die Negation der Sexualität. Das ist es, was Seeßlen in dem Film sehen will und zugleich als spezifisch skandinavische Zugangsart zum Thema betrachtet. Doch von Trier ist nicht Ingmar Bergmann und „Nymphomaniac“ ist kein Anti-Porno. Es geht nicht darum, die Lust auszutreiben, sondern es geht darum, den Geist zu denunzieren. Einen Geist, der im Gegensatz zum Körper steht. Der sich mit ihm entzweit hat und ihm nicht mehr gerecht wird. Seeßlen spricht auch immer wieder von dieser Differenz zwischen Wort und Fleisch. Und er schreibt, dass dieser Film in seinen philosophischen Dialogen mehr eine Komödie als alles andere darstellte. Seeßlen geht jedoch auch philosophischen Motiven sehr ernsthaft nach. Er stellt sich nicht die Frage, warum alle Filme des dänischen Regisseurs die Probleme, die sie zeigen, nicht auflösen können. Er legitimiert diesen Ansatz vielmehr durch eine Kulturkritik, die mit der Adornos verwandt ist.

In einem früheren Aufsatz „DOGMA oder Warum es notwendig wurde, der Krise des Erzählens im Film mit einem post-postmodernen Wirklichkeits-Remix zu begegnen“, der 2001 erschienen ist, hatte der clevere Filmjournalist von Trier und seine Dogma-Brüder noch weitaus schärfer kritisiert. Die Methode sei letztendlich reaktionär und das Gewackel mit der Handkamera eine neue Art der Wichtigtuerei des Mediums gegenüber dem Objekt. Es handele sich um eine Form des Kinos, die blind machen würde, eine Form, die aus der eigenen Krise der Filmindustrie ein Genre gemacht hätte. Seeßlen hielt damit von Triers Konzept für überbewertet, für das Gegenteil von Freiheit.

Zugleich spürte man aber schon hier seine Sympathie, Seeßlens gleichzeitige Affinität für dieses revolutionäre Kino oder dieses Kino der Revolution. Bei „Dogville“ änderte der Kritiker dann seine Meinung und erklärte Dogma nun einfach zu einem unwichtigen Nebenprojekt. Nun wurde der Däne gerade aufgrund seiner reduzierten Mittel sehr gelobt. Und auch die Handkamera wurde nicht mehr moniert. Seeßlens neues Buch erschien nun zusammen mit der Kinopremiere von „Nymphomaniac Vol 2.“ Und es präsentierte sich vor allem als ein Buch zu diesem Film. In dem Augenblick, in dem von Trier die Sexualität zu seinem eigentlichen Thema werden ließ, hatte sich das Interesse des Altachtundsechzigers zumindest sehr gesteigert. Nun war für Seeßlen der Moment gekommen, eine genaue Analyse dieses Films mit vielen Bezügen zum Gesamtwerk herzustellen. Und auch dagegen ist überhaupt nichts zu sagen. Es ist sicherlich seine Sympathie für den exzessiven Lebensstil von Joe (Stacy Martin, Charlotte Gainsbourg), der ihn dazu gebracht hat, sogleich ein ganzes Buch über diesen Film zu schreiben.

Wie konventionell dieses Werk in Bezug auf die philosophische Tradition des Leib-Seele-Problems, der Geschlechterdifferenz, den Gegensatz von weiblichem Körper (Natur) und männlichem, körperlosen Geist (Kultur) strukturiert ist, fällt dem Filmjournalisten dann zwar durchaus auf. Aber er scheint diese Darstellung nicht kritisieren zu wollen, sondern vielmehr als eine reflektierte Wiedergabe der Realität anzuerkennen. Er geht dabei von Trier mehr auf den Leim, als wenn er sich von dieser Struktur einfach kritisch distanziert hätte. Selbst das Bild von der Hure und der Heiligen, der zärtlichen Mutter ohne Sexualität oder der Nymphomanin ohne zärtliche Bindung wird von ihm zwar durchschaut, aber er zieht daraus keinerlei Konsequenzen. Seeßlen nimmt vielmehr gutmütig an, dass von Trier diese Männerfantasien durchaus selbst erkannt hat und sich trotzdem zu ihnen herab lässt, um ihre Gründe auszuloten. Aber muss das denn sein? Führt das denn tatsächlich weiter?

Und eine andere Ebene, eine Lesart, die der Film selbst durchaus anbietet, wird ebenfalls unterlaufen oder überflogen. Sie taucht zwar bei Seeßlen auf, verschwindet aber auch rasch wieder im Rahmen seiner Dialektik. „Nymphomaniac“ ist der dritte Teil einer Trilogie über die Depression. Die Depression ist eine schwere psychische Krankheit. Der Film resümiert ihre Ursachen in Bezug auf eine Sexsucht, die schon in „Antichrist“ (2009) ein wesentliches Motiv darstellte. Sexsucht und Depression gehören demnach untrennbar zusammen. Und ihr konkreter Zusammenhang besteht in „Nymphomaniac“ darin, dass eine Frau vor ihrer Trauer in eine Sexbesessenheit flüchtet. Liegt in dem Tod ihres Vaters, vor dem sie flieht, nicht der Ausgangspunkt für Joes Sexsucht? War der Vater nicht dieser Andere, an den sie nicht mehr gebunden sein wollte? Liegt eine der wesentlichen Ursachen ihrer Sexsucht nicht in ihrer Unfähigkeit zur Trauer? Einer Trauer, die Trennungen verarbeitet, um neue Bindungen zu ermöglichen? Eine Tochter wird nicht (wie in diesem Film) sexuell stimuliert durch den Tod ihres Vaters (es sei denn sie ist pervers oder psychisch völlig gestört). Das vergisst Seeßlen, oder er will es nicht wahrhaben. Und wird aufgrund dieser Unfähigkeit nicht die Sexsucht zu einer Art Flucht, die von der Promiskuität in die Perversion und schließlich in die Kriminalität flüchtet? Ungefähr diese Etappen würde eine moralisch/psychoanalytische Lesart anführen, die nicht versuchen würde, die Überschreitungen der Handlung zu rechtfertigen, sondern zu beschreiben. Und dabei muss man, anders als Seeßlen, nicht punktuell, sondern kohärent davon ausgehen, dass Joe (wie schon in dem Song „Hey Joe“ von Jimi Hendrix) seit ihrer Pubertät psychisch krank war. Sonst verliert man tatsächlich jeden Maßstab für die Einschätzung dieses Films. Die Konsequenzen sind schon da: Joe wird allein bleiben. Das ist es, was am Ende zählt – und das ist es; worunter sie sehr leiden wird. Aber vielleicht sollte man, gerade um diesen Zusammenhang wirklich zu verstehen, Georg Seeßlens Studie erst einmal lesen. Denn eines ist gewiss: Sie motiviert dazu, sich mit diesem schwierigen Film nochmals auseinanderzusetzen.

Titelbild

Georg Seeßlen: Lars von Trier goes Porno. (Nicht nur) über NYMPHOMANIAC.
Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2014.
224 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783865057266

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch