Satirisches Vermächtnis

Das Buch „Letzte Zugabe“ des Kabarettisten Dieter Hildebrandt kommentiert die Lage der Nation

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 28. Mai 2014, ein halbes Jahr nach seinem Tod, trafen sich Freunde und Weggefährten des Münchner Kabarettisten Dieter Hildebrandt im Mainzer Kabarettarchiv. Anlass war die Enthüllung der von dem Bildhauer Eberhard Linke geschaffenen Hildebrandt-Büste. Sie zeigt den Kabarettisten so, wie er in bester Erinnerung bleiben wird: Mit schalkhaft blitzenden Augen und einem spöttischen Zug um die Mundwinkel schaut er seine Betrachter und die Büste seines Kollegen Hanns-Dieter Hüsch an, gegenüber der er platziert wurde. „Er hat für uns gelebt, um für uns da zu sein, wenn er weg ist“, äußerte sich der Schauspieler Otfried Fischer recht hintergründig bei der Veranstaltung. Alle Teilnehmer hoben hervor, dass Hildebrandt das deutsche Kabarett nachdrücklich geprägt und im Jahr 2005 zurecht mit einem Satire-Stern auf dem Mainzer „Walk of Fame“ ausgezeichnet worden ist.

Überhaupt wurde Hildebrandt mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft, und alle waren verdient, denn er war ein Meister der Satire. Dies stellt auch das Buch „Letzte Zugabe“ unter Beweis, das seine Witwe Renate Küster-Hildebrandt posthum herausgegeben hat. Es enthält eine Sammlung von Alltags-Notizen, Gedanken-Splittern, kabarettistischen Texten und Kommentaren. Hildebrandt zeigt sich ein letztes Mal von seiner besten Seite: Ein Meister der spitzen Feder, der gesellschaftliche und politische Vorgänge präzise erfassen und satirisch verarbeiten konnte.

Zu Beginn des Jahres 2013 hatte Hildebrandt mit der Konzeption seines letzten Buchs begonnen. Er konnte den Band selbst nicht mehr zum Abschluss bringen. Die gesammelten Texte wurden von seinem Lektor Rolf Cyriax geordnet und thematisch zusammengestellt, so weit dies möglich war. Es bleibt ein Sammelsurium – aber  ist das nicht auch charakteristisch für einen Kabarettisten, der zu allem etwas zu sagen hatte und sich oft auf witzigen Abwegen verirrte und verstotterte, letztendlich aber sein Ziel nie aus den Augen verlor und stets zum Wesentlichen zurückfand?

„Dieses Buch des Nachlasses nun bewahrt die Erinnerung an einen, dem das Schreiben, Gedanken-Fassen, Weiterdenken, Formulieren, Genauigkeit-Herstellen Lebenselement war“, schreibt Roger Willemsen und erläutert: „Darüber hinaus gibt es sehr wenige Menschen, die ein ganzes Genre nicht allein bewahrt, sondern es definiert haben. Dieter Hildebrandt hat das Kabarett aus der Notwendigkeit des Antifaschismus in eine Zeit geführt, die dem Politischen einen großen Horizont gab. Er hat die Notwehr zur theatralischen Bürgerinitiative erhoben, hat die Außerparlamentarische Opposition, das deutsch-deutsche Kabarett gefördert, hat unzählige Hilfsorganisationen und humanitäre Initiativen unterstützt.“ Das Buch „Letzte Zugabe“ liefert den Beweis für die Richtigkeit von Willemsens Aussagen. Es bietet ein anregendes Lesevergnügen mit zahlreichen Lachanreizen.

Am Anfang steht die Rede, die Hildebrandt am 1. September 2013 anlässlich der Verleihung des Erich-Kästner-Preises gehalten hat. Der Kabarettist beschreibt den Schriftsteller, der für ihn ein Vorbild gewesen ist, mit Aussagen, die auch auf ihn selbst zutreffen. Zum Beispiel: „Große Leute nehmen kleine Leute wahr.“ Der große Kästner hatte Hildebrandt wahrgenommen, als der noch ein unbekannter Karten-Abreißer im Theater war, Hildebrandt hat sich später, als er ein „Großer“ geworden war, gegenüber „kleinen Leuten“ auch so verhalten. Und wenn er behauptet, dass uns ein Kästner gerade in Krisenjahren gut täte, so trifft auch diese Aussage auf ihn zu: Wie sehr hat sich das an politischer Satire interessierte Publikum stets auf sein Kabarett gefreut, wie groß ist die Lücke, die er mit seinem Tod gerissen hat.

Hildebrandt beherrschte die Kunst der Satire in Schrift und Wort. Mit witzigen Wortspielen bot er seiner Leserschaft und seinem Publikum beste Unterhaltung. „Seit einiger Zeit gibt es das Tätigkeitswort lideln oder schleckern“, stellt er in einem Kapitel fest und fährt fort: „Manchmal weiß man nicht, ob Schlecker lidelt oder Lidl schleckert.“ Eines seiner Bonmots lautet: „Man kann nicht mit der Faust auf den Tisch hauen, wenn man die Finger überall drin hat.“ Mit Lust seziert er den Gebrauch von blöden Begriffen, wie sie im Neudeutsch verwendet werden: Dort ist von „Verkaufe“, „Tanke“, „Denke“, „Staune“, „Stutze“ die Rede.

Sein letztes Projekt war die Einführung des „Stoersenders“, in dem er seiner satirischen Lust unzensiert freien Lauf lassen konnte. Er erzählt von „Stoersender-Episoden“ und den Beiträgen, die er für den „Stoersender“ geschrieben hat und präsentiert seine Version der Nationalhymne, die der modernen Zeit angepasst wurde: „Arbeitslos mit Recht auf Freizeit / hier im deutschen Muttiland / wirste wohl noch lange leben / mit ‘nem Euro in der Hand, / den wir bei Harz IV abgeben – / freu  dich deutsches Muttiland.“ In dem Kapitel „Der Waffenkaiser“ fügt er zynisch eine weitere Strophe hinzu: „Einigkeit und Recht auf Reichtum / für Heckler, Koch und Mannesmann. / Damit lasst uns fröhlich morden, / wenn wir’s nicht tun, sind andre dran.“

Die Themen sind weit gefächert, wie bei Hildebrandt nicht anders zu erwarten ist. Er klärt über sie auf und setzt sich satirisch mit ihnen auseinander: Energiewirtschaft und Atommüll, Freiheit und Sicherheit, der neue Papst und das Parteiensterben, Satire im TV und „Das Tröstliche bei der BILD-Zeitung“, Ereignisse aus deutschen Landen und die Zukunft von Gestern werden angesprochen. Außerdem berichtet er über die „Merkelmania“ bei Wahlkämpfen und die „schlappen Hüter der Verfassung“, über die Aktivitäten von Burschenschaften und Neonazis, über Waffengeschäfte und die bayerische Justiz, über Bankgeschäfte und Untersuchungsausschüsse, über das Soldatenschutzgesetz und die Rücktritte von Politikern, über Kirche und Glauben, über Höhepunkte im Sport und die Theatralik beim Fußball, über Altern und Sterben.

In dem Kapitel über „die Eckwerte“ lässt sich Hildebrandt darüber aus, dass „die Zunft der Heiterkeitserreger“ sich „von den diversen Wertekommissionen völlig allein gelassen“ fühlt: „Während im frei gestalteten deutschen Humorraum, der ohne Betreuung durch anstaltsgebundene Theoretiker auskommen muss, die Eckwerte grob missachtet werden, was dazu führt, dass der Lach-Dax in unkontrollierbare Schwingungen gerät, sollte sich diesem inkongruenten Verhalten gegenüber die Politik einschalten, um zu verhindern, dass weiterhin Schmunzelwerte und Lachbomben wie Äpfel und Birnen zu einer unbekömmlichen Sauce verrührt werden, die ein Koordinatenkreuz der Grundwerte unmöglich macht und die über alles gegossen wird, was als Gesamtkuchen des deutschen Amusements täglich gebacken wird. Verzeihen Sie die klaren Worte.“

Hildebrandts Kommentar zu den Aktivitäten der Verfassungsschützer, die ein „Missverhältnis zwischen Gesetz und Verstand“ offenbaren: „Wenn 76 Beamte rund um die Uhr auf Menschen angesetzt sind, deren Tätigkeit darin liegt, im Parlament zu arbeiten, während ein Mördertrio der Neonazis jahrelang nicht einmal ansatzweise geortet werden kann, weil dafür zu wenig Beamte zur Verfügung stehen, muss der gesetzliche Auftrag schleunigst geändert und der Verfassungsschutz überwacht werden.“

Es war Hildebrandt nicht vergönnt, seinen „Text für den geplanten ersten Auftritt nach seiner Genesung am 1. Dezember 2013 in der Lach- und Schiessgesellschaft“ vorzutragen. Aber man kann ihn bei den „letzten Zugaben“ nachlesen und erfährt so, dass er herausgefunden hat, dass „Krankenhäuser ein Gesundheitsrisiko“ sind: „Eins ist mir klar: Am Schluss wird man nicht von Blumen erdrückt, sondern von den Rechnungen der Radiologen erstickt werden.“ In dem Kapitel „Alter ist alternativlos“ kommt der Spötter zu der Erkenntnis: „Das Altern ist privatisiert. Wer alt ist, befindet sich auf dem freien Markt. Wer Geld hat, überlebt den Tod besser. Auf Altenmessen ist das erkennbar.“ Und in dem Kapitel „Über das Sterben und die Folgen für die Folgenden“ legt er dar: „Als Nachkomme hat man das Gefühl, dass der Tote immer teurer wird. Und je öfter die Ämter die Bestätigung des Gestorbenseins einfordern, umso schneller schmilzt das, was der Erblasser hinterlässt. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass seine Grabstätte teuer bezahlt werden muss.“

Aus seinen Trauerreden für den Verleger Karl Blessing und seine Kollegen Hans Jürgen Diedrich und Peter Ensikat erfährt man vieles, was sich vor und hinter den Kulissen abgespielt hat. Zusammengesetzt liefern diese Texte ein treffliches Zeitkolorit.

Wenn sich künftige Generationen darüber informieren möchten, wie Politik und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in der ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ausgesehen haben, sollten sie unbedingt Hildebrandts Texte lesen. Am besten wäre es, wenn die Schulbuchverlage einige davon in die Lesebücher aufnehmen würden, denn sie sind eine Fundgrube. Sie öffnen Einblicke in die Lage der Nation, sie analysieren satirisch-kritisch das politische Tagesgeschehen.

„Er war ja nicht Kabarettist, Erzähler, Bühnenarbeiter allein“, schreibt Roger Willemsen über Dieter Hildebrandt in dem Nachwort zu dem Buch „Letzte Zugabe“, „er war zu einem wesentlichen Teil Autor, legte seine Bücher nicht als bloße Verlängerungen seiner Bühnenprogramme an, sondern als eigenständige Werke, und schließlich wurzelten ja auch alle diese Programme im Geschriebenen.“

Schade, dass Hildebrandt nicht mehr miterleben durfte, dass Deutschland 2014 zum vierten Mal Fußball-Weltmeister geworden ist. Der leidenschaftliche Fußball-Fan hätte sich gewiss unbändig darüber gefreut, was ihn andererseits sicherlich nicht davon abgehalten hätte, auch dieses Ereignis sprachwitzig zu kommentieren.

Titelbild

Dieter Hildebrandt: Letzte Zugabe.
Mit einem Nachwort von Roger Willemsen und Zeichnungen von Dieter Hanitzsch.
Blessing Verlag, München 2014.
272 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783896675378

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