Ambivalenzen eines Ortes

Ingeborg Bachmann und Paul Celan in Wien

Von Anna-Lena TöbbenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Lena Többen

Wenn man durch Ingeborg Bachmanns Ungargasse läuft, achtet man nicht nur auf die Häuser, sondern vor allem auf die Schilder an den Häusern. Im Haus Nr. 5 wohnte Ludwig van Beethoven, ein wenig weiter, in der Nr. 8, Joseph von Eichendorff. Nur ein Stück die Straße hinauf, jeweils eine Nummer weiter, in den Häusern Nr. 6 und Nr. 9, ließ Bachmann die Hauptfiguren ihres Romans „Malina“ wohnen, deren Leben fortan um den Ort kreisen, welches von der Ich-Erzählerin ihr „Ungargassenland“ genannt wird.

Bachmann selbst lebte während ihrer Zeit in Wien in der Beatrixgasse und in der Gottfried-Keller-Gasse. Beide befinden sich in unmittelbarer Nähe zur Ungargasse. Dennoch wundert man sich beim Lesen des Romans „Malina“, weshalb sie gerade diese Straße als Wohnort ihrer Figuren wählt, denn die Ich-Erzählerin selbst beschreibt die Ungargasse zunächst als wenig einladend. „Sie ist […] nicht unbekannt zu nennen, denn man kennt sie schon, aber ein Fremder wird sie nie zu Gesicht bekommen, weil es in ihr nichts zu besichtigen gibt und man hier nur wohnen kann. […] Es gibt, und das ist leicht zu erraten, viel schönere Gassen in Wien“.

Verirrt man sich als Fremder dennoch in die circa einen Kilometer lange Straße, versteht man ihre Liebe zu dieser Gasse besser. Die Menschen, die man auf der Straße trifft, leben tatsächlich hier. Touristenströme und Souvenirshops gibt es keine, stattdessen schauen die Bewohner skeptisch, wenn ein Fremder vor ihrem Haus steht und es anschaut, als wären sie sich der Vergangenheit der Häuser nicht bewusst. Schön ist sie tatsächlich nicht, auch weil der Name trügt und die Ungargasse allein schon aufgrund ihrer Größe gar keine Gasse ist.

Dennoch muss man Bachmanns Erzählerin widersprechen, denn zu besichtigen gibt es viel. Die vielen alten Gebäude mit ihren berühmten einstigen Bewohnern geben dem Besucher das Gefühl, als ginge er durch ein lebendiges Museum, in dem man die Augen offenhalten muss, um keine der Tafeln zu übersehen. Schnell verpasst man ein Haus und muss deswegen langsam gehen und sich jede Fassade genau ansehen. Es ist ruhig in der Ungargasse, auch wenn ab und zu ein Auto die Straße durchfährt. Bachmann selbst sprach von ihrer Hassliebe zu Wien. Ihr „Ungargassenland“ wirkt wie ein Mikrokosmos, in dem die Stadt sich auf ihr Innerstes konzentriert und ihrer Persönlichkeiten ohne Prunk erinnert, indem hier gleichzeitig beruhigender Alltag vonstattengeht. „Nichts ist sicherer als dieses Stück der Gasse. Bei Tag laufe ich die Stiegen hinauf, in der Nacht stürze ich auf das Haustor zu, mit dem Schlüssel schon in der Hand, und wieder kommt der bedankte Moment, wo der Schlüssel sperrt, das Tor aufgeht, die Tür aufgeht, und dieses Gefühl von Nachhausekommen, das überschwemmt mich in der Gischt des Verkehrs und der Menschen“. Ist das, was die Erzählerin an Wien nicht mag, in dem Gewühl der Innenstadt zu suchen, so ist ihre Liebe zu der Stadt hier vielleicht am besten zu verstehen.

Steigt man von der Ungargasse aus in die U-Bahn, fährt man 23 Minuten bis zum Franz-Josefs-Bahnhof, in dessen Nähe Paul Celan wohnte. Hier lebte er während seines Aufenthalts in Wien bei seinem Freund, dem Maler Edgar Jené. Anders als bei Bachmann ging sein Wohnort nicht unmittelbar in Celans schriftstellerisches Werk ein, dabei würde der heutige Bahnhofsvorplatz gut in eines seiner Gedichte passen. Von der Gemütlichkeit der Ungargasse ist hier nichts zu spüren. Stattdessen versuchen die meisten Menschen möglichst schnell in eine der Straßenbahnen zu steigen, die vor dem Bahnhof halten. Ruhig stehenzubleiben ist wegen des vielen Verkehrs hier kaum möglich. Hier ist Wien wie jede andere Großstadt laut und dreckig. Jenés und damit Celans Wohnort ist schwer zu finden. Der Althanplatz wurde 1949 in Julius-Tandler-Platz umbenannt, und ob die Hausnummern die gleichen geblieben sind, ist fraglich. Man sucht vergeblich nach einem Hinweisschild oder einer Gedenktafel. Das Gefühl der Heimkehr, welches die Ich-Erzählerin bei ihrer Beschreibung der Ungarasse in den Vordergrund stellt, ist hier schwer vorstellbar. Tatsächlich beginnt man sich zu wundern, dass zwei so unterschiedliche Orte wie diese in einer Stadt zu finden sind. Gleichzeitig erinnert dieser Gegensatz jedoch an das Unüberwindbare im lyrischen Diskurs zwischen Bachmann und Celan.

Beide lebten hier kurz nach dem Krieg im Jahr 1946. Obwohl Celan nicht lange in der Stadt blieb, ist Wien dennoch der Ort ihrer persönlichen wie auch ihrer lyrischen Begegnung. Auch persönlich verkörpern sie zwei gegensätzliche Pole: Ingeborg Bachmann war die Tochter eines frühen Mitglieds der NSDAP, Paul Celan dagegen ein staatenloser Jude, der den Holocaust überlebte und dessen Eltern in deutschen Konzentrationslagern umgebracht worden waren.

In ihrer Lyrik treffen sich die beiden im Prater, dem von der Donau und den Aulandschaften geprägten Teil der Stadt. Auf einer Karte betrachtet, bilden der Josefsbahnhof und die Ungargasse zusammen mit dem Prater ein Dreieck, wobei der Prater die Spitze zwischen den beiden Orten markiert. So liegt er in der Mitte, aber außerhalb der verbindenden Gerade und damit auch außerhalb der beiden Lebensbereiche der Dichter. In Celans Gedicht „Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt“ begegnen sich hier Ost und West, zugleich ist es aber auch der Ort der Begegnung von Vergangenheit und Gegenwart.

Auch Ingeborg Bachmanns Gedicht „Große Landschaft bei Wien“ beschreibt den Prater im Licht des Vergänglichen. Hier wird das Aufleben alter und großer Kräfte versinnbildlicht. Statt berühmter Wohnorte findet man berühmte Textszenen. Hier gab sich Arthur Schnitzlers fiktiver „Lieutnant Gustl“ seinen Selbstmordfantasien und Elfriede Jelineks ebenso fiktive „Klavierspielerin“Erika Kohut ihrem Voyeurismus hin. Gleichzeitig strömen die Touristen durch den Prater, fotografieren das Riesenrad, welches in Celans Gedicht „Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt“ keine Attraktion ist, sondern als Ende einer Liebesbeziehung zwischen dem lyrischen Ich und dem Du des Gedichts gedeutet werden kann. Hier ist es „das tote Ringelspiel“, das leise nachklingt, um dann endgültig zu verstummen. Und auch in „Große Landschaft bei Wien“ schleift es „[d]urch Staub und Wolkenspreu […] den Mantel, der unsere Liebe deckte“. Dennoch ist der Prater gleichzeitig der letzte Ort, an dem Metaphern Bedeutung haben und so zu Celans „letzte[m] / reitende[m] Sandkorn“ werden. Hier könnte es sein, wo in „Malina“ „aus den Gerüchtefiguren […] die wahren Figuren, befreit und groß, hervortreten“.

Sowohl Ingeborg Bachmann als auch Paul Celan kehrten Wien den Rücken zu. Der Stadt verbunden blieben sie durch ihre Lyrik. Wie diese, ist auch Wien ein Ort voller Gegensätze.