Der Dichter der kleinen Freiheit

Ein Essay über Erich Kästner aus dem Jahr 1974

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

I.

Erich Kästner ist ein wehmütiger Satiriker und ein augenzwinkernder Skeptiker. Nie wollte er aufhören zu glauben, dass die Menschen besser werden könnten, „wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt und auslacht“. Er, der Autor düsterer und resignierter, bissiger und bitterer Gedichte, war in Wirklichkeit Deutschlands hoffnungsvollster Pessimist und der deutschen Literatur positivster Negationsrat.

Er gehört zu den Moralisten, die zugleich Spaßmacher sind. Er ist ein Conférencier, der keine Hemmungen hat zu predigen. Und er ist ein Prediger, der gern und stolz die Narrenkappe trägt. In allem, was er geschrieben hat, dominiert unmissverständlich und dennoch unaufdringlich das Pädagogische. Mithin ein Schulmeister gar? Aber ja doch, nur eben Deutschlands amüsantester und geistreichster.

Er wurde schnell berühmt und nie ganz anerkannt. Ob in Versen oder in Prosa – er drückte sich immer einfach und leicht aus. Also befürchtete man, es sei einfältig und ungewichtig. Was er zu sagen hatte, war immer ganz klar. Also vermisste man die Tiefe. Er war witzig. Also nahm man ihn nicht ganz ernst. Er hatte Anmut und Charme. Also hielt man ihn für etwas unseriös. Er war sehr erfolgreich, ja, er wurde – wie seine Zeitgenossen Tucholsky und Ringelnatz, Fallada und Zuckmayer – ein typischer Volksschriftsteller. Also misstraute man ihm.

Aber Erich Kästner, dieser Berliner aus Dresden, der seit bald dreißig Jahren in München lebt, ist vom Geschlecht der Lessing und Lichtenberg, der Heine und Fontane. Das seien, ließe sich sofort einwenden, etwas hohe Sockel und, bei allem Respekt, nun doch nicht ganz geeignet für den Dichter, der von Emil und den Detektiven erzählt hat. Zugegeben. Doch in dem Land, in dem man zwar Bach schätzt, aber Offenbach unterschätzt, wo man die Wagner und Brückner verehrt und die Nicolai und Lortzing herablassend belächelt, wo die Walzerkönige ebenso gebraucht wie bagatellisiert werden, da kann man nicht oft genug erinnern: Verachtet mir die kleinen Meister nicht!

II.

Seinen ersten Lyrikband („Herz auf Taille“, 1928) eröffnet das Gedicht „Jahrgang 1899“. Es ist – wie einige Jahre vorher Brechts „Vom armen B. B.“ und fast vierzig Jahre später der poetische Bericht „Kleckerburg“ von Günter Grass – das Gedicht einer ganzen Generation. Die entscheidende Strophe lautet: „Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt / anstatt mit Puppen zu spielen. / Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt / soweit wir vor Ypern nicht fielen.“

So erwies sich auch Kästner als ein Sprecher – um den von Hemingway popularisierten Begriff zu verwenden – der „lost generation“. Daraus ist längst ein Schlagwort geworden. Aber nicht die deutschen Schriftsteller sind schuld, dass sich in Deutschland seit über einem halben Jahrhundert die verlorenen Generationen auf die Hacken treten. Ihre Repräsentanten, auch die intelligentesten und bedeutendsten, sind in der Regel für die Ideale und Losungen der radikalen politischen Bewegungen besonders empfänglich: Brecht, Anna Seghers und zeitweise auch Tucholsky gingen zu den Kommunisten, Benn war zwei oder drei Jahre lang von den Nazis wenn nicht fasziniert, so doch jedenfalls affiziert.

Und Kästner? „Ich hasse Ideologien, welcher Art sie immer sein mögen. Ich bin ein überzeugter Individualist.“ Er hat dies 1969 gesagt, doch damit nur ausgedrückt, was schon sein Werk der zwanziger Jahre erkennen lässt. Während andere das Bedürfnis hatten, sich einzureihen, bei einer politischen Organisation Schutz zu suchen oder sich mit ihr gar zu identifizieren, blieb Kästner – wie der Titelheld seines Romans „Fabian“ (1931) – zwischen den Fronten und Parteien. „Ich setze mich sehr gerne zwischen Stühle. / Ich säge an dem Ast, auf dem wir sitzen“ – heißt es in seinem „Kurzgefaßten Lebenslauf“ aus dem 1930 erschienenen Band „Ein Mann gibt Auskunft“. Folgerichtig betitelte er seine nächste Lyriksammlung „Gesang zwischen den Stühlen“ (1932). Später griff er auf den Shakespeare’schen Vergleich der Welt mit dem Theater zurück, um zu sagen: „Ich spiel’ nicht mit. In jedem Stück / muß es auch Menschen, die bloß zuschaun, geben.“

Dieser schon in Kästners frühen Jahren auffallende Rückzug auf die Position ausschließlich des Zeugen, des kritischen Beobachters und ironischen Kommentators gab seinem Werk von vornherein eine (von ihm freilich kokett betonte) melancholische Note. Er stellte sich gern als Moralist vor, genoss offensichtlich den Gegensatz zwischen der betulichen und feierlichen Aura dieses Terminus und der kessen und schnoddrigen Diktion seiner Verse und seines „Fabian“ und sprach (wiederum nicht ohne Koketterie) von der Vergeblichkeit der Bemühungen des Moralisten: „Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten.“

Kästner ist also ein Moralist ohne Illusionen. Und auch ohne Programm? Gewiss, es hieße sein Werk verkennen und überfordern, wollte man ihm mit philosophischen oder politischen Kategorien beikommen. Gleichwohl hat es eine zwar simpel anmutende, doch solide Basis: Es ist Kästners schwermütiger Rationalismus, es ist sein von ihm immer wieder angezweifeltes und doch nie aufgegebenes Vertrauen zur ethischen Kraft der Vernunft und zur moralischen Wirkung der Ordnung.

Ähnlich wie Heinrich Mann, wie Feuchtwanger ist auch er in die Vokabel „Vernunft“ geradezu verliebt, sie mutet in seinen Schriften bisweilen wie ein Fetischwort an: „Erkannte man, daß die Vernunft das Vernünftigste war?“ fragt er im „Fabian“. Der Glaube an den gesunden Menschenverstand ist allerdings bei diesem späten Nachfahren der deutschen Aufklärung von Naivität und Treuherzigkeit nicht ganz frei. Doch ist es dieser Glaube, der ihn vor ideologischen Scheuklappen bewahrt und der es ihm ermöglicht hat, nicht nur gegen Heuchelei und Borniertheit zu protestieren, sondern auch gegen „Religion als Politik und Politik als Religion“.

Seine beharrliche Ablehnung der ideologischen Rezepte traf logischerweise in allen Parteien, gelinde gesagt, auf wenig Gegenliebe. Das scheinbar so harmlose Gedicht „Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“ ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Aber damit hat es auch zu tun, dass viele seiner Gedichte aus der Weimarer Zeit bis heute überlebt haben und einige sogar überraschend aktuell sind.

III.

In den zwanziger Jahren, als es darum ging, den Lesern, die von Trakl’scher Trauer, vom Rilke’schen Rhythmus und vom George’schen Gepränge begeistert und betört waren und vom expressionistischen Schrei genug hatten, eine Dichtung schmackhaft zu machen, die deutsch und dennoch nützlich wäre, als Poesie für den Alltag das Gebot der Stunde hieß, da war Kästner einer von jenen „Gebrauchspoeten“, die „Gebrauchslyrik“ zu liefern entschlossen waren.

Gedichte sollten, meinte er 1928, „seelisch verwendbar“ sein, er verstand sie als Notizen „im Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart“, wogegen ihm „die Bekanntgabe persönlicher Stimmungen“ geradezu verwerflich schien.

„Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung, / doch um zu dichten, schrieb er nie.“ Er meinte Lessing, aber es gilt auch für ihn selber. Was seine Protokolle aus dem Leben der modernen Großstadt zunächst auszeichnet, ist ihre auf dem Hintergrund der deutschen Lyrik gar nicht so selbstverständliche Unmittelbarkeit und Deutlichkeit. Goethe empfahl spöttisch die Geheimniskrämerei, denn: „Wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf es ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter.“ Der Lyriker Kästner wagte es, gleich und immer zu sagen, worauf es ihm ankam. Unzählige Leser waren ihm dafür dankbar; nur dass viele Kritiker es ihm nicht verzeihen wollten.

Die kunstvolle Machart dieser melodischen und oft einschmeichelnden Verse ist nie recht anerkannt worden. Gewiss, die formale Erneuerung der Poesie war seine Sache nicht. Es sei bestimmt schwerer – ließ er eine Komödienfigur sagen –, „mit üblichen Mitteln etwas zu sagen als mit Tricks“. Von Stilakrobatik wollte er nichts wissen: „Mit der Sprache seiltanzen, das gehört ins Varieté.“ Meist verließ er sich auf die herkömmlichsten und populärsten Formen der deutschen Lyrik, zumal auf die vierzeilige und sechszeilige Strophe mit Reim und regelmäßigem Rhythmus.

Doch die alten Schläuche füllte er mit neuem Wein. In der traditionellen, oft volksliedhaften Strophe tauchte die saloppe Umgangssprache der späten zwanziger Jahre auf: idiomatische Ausdrücke und Alltagsphrasen, Zeitungswendungen und Reklameslogans, auch der Behördenjargon, auch der Slang der Militärs. In dieser Poesie ist die Rede von Schreibmaschinen und Schinkenbroten, von Krediten und Bilanzen, von Bardamen und Klosetts, von Gonokokken und Abtreibungen.

Die stärksten Effekte erzielte Kästner mit persiflierten Zitaten aus den Klassikern und gelegentlich aus Opernlibrettos. „Wir winden keine Jungfernkränze mehr. / Wir überwanden sie mit viel Vergnügen“ – heißt es im „Chor der Fräuleins“. Und das berühmteste Beispiel: „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?“ Die Zitatparaphrasen sind exemplarisch für Kästners am häufigsten angewandtes Prinzip: die Übernahme des Konventionellen für die (möglichst überraschende) Mitteilung des Aktuellen.

Und das Aktuelle – das ist die Krise. „Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende“ – klagt der Germanist Doktor Fabian. Dieses Lebensgefühl artikulieren die Gedichte Kästners aus den Weimarer Jahren: Sie lassen die allgemeine Unsicherheit spürbar werden, sie registrieren die Symptome sowohl der politischen als auch der persönlichen, sowohl der wirtschaftlichen als auch der sexuellen Krise. Daraus ergeben sich die wichtigsten Motive seiner Lyrik: die Hilflosigkeit des Individuums und die Enttäuschung der missbrauchten Generation, Arbeitslosigkeit und Kulturmüdigkeit, Resignation und Abschiedsstimmung.

Kästner hat die „möblierte Melancholie“ besungen („Dreimal husten kostet eine Mark“) und die Langeweile der Ehe („Man sprach sich aus. Man hat sich ausgeschwiegen“). Er hat die deutschen Nationalisten mit dem Gedicht „Die andre Möglichkeit“ herausgefordert; es beginnt mit der Zeile: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten“ und schließt mit den Worten: „Zum Glück gewannen wir ihn nicht!“ Ihm gelang es, das alte deutsche Sinngedicht wiederzubeleben und zumindest einige vollendete Epigramme zu schaffen, wie etwa dieses mit dem Titel „Moral“:

Es gibt nichts Gutes
außer: Man tut es.

Der Titel Falladas „Kleiner Mann, was nun?“ ist zugleich das Motto der Lyrik Kästners. Ihr Personal – das sind die kleinen Leute, die verlassenen Mädchen und die einsamen Männer, die braven Muttchen und dummen Nuttchen, die armen Kellner und die müden Stehgeiger, die Zukurzgekommenen und die Benachteiligten, die Verstoßenen und die Enttäuschten, die Erniedrigten und die Beleidigten. Sie erkannten sich in seinen Versen wieder.

Freilich hat ihr außergewöhnlicher Publikumserfolg noch ganz andere Gründe. Kästner wollte die deutsche Innerlichkeit mitten ins Herz treffen. Doch auch viele seiner eigenen Strophen tendieren zu diskreter Innerlichkeit. Er fürchtete das Pathos mehr als die Banalität und die großen Worte mehr als die sanften Töne. In manchen dieser Gedichte näherte er sich der authentischen Larmoyanz und der baren Sentimentalität, die er mit witzigen Pseudozynismen tarnen wollte. Und auch auf Kalauer wollte er bisweilen nicht verzichten: „Nun senkst du deine Lider ohne Worte …“

Daher mag die sich bisweilen aufdrängende Frage, ob man es denn bei vielen dieser Songs und Chansons, Balladen und Bänkellieder, Pamphlete und Zeitgedichte eher mit Kunstgewerbe als mit Kunst zu tun habe, verständlich sein. Aber die Frage ist, scheint mir, falsch gestellt. Denn eine Kunst, die programmatisch auf praktische Anwendbarkeit aus ist, hat immer auch etwas Kunstgewerbliches; und ein Kunstgewerbe von so hoher Meisterschaft ist zugleich immer auch Kunst.

„Dieser linke Radikalismus ist genau diejenige Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht“ – schrieb Walter Benjamin 1931 aus Anlass des Bandes „Ein Mann gibt Auskunft“. Es ist der treffendste Satz in einer sonst von ideologischer Verblendung zeugenden Kritik. Aber was Benjamin für einen unverzeihlichen Makel hielt, scheint heute eher ein Vorzug der Lyrik Erich Kästners.

IV.

Den Roman „Fabian“ hat man auf der Bauchbinde der ersten Auflage mit dem Segen Hermann Hesses versehen: „Das Zeitgemäße konnte nicht zeitloser gesagt werden.“ Gerade dies erwies sich mittlerweile als ein Irrtum. Das satirische Bild der verruchten Stadt Berlin um 1930 („Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Westen die Unzucht und in allen Himmelsrichtungen der Untergang“) war damals eine große literarische Tat und liest sich heute, jedenfalls zum großen Teil, nur noch historisch. Was einst kühn und aggressiv war, wirkt jetzt fast betulich, das Obszöne ist harmlos, die Provokation verpufft. „Dreigroschenoper“ etwa? Ja, aber ohne Weills Musik.

Geblieben ist der große Bogen der Parabel: Die Geschichte eines deutschen Intellektuellen, dem auf der Suche nach dem Glück kein Mephisto hilft und der sich ganz allein eine Walpurgisnacht inmitten der Großstadt bereiten will: in Kneipen und Bordellen, auf den Straßen und Rummelplätzen. So museal die satirische Zeitkritik in diesem Roman, so lebendig und sogar ergreifend, was ebenfalls zeitkritisch, doch mitnichten satirisch ist: Fabians Liebeserlebnis mit der jungen Juristin Cornelia Battenberg, eine der schönsten erotischen Geschichten, die sich in der deutschen Literatur jener Jahre finden lässt. Der ursprüngliche Titel des Buches – „Der Gang vor die Hunde“ – bezieht sich übrigens nicht nur auf Fabian, sondern auch auf seine Cornelia.

Der Roman endet mit einer, wie es heute scheint, allzu aufdringlichen parabolischen Pointe: Fabian springt ins Wasser, um einen Ertrinkenden zu retten. Doch kann er nicht schwimmen und geht unter – in einem realen Fluss, der offensichtlich den Strom der Zeit symbolisieren soll. Dieser Schluss kann indes noch anders verstanden werden. Denn jener, der gerettet werden sollte, ist ein kleiner Junge, ein Kind. Schon vorher ließ Kästner eine andere Figur des Romans sagen: „Lehrer hätte ich werden müssen, nur die Kinder sind für unsere Ideale reif.“

Die Sehnsucht nach der Kindheit gehört zu den Leitmotiven auch seiner Lyrik. Es ist die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Es ist nichts anderes als eine rückwärts gewandte Utopie. Auf diesem Hintergrund sind die Bücher zu sehen, denen er Weltruhm verdankt – seine Romane für Kinder.

V.

Kästner liebt das Spiel mit vertauschten Rollen. Er hielt es oft für richtig, die Leser seiner Essays und Artikel so zu behandeln, als wären sie noch Kinder. Und er nahm die Leser seiner Kinderbücher immer so ernst, wie Erwachsene behandelt werden wollen. Auch die Romane für Kinder sind zunächst und vor allem poetische Plädoyers für die Vernunft in den Zeiten der Unvernunft.

Doch diejenigen, die in diesen Büchern die Welt vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands beurteilen, die sich als zielstrebige Sachwalter der Vernunft und der Ordnung erweisen, das sind eben nicht die Erwachsenen, sondern die Kinder und die Halbwüchsigen. Sie verfolgen und fassen den Dieb und stellen so die Ordnung wieder her („Emil und die Detektive“, 1928). Und nicht die Eltern erziehen ihre Kinder, sondern die Kinder ihre Eltern, die sie schließlich zur Räson bringen („Das doppelte Lottchen“, 1949).

Dieses Prinzip der umgekehrten Perspektive und der vertauschten Rollen hat Kästner einer ganzen Reihe von Kinderbüchern zugrunde gelegt, er hat es mit mehr oder weniger Glück und Geschick paraphrasiert, ohne freilich noch ein so vollkommenes Werk wie „Emil und die Detektive“ schaffen zu können.

„Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genauso, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können“ – erklärte Kästner in der Einleitung zu „Pünktchen und Anton“ (1929). Wenn die Kinder zumindest die besten seiner Bücher als „wahr“ empfanden, so unter anderem deshalb, weil sie meist Milieus zeigten, die sie selber kannten, die ihnen längst vertraut waren. Statt der in der Kinderliteratur bevorzugten Exotik zeichnete er die unmittelbare Umwelt seiner Leser. Er ließ seine Geschichten nicht in der Antike oder im Mittelalter spielen, sondern in der Gegenwart. Und ihre Helden waren nicht Winnetou oder Lederstrumpf, Ben Hur oder Sigismund Rüstig, sondern gewitzte Kinder und Halbwüchsige der modernen Großstadt. Was sich in „Emil und die Detektive“ ereignet, passiert vor allem auf den Straßen und in den Höfen Berlins.

Neben der außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und dem verschmitzten und ironischen und gleichwohl für Kinder immer verständlichen Humor hat zur Glaubwürdigkeit und damit zum Erfolg des „Emil“ die Reizbarkeit Kästners für die Sprache viel beigetragen. Ähnlich wie Döblin in „Berlin Alexanderplatz“, wie Horváth in seinen frühen Stücken, wie Fallada in seinen besten Romanen und Tucholsky in seinen treffendsten Feuilletons hat auch Kästner das alte und immer wieder bewährte Rezept befolgt: Er hat dem Volk aufs Maul geschaut. Er hat, wie keiner vor ihm, die Alltagssprache der Großstadtkinder belauscht und fixiert. So gesehen, war dies Buch nichts anderes als die längst fällige Hinwendung der Literatur für Kinder ebenso zu realistischen Ausdrucksmitteln wie zur überprüfbaren Realität. Es entsprach jener damals dominierenden Richtung, für die es nur eine verschwommene und fragwürdige und dennoch nicht überflüssige Bezeichnung gibt: „Emil und die Detektive“ – das ist der Kinderroman der „Neuen Sachlichkeit“.

VI.

Erich Kästner hat keine gewaltigen Werke geschrieben. Er hat niemanden mit seiner Dichtung zu erlösen versucht. Niemals war es sein Ehrgeiz, die Welt zu verändern. Er hatte nicht mehr und nicht weniger zu bieten als Grazie und Esprit, Humor und Vernunft.

In der Zeit von 1933 bis 1945 hatte er, der Mann zwischen den Stühlen, sich klar entschieden. Wenn er in verschiedenen Nachschlagbüchern der deutschen Exilliteratur angeführt wird, so hat das schon seine Ordnung. Zwar war nicht er emigriert, wohl aber waren es seine Bücher, die damals in der Schweiz erschienen. Kästner ist Deutschlands Exilschriftsteller honoris causa. Er hat in jenen Jahren nichts geschrieben, dessen er sich hätte später zu schämen brauchen. Auch dies gilt es heute, da er fünfundsiebzig Jahre alt wird, dankbar und respektvoll anzuerkennen.

Er, der Sänger der kleinen Leute und der Dichter der kleinen Freiheit, gehört mittlerweile zu den Klassikern der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts. Die Leser wissen es längst. Und die Kritiker, die Germanisten, die Literarhistoriker? Die Kästner-Bibliographie verzeichnet in der Tat neben Äußerungen von Freunden und Zeitgenossen auch einige größere Arbeiten. Sie stammen von Ausländern.

Hinweise der Redaktion:

Der Essay ist unter dem Titel „Erich Kästner. Der Dichter der kleinen Freiheit“ zuerst am 23. Februar 1974, fünf Monate vor Erich Kästners Tod, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bilder und Zeiten, S. 1 f.) erschienen. In einer etwas überarbeiterten Fassung erschien er später unter anderem in Marcel Reich-Ranicki: Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern. Erweiterte Neuausgabe. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1980, S. 284–293 (Erweiterte Taschenbuch-Ausgabe München: dtv 1990). Die in dieser Ausgabe von literaturkritik.de veröffentlichte Fassung basiert auf der Bearbeitung in Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Anz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014 (erscheint im September). Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Nachpublikation.

Veröffentlichungen von Teofila und Marcel Reich-Ranicki zu Erich Kästner:

Erich Kästner: Seelisch verwendbar. 66 Gedichte, 16 Epigramme und 1 prosaische Zwischenbemerkung. Ausgewählt von Teofila Reich-Ranicki. Mit einem Nachwort von Marcel Reich-Ranicki. Hanser Verlag, München und Wien 1998.

Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. 56 Gedichte im Warschauer Getto aufgeschrieben und illustriert von Teofila Reich-Ranicki. Mit einem Auszug aus „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki und einem Nachwort von Salomon Korn. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und München 2000 (5. Auflage 2010).

Erich Kästner – Ein Dichter gibt Auskunft. 150 Gedichte. Ausgewählt und mit einem Essay von Marcel Reich-Ranicki. Atrium Verlag, Zürich 2003.