Verwehte Spuren

Das jüdische Wien in der literarischen Darstellung von Ilse Aichinger und Veza Canetti – und heute

Von Marijke BoxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marijke Box

Geht man durch die für Ilse Aichingers Nachkriegslyrik so wichtige Judengasse in Wien, wundert man sich zunächst, wie unbelebt die Straße wirkt. Der „Ostwind“, den Aichinger in ihrem Prosagedicht „Judengasse“ beschreibt, ist zu spüren. Bewegt betrachtet man die „Katzenköpfe“, das Kopfsteinpflaster der unmittelbar abzweigenden Seitenstettengasse, in der sich – von außen nicht erkennbar – die Synagoge befindet, die seit dem islamistischen Anschlag von 1981 permanent unter polizeilichem Schutz steht. Die Lage ist also auch Jahrzehnte nach der Shoah noch immer beängstigend und bedrohlich. Der Prosatext „Judengasse“ beschreibt lebendig alltägliche Erinnerungen an eine Zeit, bevor „Gras zwischen den Steinen“ zu wachsen begann, bevor die Tempelvorhänge, wie in „Philippshof“ beschrieben, „sorgfältig gegen das Zerreißen geschützt“ werden mussten und als es noch eine große jüdische Gemeinde in Wien mit etwa 200.000 Mitgliedern gab.

Vom geschäftigen Treiben einer Großstadt kann hier nicht die Rede sein, obwohl wir uns im 1. Bezirk, also in der Inneren Stadt, befinden. An einigen Geschäften sieht man das Schild „zu vermieten“. Eine Wienerin erzählt, dass sich die Lokale in der Judengasse kaum länger als ein Jahr halten. Heute befindet sich hier noch ein koscheres Restaurant, am Ende der Straße aber auch die älteste erhaltene Kirche Wiens, die Ruprechtskirche. Diese so unterschiedlichen Spuren religiöser Traditionen wirken entscheidend für die Wahrnehmung der Gasse als Ort des alltäglichen Lebens in einer Täter- und Opferstadt, die durch Denk- und Mahnmale allerorts von der ungeheuerlichen Vergangenheit gekennzeichnet ist.

Auf dem Weg von der Judengasse zur ehemals vorwiegend jüdischen Leopoldstadt geht man an einer Gedenktafel vorbei, die an den dortigen Sitz des Gestapo-Hauptquartiers als „Vorhof des Todes“ erinnert: ein Ort der Täterschaft, der in unmittelbarer Nähe das Leid und Grauen Tausender verursachte. Die Erinnerung an den Holocaust ist allgegenwärtig in diesem Bereich Wiens. Besonders dann, wenn man weiß, dass Aichinger direkt gegenüber vom Hauptquartier ihre Mutter in der Marc-Aurel-Straße versteckte.

Nach dem Überqueren des Donaukanals erreicht man innerhalb kurzer Zeit die Ferdinandstraße im 2. Bezirk, der Leopoldstadt, die Veza Canetti wohl als Vorbild für ihre Erzählsammlung „Die gelbe Straße“ diente. „Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte“, schreibt Canetti, die dort vor ihrer Emigration selbst wohnte und den Titel wohl aufgrund der die Straße prägenden Arbeiten der Lederer wählte. An die Schriftstellerin erinnert der anliegende Veza-Canetti-Park, der wiederum an eine wichtige Frauenfigur in ihrem Text denken lässt: Maja, die gewaltsam unterdrückte Frau des sadistischen Herrn Iger, die ihrem Mann erklärt: „Ich will in die Nähe eines Parks, wegen der Kinder. Und ich will nicht in der Gelben Straße wohnen.“

Tatsächlich ist hier Raum für Kinder geschaffen worden. Ein Spielplatz ermöglicht ihnen heute das, was Maja sich in „Der Oger“ für ihre eigenen wünscht. Einige Kinder buddeln und spielen im Sand, Eltern sitzen auf Bänken und unterhalten sich. Assoziationen zur Darstellung der beinahe bestialischen Nachbarschaft in Canettis Erzählungen liegen fern, „die große, fremde Stadt“ Majas erscheint auf einmal ganz klein und idyllisch.

Das Bild, das „Die gelbe Straße“ vom Leben der Leopoldstädter Jüdinnen und Juden entwirft, ist geprägt durch nachbarschaftliche Ränke und soziale Nöte, die für gesellschaftlichen Konfliktstoff sorgen und ein gemeinschaftlich-solidarisches Leben beinahe unmöglich machen. „Die schon vor zehn Jahren hierhergekommen sind, lieben die Nachkommenden gar nicht. Noch einer ist angekommen. Noch einer will verdienen. Noch einer will leben. Das Schlimmste: daß man ihn nicht umkommen lassen kann. Er ist kein Fremder. Er ist ein Jude und ein Landsmann.“ Ähnlich wie Veza Canetti beschreibt auch Joseph Roth 1927 seine Wahrnehmung des 2. Bezirks: So erzählt er in „Juden auf Wanderschaft“ von der schwierigen sozialen Situation der zumeist eingewanderten Jüdinnen und Juden aus Galizien, Litauen und der Ukraine in der Leopoldstadt, die er „ein freiwilliges Getto“ nennt.

Heute noch ist die Leopoldstadt geprägt von Spuren ehemaligen jüdischen Leben. Vielerorts fällt der Blick auf Gedenktafeln, die an im Nationalsozialismus vertriebene, verschleppte und ermordete Jüdinnen und Juden oder zerstörte Bethäuser erinnern. Zugleich gibt es hier aber noch einige Synagogen, koschere Restaurants und Lebensmittelgeschäfte, die von den heute etwa 7.000 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern Wiens genutzt werden. Eine Kindergartengruppe überquert die Straße, einige Jungen tragen Kippa und halten die Mädchen an den Händen.

In der Mitte des Judenplatzes, wie die Judengasse im 1. Bezirk gelegen, erinnert das „Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah“ an die 65.000 ermordeten Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Der Stahlbetonkubus, dessen Außenmauern nach außen gewendete Bibliothekswände darstellen, symbolisiert laut Gedenktafel die „Buchkultur des Judentums – Zufluchtsort und lebendiges Zeichen des Weiterlebens jüdischen Geistes“. Gegenüber dem Mahnmal steht das Lessing-Denkmal, das Gedanken an Toleranz und Aufklärung aufkommen lässt. Ein hier lebender Wiener Junge erzählt von jüdischen Festen, jüdischer Kleidung und jüdischem Gesang. Es wird deutlich, dass es in dieser kulturell und literarisch geprägten Stadt weiterhin einen lebendigen jüdischen Alltag gibt, der sich an realen und literarischen Orten zeigt, wie in der von Aichinger in „Stadtmitte“ beschriebenen „Judengasse, in die der Wind weht“.

Es entstehen mit der Literatur Möglichkeiten des Erinnerns und Gedenkens und des Bewusstseins für die noch immer nicht errungene Gleichheit von Menschen, einerlei welcher Religion. Autorinnen und Autoren nehmen die historisch bedeutenden Orte wie den Judenplatz, die Judengasse und die Seitenstettengasse in ihre Texte auf und bewahren somit das Andenken an die im Nationalsozialismus zerstörte Kultur. Veza Canetti ging nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland ins Exil und starb 1963 in London. Ilse Aichinger verließ Wien nach dem Krieg und kehrte erst Ende der 1980er-Jahre zurück.