Wiener Kaffeehäuser

Zwischen touristischer Inszenierung und intellektueller Diskussionskultur

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Wien ist eine Stadt, in der man an vielen Orten das Gefühl hat, in die Vergangenheit gereist zu sein. Betritt man beispielsweise das Café Central, trifft man dort auf Peter Altenberg, der sich hier schon im Fin de Siècle des vorletzten Jahrhunderts mit anderen Jung-Wien-Literaten die Zeit mit Diskutieren, Zeitunglesen, Kaffee trinken, Schreiben und der Beobachtung von Leuten vertrieb. Heute sitzt er allein im Eingangsbereich, und geschrieben hat er wohl auch schon lange nichts mehr. Er sitzt reglos da, den Pappmachéarm besitzergreifend auf zwei roten Notizbüchern abgelegt. Sein Blick ist abgewandt, durch die hohen, oben abgerundeten Fenster nach draußen. Dort fährt gerade ein zweispänniger Fiaker vorbei, dessen Kutscher im traditionellen dunklen Regenmantel und mit Melone auf dem Kopf, mit prüfendem Blick auf sein Smartphone schaut. Er ist nur einer der vielen Anachronismen in dieser Stadt, in der wie an kaum einem anderen Ort Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallen.

Der Kutscher fährt an einem taiwanischen Touristen vorbei, der minutenlang Fotos von seiner Frau schießt, die vor den Türen des Kaffeehauses posiert. Vorgestern waren sie noch in Deutschland, heute Nachmittag geht es weiter nach Ungarn. Ein Besuch im Kaffeehaus ist Pflichtprogramm in Wien. Weil der Kaffee besonders gut ist, findet die Frau. Und wegen der besonderen Architektur des Gebäudes und nicht zuletzt wegen der Tradition.

Im Kaffeehaus, in dem Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth aus über zwei Meter hohen und golden gerahmten Gemälden über die Köpfe der Gäste hinwegschauen, bewirbt die Speisekarte „Schöne Geschenkideen, gleich zum Mitnehmen“: unter anderem das „Café Central Buch. Wiener Genusskultur einst und jetzt“ für 18,90 Euro und die „Original Café Central-Torte in der Holzkiste“ für 29,90 Euro. Nicht wenige Gäste im Central haben Kameras um den Hals hängen und fangen damit nach einem Schluck Kaffee mit Schlagobers oder einem Bissen Apfelstrudel Marmorsäulen, Kronleuchter, rotgoldene Polster, die Kuchenvitrine, goldene Zeitungsständer oder die kunstvolle Deckenbemalung ein.

Unterdessen trinken im berühmten Café Griensteidl schicke Touristinnen in den Vierzigern mit in die Haare geschobenen Sonnenbrillen überteuerte Wiener Melange und suchen im Reiseführer die nächstgelegene Sehenswürdigkeit. Neben ihnen stehen auf dem glänzenden Parkettboden Papiertüten, die mit Aufnahmen von Schloss Schönbrunn oder dem Jugendstilgemälde „Der Kuss“ von Gustav Klimt bedruckt sind. Der Ober bemüht sich währenddessen, mit niemandem aus der Gruppe Augenkontakt zu bekommen.

Zurück im Café Central. An einem Tisch frühstücken zwei Wienerinnen Anfang vierzig. Das Central ist ihr Stammcafé, neben dem Landmann, dem Prückl und dem Engländer. Sie kennen sich aus in der Welt der Kaffeehäuser, wissen, wer wo bevorzugt seinen Kaffee trinkt. Und sie haben den Wandel des Central seit Jahren beobachtet. Ein wenig Bedauern schwingt in ihren Stimmen mit, als sie davon berichten, dass das traditionelle Zeitunglesen hier untypisch geworden ist. Und so viele Touristen mit Fotoapparaten wie heute haben sie hier noch nie gesehen.

Das ist anders in den Kaffeehäusern, die heute noch Künstlercafés geblieben sind und sich nicht mit allen Mitteln für Touristen inszenieren. Im Engländer beispielsweise sehen sie häufig Michael Niavarani, den Chef des berühmten Kabarett Simpl, in lebhaften Diskussionen mit seinen Leuten. Und im Landmann kann man sowohl auf lokale Politiker als auch auf die Sängerin Christina Stürmer treffen.

Auch das Café Korb gehört noch zu diesen Kaffeehäusern, in denen der Preis für eine Wiener Melange die vier Euro noch nicht überschritten hat. Verglichen mit dem Central oder dem Griensteidl glänzt die Einrichtung nahezu durch Understatement. Die Tischplatten sind nicht aus Marmor, dafür gibt es eine Leseecke, in der neben der plüschigen roten Sitzbank Bücher und Zeitschriften übereinandergestapelt sind. An den Wänden hängen Schwarzweißfotos der Autorinnen Elfriede Jelinek und Elfriede Gerstl. Neben dem Poster eines Siebzigerjahre-Films wird „All’ dies im Namen der Liebe. Ein Programm voll musikalisch-literarischer Poesie“der Roth-Zwillinge Christina und Linda beworben. Die Luft ist verqualmt, die Gäste rauchen, frühstücken, diskutieren oder lesen Zeitung. Hier gibt es sie noch, die hölzernen Zeitungshalter, die man praktischerweise in einer Hand halten kann, während man die andere für die Kaffeetasse freihat. Auf den freien Stühlen stapeln sich weitere Blätter, die darauf warten, gelesen zu werden. Englische und Wienerische Gesprächsfetzen mischen sich untereinander. Irgendjemand sagt: „I like this café.“

Es ist das letzte Wochenende im Mai. Zum alljährlichen Life Ball werden unter anderem Bill Clinton und Anna Netrebko erwartet. In der Leseecke des Korb interviewt eine Studentin Jackie Branfield, die Gründerin der Hilfsorganisation Bobbie Bear, die sich für die Rechte sexuell missbrauchter Kinder einsetzt. Nach dem Interview sitzen sie noch lange in einer Gruppe zusammen, diskutieren und trinken Kaffee.

Es scheint logisch, sich für das Interview in einem Kaffeehaus zu treffen, in dem die Wienerische Diskussionskultur noch aufrechterhalten wird. Doch nicht zuletzt ist es auch eine gezielte Inszenierung, Branfield in gerade dieser Umgebung zu filmen. Auch Kulturvereine nutzen das Image dieser Räume und platzieren hier kulturelle Veranstaltungen. Anfang Juni findet beispielsweise wieder „Die Nacht der Philosophie“ der Gesellschaft für angewandte Philosophie statt. In zwölf verschiedenen Kaffeehäusern treffen Philosophen auf interessierte Gäste und diskutieren über Themen wie Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben.

Natürlich gehören auch Lesungen zu den Events, die regelmäßig große Besucherzahlen in die Cafés locken, und unterstreichen damit die besondere Beziehung zwischen Wiener Autor_innen und ihren Kaffeehäusern. „Wien ist eine Stadt, die um Kaffeehäuser herumgebaut ist“, zitiert Robert Schindel Bertolt Brecht bei einer Lesung seines neuen Romans „Der Kalte“, ausnahmsweise mal nicht im Kaffeehaus. Aber er schreibt dort häufig, besonders gern im Café Prückl, in dem auch der Kulturverein Wien Innere Stadt seinen Sitz hat. Schindel schreibt auch über Kaffeehäuser. In seinen Wien-Romanen inszeniert er echte und erfundene, je nachdem, wie es in den Plot passt. Damit fügt er sich in die lange Reihe von AutorInnen ein, für die Kaffeehäuser nicht nur Orte der Inspiration darstellen, sondern die sie auch in ihren literarischen Werken verewigen.

So wird beispielsweise Arthur Schnitzlers „Lieutenant Gustl“ um die Jahrhundertwende nur durch die zuvorkommende Informationsbereitschaft des Kaffeehausobers vor dem Selbstmord gerettet, und Heimito von Doderer lässt in den 1950er-Jahren Dr. Negria in „Die Strudlhofstiege“ den regen Zeitungsaustausch zwischen den Tischen nutzen, einer Kaffeehausbesucherin unauffällig eine Einladung zum spätsommerlichen Spaziergang zwischen die Seiten zu schieben.

Man merkt den Wienern an, dass sie stolz sind auf ihre Stadt und ihre Kaffeehäuser. Im Korb hängt eingerahmt ein Zeitungsartikel mit der Überschrift: „Wer Wien nicht kennt, kennt die Welt nicht, wer das Korb nicht kennt, kennt Wien nicht.“ Nimmt man das Korb als Synonym für Kaffeehaus, dann trifft man damit dieses Verhältnis ganz gut.

Wien ist eine Stadt, die sich ausgiebig im Glanz vergangener Tage sonnt, aber kaum noch verbergen kann, dass die Zeiten sich geändert haben. Manchmal wirkt diese Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart schon ein bisschen skurril. Zum Beispiel im Café Sperl, in dem sich Staubfäden an den Lampen passend zu Stühlen mit abgewetzten Holzbeinen und Polstern mit verblichenem Blumenornament arrangieren. Neben der so oft gerühmten Atmosphäre des Kaffeehauses schätzt der Philosophiestudent, der sich mit seinem Laptop in eine Fensternische zurückgezogen hat und an seiner Magisterarbeit schreibt, hier vor allem das freie WLAN.