Schöne leere Welt

Nick Büscher spürt in seiner Dissertation der Sehnsucht nach dem völligen Verschwinden der menschlichen Gattung nach – und findet dabei eine neue literarische

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anthropofugalität lautet der so sperrige wie unheilvoll anmutende Begriff, um den sich Büschers Veröffentlichung „Apokalypse als Utopie. Anthropofugalität in der österreichischen Nachkriegsliteratur“ dreht. Es wird darunter ein philosophischer Ansatz verstanden, der nicht nur die erhabene Stellung des Menschen innerhalb der Gattungen in Frage stellt, sondern auch die Sinnhaftigkeit menschlicher Errungenschaften bezweifelt, ja in ihrer Konsequenz für unseren Planeten gar als desaströs anerkennt. Die logische Schlussfolgerung besteht für die anthropofugale Philosophie in einer Auslöschung des Menschengeschlechts, in einer Welt, die den Tieren, Pflanzen und Mineralien überantwortet ist. Die Lektüre bietet also beileibe wenig Erbauliches, der Pessimismus und Zynismus der untersuchten Theorien und Gedanken lassen selbst den abgebrühten Leser bisweilen zusammenzucken, wenn nicht sogar regelrecht verstört zurück. Denn Büscher unternimmt hier nichts weniger als eine Zusammenschau des Menschenhasses und des Zivilisationsüberdrusses im 20. und 21. Jahrhundert. Ausgehend von der Kulturkritik Georg Simmels in „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ und Sigmund Freuds Darlegungen über „Das Unbehagen in der Kultur“ zeichnet er die Entwicklungslinie eines misanthropischen Diskurses, für die unter anderem Helmuth Plessners Studie „Über Menschenverachtung“ und Günther Anders‘ „Antiquiertheit des Menschen“ wichtige Wegmarken darstellen und deren vorläufiger Höhepunkt mit den Werken Emil Ciorans und Ulrich Horstmanns als Gallionsfiguren einer bis zur Sehnsucht nach dem Idealbild der völlig menschenverlassenen Welt gesteigerten Misanthropie erreicht ist.

Büscher argumentiert, dass dieser anthropofugale Spezialdiskurs zusammen mit dem besonderen gesellschaftlichen Klima der Nachkriegszeit in Österreich, das durch das Trauma des Holocausts und die permanente Bedrohung eines atomaren Overkills geprägt ist, der Entstehung einer speziellen literarischen Gattung Vorschub geleistet hat. Er sieht diese sogenannte anthropofugale Literatur in enger Verwandtschaft und in Überlappung mit Texten der utopischen und dystopischen Literatur, der Apokalypse und der Science Fiction. Auch hier wird einer Entwicklungslinie nachgespürt, deren Anfang und zugleich Hochzeit Büscher in den 60er Jahren sieht, in denen gleich drei zentrale anthropofugale Texte erschienen sind, die hier analysiert werden: Hans Leberts Wolfshaut (1960), Thomas Bernhards Frost (1960) und Maren Haushofers Die Wand (1963). An zwei weitere Texte – Christoph Ramsmayers Die letzte Welt (1988) und Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht (2006) – werden die Weiterentwicklungen der anthropofugalen Gattung aufgezeigt und ihre Bedeutung bis in die Gegenwart hinein exemplifiziert.

Büscher legt seiner Arbeit eine überaus systematische Herangehensweise zu Grunde und gibt ihr einen breiten theoretischen Rahmen. So ist er bemüht die Entwicklung des anthropofugalen Diskurses oder Gedankengebäudes in Gänze abzubilden, so dass er von frühen Misanthropen wie Jonathan Swift und Mark Twain über die „Dialektik der Aufklärung“ bis zur modernen Technik, die den Menschen zum „Prothesengott“ macht und in Form der Atombombe droht, sein eigener Untergang zu werden, sämtliche Geburtshelfer der anthropofugalen Literatur in ihrer Bedeutung für die Anthropofugalität beleuchtet. Zwar macht Büscher dabei durchaus deutlich, dass er in der Zivilisations- und Kulturkritik sowie dem Misanthropiediskurs und dem kulturellen Klima des 20. Jahrhunderts Wegbereiter bzw. den Nährboden der Anthropofugalität sieht. Allzu oft entsteht aber der Eindruck einer Zwangsläufigkeit innerhalb dieser Entwicklung. Bisweilen suggeriert er geradezu eine innere Verbindung zwischen Kritik am Menschen und an der Kultur und der Überzeugung, die Erde sei ein besserer Ort ohne die Menschheit. Gerade für die utopische Tradition, die Büscher auch in diesen Zusammenhang stellt, muss diese Behauptung aber mit Sicherheit als verfehlt gelten, zeichnet sie sich doch durch einen Glauben an die Reformfähigkeit der Gesellschaft aus. Auch eine Verbindung zwischen Dystopie und Anthropofugalität wird zu stark gemacht. Büscher behauptet, der Übergang vom Utopischen zum Dystopischen in der Literatur entspreche einer anthropofugalen Wende. Dies führt zu weit, bringt die Anti-Utopie doch zunächst vor allem Ernüchterung im Bezug auf die großen Ideologien und eine starke Warnfunktion vor totalitären Tendenzen zum Ausdruck. Dies kann, muss aber nicht in dem Glauben an die grundsätzliche Verfehlung der Schöpfung gipfeln.

Ende und Kulminationspunkt der von Büscher nachgezeichneten Linie stellt Emil Cioran dar, der rumänisch-französische Dichterphilosoph, der besonders für seine Essays und Aphorismen bekannt ist und als einer der radikalsten Kulturkritiker des 20. Jahrhunderts gilt. Die Titel seiner bekanntesten Werke Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Vom Nachteil, geboren zu sein, und Lehre vom Zerfall lassen bereits vermuten, inwiefern Cioran als Begründer einer den Menschen und die Zivilisation verwerfenden Philosophie fungieren konnte. Die Untersuchung des rumänischen Menschenhassers stellt einen verdienstvollen Aspekt von Büschers Arbeit dar, muss die kritische Auseinandersetzung mit dessen Werk doch als bislang eher vernachlässigt angesehen werden. Eine Aufarbeitung von Ciorans Einfluss auf die zeitgenössische Literatur ist auch deshalb wünschenswert, weil sich sein Schreiben an den Grenzen von Literatur und Philosophie bewegt und ständig zwischen diesen changiert.

Auch wenn Büscher dies leistet und in seinen Analysen der literarischen Texte dadurch wichtige, bislang unbeachtete Aspekte zutage fördert, krankt sein Vorhaben doch an einer zentralen Stelle. Denn das übergeordnete Anliegen und zugleich die größte Schwäche der Arbeit besteht darin, eine systematische Gattungsbeschreibung der anthropofugalen Literatur vornehmen zu wollen. Büscher geht dabei hauptsächlich deduktiv vor, indem er gemeinsame Merkmale einer neben anderen Kriterien den Aspekt der menschenflüchtigen Bewegung teilenden Textgruppe zum übergeordneten Merkmalskatalog der Gattung macht, die diese Texte konstituieren bzw. der sie angehören. Büschers Gattungsbegriff geht von einer zentralen Rolle der Intertextualität bei der Genese neuer Gattungen aus, wobei auch nichtliterarische Texte sowie außertextlichte Diskurse darin einbegriffen sind, so dass vielmehr von Interdiskursivität zu sprechen ist. Er stellt dabei Genettes Konzept der Architextualität als Form der Intertextualität, die die Bezugnahme eines Textes auf eine Gattung oder eine andere übergreifende Kategorie meint, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Dabei konstituiert sich die spezifische Gattungsgrammatik selber intertextuell, nämlich als gemeinsame Charakteristika einer Gruppe von Texten. Eben darin liegt die Problematik des Gattungsbegriffs: Wenn die Gattungszugehörigkeit sich durch architextuelle Bezüge auf die Gattungsgrammatik konstituiert, die Gattung wiederum sich aber erst durch die intertextuelle Bezüge einander ähnlicher Texte zueinander konfiguriert, beißt sich dann hier nicht die sprichwörtliche Katze in den Schwanz? Nach diesem Muster läge das zentrale Charakteristikum eines anthropofugalen Textes in seiner Kongruenz mit den Gattungsregeln der anthropofugalen Literatur und die Essenz der menschenflüchtigen Gattung in den gemeinsamen Merkmalen aller sie konstituierenden Texte. Büscher geht zwar auf diese Problematik des Gattungsbegriffes ein, die besonders im notorisch nachträglichen und provisorischen Charakter der Gattungsbeschreibung liegt. Er hält aber an ihm fest und verbindet Intertextualitäts- und Diskurstheorie, um damit zu einer Gattungsbeschreibung der anthropofugalen Literatur zu gelangen. Dies ist problematisch, weil eben jene eigentlich ursprünglich das als zu starr und normativ empfundene Konzept der Gattung auf- und abzulösen gedachten.

Dieser unkritische Umgang mit dem Konzept Gattung generell zieht sich bis in die Rede von und den Umgang mit spezifischen Gattungen oder Textgruppen, die von Büscher als solche angesehen werden. Besonders die Begriffe Utopie, Dystopie und vor allem Apokalypse werden teilweise sehr undifferenziert gebraucht. In die beiden ersteren wird zumindest eine kurze theoretische Einführung gegeben. Die Apokalypse kommt fast ohne eine solche aus. Auch drängt sich immer wieder der Verdacht auf, Büschers Verständnis des Begriffs beziehe sich nicht auf die Vision einer Zerstörung der sündigen Welt durch das Eingreifen Gottes mit der Heilsvision einer anschließenden Errichtung der Neuen Welt. Stattdessen erschöpft sich Büschers Apokalypse-Verständnis in ihrer katastrophalen Komponente, ihrer Weltuntergangsdimension. Auch wird sie immer wieder fälschlicherweise als das Gegenstück der Utopie präsentiert und gerät so in die Nähe der Dystopie, was zu einer großen begrifflichen Unschärfe führt. Die Apokalypse ist aber nicht eine Umkehrung der Utopie, sie benutzt lediglich andere Mittel, um dasselbe Ziel zu erreichen. Denn während die utopische Sichtweise von der Reformfähigkeit der Zustände überzeugt ist, verneint die Apokalypse diese und schafft einen radikalen, revolutionären Neuanfang. Allein deswegen ist bereits der Titel „Apokalypse als Utopie“ irreführend und streng genommen sogar tautologisch. Die Anthropofugalität verbindet nicht Utopie und Apokalypse, wie Büscher behauptet. Sie imaginiert vielmehr eine Apokalypse, deren Heilsvision nicht in der Erneuerung besteht, sondern sich im Untergang erschöpft und steht damit Klaus Vondungs Konzept der kupierten Apokalypse nahe. Die Besonderheit des anthropofugalen Szenarios liegt dabei lediglich in ihrer positiven Umwertung der Weltendämmerung, darin also, dass sie vor dem möglichen Ende der Menschheit nicht warnt, sondern es gar begrüßt. Sie aufgrund dessen aber als apokalyptische Utopie oder utopische Apokalypse zu bezeichnen, bedeutet beiderlei Begriffstradition nicht ausreichend reflektiert zu haben.

Nick Büscher hat mit „Apokalypse als Utopie“ ein bemerkenswertes und umfassendes Kompendium der Misanthropie geschaffen, das durch kluge Analysen und eine innovative Thematik besticht. Die Verbindung von Menschenhass, Kulturkritik, Zivilisationsüberdruss, Ecocriticism und Fortschrittsskepsis zur Beleuchtung des anthropofugalen Diskurses überzeugt weitestgehend und die Beeinflussung der Literatur durch ihn beziehungsweise ihre Beteiligung an ihm stellt ein Forschungsgebiet dar, das auch in Bezug auf andere Nationalliteraturen oder in komparatistischer Perspektive untersuchenswert ist. Es stellt sich lediglich die Frage, ob eine Konzentration auf die Analyse der intertextuellen beziehungsweise interdiskursiven Beziehungen, an deren Schnittstellen der anthropofugale Gehalt eines Textes sich manifestiert, nicht bereits erkenntnisreich genug ist. Der Versuch einer systematischen Gattungsbeschreibung birgt eine große Rigidität und Normativität, die der zusätzliche Erkenntnisgewinn nicht aufwiegt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Nick Büscher: Apokalypse als Utopie. Anthropofugalität in der österreichischen Nachkriegsliteratur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
490 Seiten, 74,00 EUR.
ISBN-13: 9783826051487

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