Elias Canetti in Wien

Der Justizpalastbrand und das Feuer als Symbol der Masse

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

„Wenige Monate, nachdem ich in das neue Zimmer eingezogen war, geschah etwas, das auf mein späteres Leben den tiefsten Einfluß hatte. Es war eines von jenen nicht zu häufigen öffentlichen Ereignissen, die eine ganze Stadt so sehr ergreifen, daß sie danach nie mehr dieselbe ist.“ Das Ereignis, von dem der in der Zwischenkriegszeit in Wien lebende Elias Canetti hier spricht, ist der Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927. Dieser Tag hatte nicht nur verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung Wiens, sondern sei, so Canetti, der für ihn persönlich vielleicht einschneidendste seit dem Tod seines Vaters gewesen. Dass diese Aussage keineswegs Übertreibung ist, wird schon allein daran sichtbar, dass der Justizpalastbrand und das damit verbundene Feuer als Massensymbol nicht nur Eingang in die Autobiografie Die Fackel im Ohr, sondern auch in den Großessay Masse und Macht und in den Roman Die Blendung – sein wohl bekanntestes Werk – gefunden hat. So ist auch Gerald Stieg, der sich intensiv mit dem Justizpalastbrand und dessen Spuren in Canettis Werk auseinandergesetzt hat, beizupflichten, dass nicht nur die Blendung, sondern der größere Teil von Canettis Werk als „Früchte des Feuers“ bezeichnet werden kann. Literarischen Niederschlag fand der Wiener Justizpalastbrand auch in Werken anderer Autoren: Neben Karl Kraus‘ Nachkriegsdrama Die Unüberwindlichen (1927) sind vor allem Heimito von Doderers Dämonen (1956) und Robert Neumanns Sintflut (1929) zu nennen.

Canetti in Wien

Canettis Lebenslinien sind eng mit der Stadt Wien verwoben: Verbrachte er die ersten Jahre seiner Kindheit noch in seinem Geburtsort Rustschuk in Bulgarien, zog seine Familie später mehrfach innerhalb weniger Jahre um. Bereits nach wenigen Monaten in Manchester beschloss Canettis Mutter aufgrund des plötzlichen Todes ihres Mannes mit ihren Kindern nach Wien zu ziehen, wo die Familie von 1912 bis 1916 lebte. 1916 ging es weiter nach Zürich, 1921 nach Frankfurt am Main, wo Canetti schließlich sein Abitur ablegte. Unbeständigkeit war die einzige Konstante in Canettis Kindheit und Jugend: Seine Schulzeit verbrachte er auf fünf Schulen in vier verschiedenen Ländern. Zur Aufnahme eines Chemie-Studiums ging der 19jährige 1924 zurück nach Wien, wo er mit Unterbrechungen bis 1938 lebte. Dort besucht er eifrig die Vorlesungen Karl Kraus‘ und lernt bei einer dieser Veranstaltungen Veza Taubner, seine spätere Frau, kennen. War die erste Zeit in Wien ebenfalls durch diverse Umzüge geprägt, bezieht Canetti im Mai 1927 ein Zimmer in der Hagenberggasse, im XIII. Bezirk, nicht weit vom Steinhof entfernt. Dort sollte er bis 1933 wohnen; nirgendwo sonst hat er es in Wien so lange ausgehalten wie im Zimmer in der Hagenberggasse, seiner „Arbeitsklause“.       

Ein prägendes Ereignis, das in die ersten Wiener Studienjahre fällt, war der Brand des Justizpalastes. Um zu verstehen, wie es zur Großdemonstration und letztlich zum Brand kommen konnte, ist eine kurze Betrachtung der Zeit nach 1918 notwendig: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zerfall der Donaumonarchie wurde im November 1918 die „Republik Österreich“ ausgerufen. Infolge des verlorenen Krieges musste das Bundesheer drastisch verkleinert werden, was die politischen Parteien dazu veranlasste, eigene paramilitärische Schutztruppen aufzustellen: auf Seiten der Sozialdemokratischen Partei war dies der Republikanische Schutzbund, auf Seiten der nationalen Parteien waren es die so genannten Heimwehren und Frontkämpfervereinigungen. In den Zwischenkriegsjahren nahmen die innenpolitischen Konfrontationen zwischen den beiden politischen Lagern immer mehr zu; vor allem die radikalen konservativen Parteien schürten in der Bevölkerung die Angst vor der „Roten Gefahr“, einer Rätediktatur, was die bereits angespannte Lage nicht eben beruhigte: Die politische Auseinandersetzung entwickelte sich immer mehr zu einer militärischen. Vor allem im Vorfeld des Justizpalastbrandes lässt sich dies, forciert durch die paramilitärischen Verbände, beobachten.

Der Justizpalast in Flammen

Anlass der Demonstration, die letztlich zum Brand des Justizpalastes führte, war ein Justizskandal: Am 30. Januar 1927 wurden bei einem Angriff nationaler Frontkämpfer auf eine sozialdemokratische Versammlung im burgenländischen Ort Schattendorf zwei Menschen – darunter ein achtjähriges Kind – getötet. Die drei zur Frontkämpfervereinigung gehörenden Täter wurden daraufhin jedoch nicht verurteilt, sondern am 14. Juli, einen Tag vor dem Justizpalastbrand, vom Gericht freigesprochen. Gegen dieses, von vielen als ungerecht wahrgenommenes Urteil regte sich heftiger Widerstand vor allem unter der Arbeiterschaft und den Sozialdemokraten Wiens. Verläuft die am Morgen des 15. Juli formierte Großdemonstration anfangs noch friedlich, eskaliert die Situation zusehends. Nach einem erfolglosen Versuch der Demonstranten Universität wie auch Parlament zu stürmen, gelingt schließlich die Besetzung des Justizpalastgebäudes. Aus den Fenstern fliegen Akten auf die jubelnde Menge herab. Kurze Zeit später steht das Gebäude in Flammen. Die Brandstifter konnten nie ermittelt werden.   

Canetti erlebte den Protest der Bevölkerung Wiens hautnah mit; er war Teil der Demonstration, kein stiller Beobachter, sondern mittendrin im Menschengewimmel. Der Zug der Demonstranten sollte für ihn zu einem der bedeutendsten Massenerlebnisse werden. Mehr als 50 Jahre nach dem Justizpalastbrand berichtet er – noch immer ergriffen und fasziniert vom damaligen Erlebnis in der Masse – in Die Fackel im Ohr: „Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“ Die Menschenmenge, die „Masse“, ist hier nichts, gegen das sich Canetti sträubt oder gar wehrt. Er geht in diesem Moment ganz in ihr auf. Jegliche Individualität verliert sich in ihr: „Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte.“

Die Macht des Feuers

Dabei steht bei Canettis Beschreibung der Ereignisse des 15. Juli 1927 das Phänomen der Masse nicht kontextlos im Raum, sondern ist stets mit einem Phänomen verknüpft, das zeitlebens eine ganz besondere Anziehungskraft auf ihn ausübte: dem Feuer. Denn für Canetti ist das Feuer „das kräftigste Symbol, das es für die Masse gibt“, wie er in Masse und Macht konstatiert. Vor ihm gibt es kein Entrinnen: „Es zerstört auf unwiderrufliche Weise.“ Wie das Feuer will sich auch die Masse immer weiter im Kern verdichten, immer größer werden; alles um das Feuer respektive die Masse herum soll entfacht, in Brand gesetzt werden. Kurz: Die Eigenschaften des Feuers sind die der Masse, „eine genauere Zusammenfassung ihrer Attribute ließe sich schwer geben“.     

Konkret zeigt sich die Macht des Feuers am Verhalten der Wiener Demonstranten: Der brennende Justizpalast ist der Auslöser für die zunehmende Erregung unter der Menschenmenge, die sich vor dem Gerichtsgebäude versammelt hat. Die Erhitzung der Gemüter greift wie ein Flächenbrand um sich. Nicht nur diejenigen, die unmittelbar vor dem Gerichtsgebäude stehen, sondern auch die sich weiter weg vom eigentlichen Geschehen befindenden sind von der rötlichen Färbung des Himmels und dem Geruch von verbranntem Papier alarmiert: „Das Feuer war der Zusammenhalt. Man fühlte das Feuer, seine Präsenz war überwältigend, auch dort, wo man es nicht sah, hatte man’s im Kopf, seine Anziehung und die der Masse waren eins.“ Die Macht des Feuers greift um sich und die Demonstranten wissen diese Macht für sich zu nutzen – auch Canetti weiß sich des Herrschaftsbereiches des Feuers beziehungsweise der Masse nicht zu entziehen.

Das Feuer erscheint in Canettis Werk als transzendentales, alles durchdringendes Element. Feuer und Menschenmasse stehen in Analogie zueinander: So, wie das Feuer Flammen schlägt und sich blitzartig verkleinern oder ausbreiten kann, so verhalten sich auch die in den Gassen Wiens Schutz suchenden Demonstranten, die sich jedoch ebenso schnell wieder zur Masse vereinigen können wie die züngelnden Flammen mit dem Feuer. Immer wieder bewegen sie sich von der Masse weg, um sich mit ihr wenig später wieder zu vereinen. Auch die wild um sich schießenden Polizisten können nicht verhindern, dass die Demonstranten, geradezu magisch angezogen, zum Zentrum des Geschehens, dem in Flammen stehenden Justizpalast, zurückkehren.

Die Folgen indes sind verheerend, die Großdemonstration endet in einem Massaker: 89 Menschen sterben; mehr als 1000 werden verletzt. Dem Protest gegen das einen Tag zuvor getroffene Gerichtsurteil begegnete Johann Schober, damaliger Polizeipräsident Wiens, mit unbeugsamer Härte. Es kommt zu einem regelrechten Gemetzel vor dem Gerichtsgebäude: Die aufgeputschten Polizisten schießen zum Teil wahllos in die Menge und schlagen, auf Pferden sitzend, mit Säbeln auf fliehende Demonstranten und unbeteiligte Passanten ein. Man will an den Demonstranten ein Exempel statuieren: Nach diesem Tag sollte die Stadt tatsächlich nicht mehr dieselbe sein. Karl Kraus, einer der heftigsten Kritiker dieses skrupellosen Polizeieinsatzes, widmete den Ereignissen des 15. Juli eine komplette Ausgabe seiner „Fackel“ und forderte öffentlich die Entlassung Schobers. Canetti, der zu dieser Zeit Kraus geradezu abgöttisch verehrte, bedankte sich in einem enthusiastischen Brief bei ihm für seinen mutigen und unermüdlichen Einsatz. Wenige Jahre verkehrte sich diese Verehrung jedoch in ihr Gegenteil: Canetti wendete sich schwer enttäuscht von seinem Vorbild Kraus ab, nachdem dieser Partei für den diktatorisch agierenden Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ergriffen hatte.  

Spuren des Justizpalastbrandes in der „Blendung“

In Masse und Macht betont Canetti, dass Menschen ein regelrechtes Bedürfnis danach hätten, sich dem Feuer gleichzusetzen, sich in dieses zu verwandeln. Als Beispiel führt er die Navajo-Indianer Neu-Mexikos an, die diese Metamorphose in einem Tanzritual zelebrierten. Doch nicht nur in älteren, sondern auch in späteren, komplexeren Kulturen sei dieses Phänomen zu beobachten: In ausweglosen Situationen setzten sich Herrscher mitsamt ihrer Festung oder ihrer Stadt in Brand – eine Anspielung Canettis auf den Feuertod Peter Kiens, der Hauptfigur in der Blendung.

Canettis Roman ist nicht nur „durchgehend stark vom Symbol des Feuers beherrscht“ (Gerald Stieg), sondern mindestens ebenso stark mit den Ereignissen des 15. Juli verwoben, was an mehreren Stellen in der Blendung sichtbar wird. Besonders deutlich an einer Person, die Canetti im Zuge des Justizpalastbrandes in Die Fackel im Ohr eindringlich beschreibt: Der so genannte „Akten-Jammerer“ – „ein Mann mit hochgeworfenen Armen, der überm Kopf verzweifelt die Hände zusammenschlug“, vielleicht ein Archivbeamter – kümmert sich nicht darum, dass Menschen neben ihm von den ‚Ordnungshütern‘ auf brutalste Art und Weise misshandelt und getötet werden, sondern hat lediglich seine Akten im Kopf, die durch die Stürmung und den Brand des Gerichtsgebäudes verloren gehen. Eine unübersehbare Parallele findet sich in der Blendung im Büchernarren Kien, denn wie dem „Akten-Jammerer“ bedeutet diesem Lebloses, in diesem Fall Bücher, mehr als Menschen. Dies ist eine Umkehrung der Verhältnisse: Nicht Menschen steht das Merkmal der Lebendigkeit, des Lebens zu, sondern Büchern. Auch und gerade deshalb reagiert Kien so bestürzt auf einen imaginierten Bibliotheksbrand:

„Wissen Sie, was das heißt, ein Bibliotheksbrand? Mann, ein Bibliotheksbrand im sechsten Stock! Stellen Sie sich das vor! Zehntausende von Bänden – das sind Millionen Seiten – Milliarden Buchstaben – jeder einzelne davon brennt – fleht, schreit, brüllt um Hilfe – da reißt einem das Trommelfell, das Herz reißt einem – aber lassen wir das!“

Kurze Zeit später steht das Theresianum, ein Hort der Bücher in der Blendung und Anspielung Canettis auf das Dorotheum in Wien, in Flammen. Und wie beim Justizpalastbrand ist es der rötliche Schein am Himmel, der die Menschen – respektive Kien – alarmiert. Spricht Canetti bei der Beschreibung des 15. Juli von einem „Ton der Masse“, so sind es in der Blendung die Hilferufe der Bücher, der ‚Büchermasse‘, die Kien in den Wahnsinn treiben. Das Vorgehen der Polizei gegen die Wiener Demonstranten dient Canetti als Folie für die Verfolgungsängste des Protagonisten im Roman: Hier ist es jedoch nicht der Justizpalastbrand, sondern das in Flammen stehende Theresianum, bei dem sich ein „ungeheure[s] Aufgebot“ sammelt: „Mannschaft zu Fuß und zu Pferd. Funkelnagelneue Revolver, Karabiner, Maschinengewehre, Stacheldraht und Panzerwagen“.

Als Canetti Thomas Marek (i.e. Herbert Patek), einem Freund in Wien, vom „Akten-Jammerer“, der einen so starken Eindruck beim Justizpalastbrand bei ihm hinterlassen hatte, erzählt, „kam ihn das Lachen an, ein stürmisches Gelächter, er lachte so sehr, daß sein Wagen [Marek saß im Rollstuhl] ins Rollen geriet und mit ihm auf und davon fuhr. Das Lachen war zur treibenden Kraft geworden, da er nicht aufhören konnte, mußte ich ihm nachrennen, um ihn aufzuhalten“. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zum geplanten Ende Kiens im Roman: „In diesem Augenblick“, so Canetti in Die Fackel im Ohr, „sah ich den ‚Büchermenschen‘ [gemeint ist Kien] vor mir, an die Stelle des Akten-Jammerers sprang plötzlich er, er stand am Feuer des brennenden Justizpalastes, und es traf mich wie ein Blitz, daß er mit all seinen Büchern zusammen verbrennen müsse.“

So verwundert es kaum, dass „Der rote Hahn“ − das letzte Kapitel in der Blendung − vor Anspielungen auf den Feuertod Kiens nur so strotzt: Es ist vom feuerroten Kopf des Hausmeisters die Rede, von Thereses Blut, das sich auf dem Teppich abzeichnet, vom Brand des Theresianums, vom rötlichen Schein des Brandes und vom Petrolgeruch der Druckerschwärze. Kien sieht für sich selbst im Feuertod die letzte Möglichkeit, den Zugriffen seiner Umwelt zu entkommen. Er fürchtet sich nicht nur vor der Polizei, die, so mutmaßt er, wegen des eingebildeten Mordes an seiner Frau Therese hinter ihm her ist, sondern ebenso vor seinem Bruder Georg, dessen Machteinfluss auf Kiens Leben immer größer zu werden scheint. Doch nicht nur das: Durch den Feuertod gelingt es ihm gleichzeitig, eine unio mit seinen Büchern einzugehen. Wie jedes Individuum in der Masse aufgeht und gleichwertig wird, so wird Kien mit seinen Büchern gleich. Die Hingabe an das Feuer ist eine Vereinigung mit der Masse, der sich der Protagonist bis dahin zu entziehen versucht hatte. Anders als bei Canettis Massenerlebnis beim Justizpalastbrand ist es jedoch keine Vereinigung mit der Menschenmenge, sondern mit seinen Büchern, die er abgöttisch liebt.   

Literaturhinweise:

Elias Canetti: Die Blendung. Roman. Frankfurt a. M. [36. Aufl.].
Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931. Frankfurt a. M. 2005 [23. Aufl.].
Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 2006 [30. Aufl.].
Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. München/Wien 2005.
Gerald Stieg: Frucht des Feuers. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand. Wien 1990.