Wien – eine literarische Topografie

Vorwort zum Themenschwerpunkt

Von Urte HelduserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Urte Helduser und Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Metropolen bieten der poetischen Produktion Stoff und Inspiration – umgekehrt prägen literarische Texte unsere Wahrnehmung von Städten. Dieser Allgemeinplatz gilt für Wien auf besondere Weise. Zumal seit der nach ihr benannten ,Moderne‘ ist diese Stadt Gegenstand einer spezifischen literarischen Mythisierung. Wien ist die Stadt des Frivol-Morbiden, der Musik, der Kaffeehäuser, der Psychoanalyse – die Stadt Peter Altenbergs, Arthur Schnitzlers, Hugo von Hofmannsthals, Ödön von Horváths, Ilse Aichingers und Ingeborg Bachmanns. Literarische Orte sind die Strudlhofstiege und der Prater ebenso wie die Judengasse, die Leopoldstadt, die Heilanstalt Steinhof und der Zentralfriedhof. Texte von Joseph Roths „Kapuzinergruft“ bis hin zu Thomas Bernhards „Heldenplatz“ haben dazu beigetragen, dass Wien ein Ort der Erinnerung an eine untergegangene multikulturelle Gesellschaft, aber auch an die gerne verdrängte nationalsozialistische Vergangenheit ist.

Die im Themenschwerpunkt präsentierten Essays sind das Resultat von Lehrveranstaltungen zur literarischen Topografie Wiens, die im Sommersemester 2014 an den Universitäten Marburg, Münster und Wien durchgeführt wurden. In einer einwöchigen Exkursion begaben sich die Studierenden aus Deutschland gemeinsam mit ihren Wiener KommilitonInnen auf Spurensuche. Die Beiträge dokumentieren die produktiven Begegnungen, die mit und an den literarischen Stätten – vom Archiv bis zum Romanschauplatz – und zwischen den Studierenden (und ihren DozentInnen) stattfanden.

Sie dokumentieren das Vergnügen am gemeinsamen Erkunden, aber auch das Interesse an literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Grundsatzfragen, die sich stellen, wenn sich Literatur und Realität miteinander konfrontiert sehen. Wie hängen der Raum und die Texte miteinander zusammen, wie verhalten sich Faktualität und Fiktionalität zueinander? Sollten wir nicht von subjektiv und real Erlebtem absehen, wenn es doch um die Interpretation von Texten geht? Probleme wie diese wurden vor, während und nach der Fahrt heftig diskutiert. Ihre Reflexion bildete gewissermaßen eine lustvolle Abwehr- und Verweigerungshaltung gegenüber dem touristischen Erleben. Und sie führte – wie die Essays unseres Schwerpunkts belegen – dazu, den Text der Stadt weiterzuschreiben.