Oh, du finsteres Deutschland!

In „Finsterworld“ zeichnen Frauke Finsterwalder und Christian Kracht ein düsteres Bild der deutschen Gegenwart

Von Sandra KozokRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Kozok

„Ready for the KZ-Besuch?“, fragt Maximilian Sandberg (Jakub Gierszal) seine Mitschüler auf dem Weg zur Gedenkstätte. Überraschend und schmerzhaft trifft die erzählerische Gewalt von „Finsterworld“ den arglosen Zuschauer. Drehbuchautor Christian Kracht und Regisseurin Frauke Finsterwalder legen den Finger in die offene Wunde und demaskieren die deutsche Identität in ihrer gefährlichen Schizophrenie aus Schuld und Vergeltung. Der deutsche Film zeigt sich erstaunlich „ready“ für diese filmische und dramatische Kompromisslosigkeit.

Finsterwalder und Kracht inszenieren einen Episodenfilm, der die Entwicklung von zwölf Figuren nachzeichnet: Polizist Tom (Ronald Zehrfeld) verkleidet sich heimlich als plüschiger Eisbär und besucht Furry Conventions. Seine Freundin Franziska (Sandra Hüller) dreht Reportagen und träumt von ihrem großen Durchbruch. Inga (Corinna Harfouch) und Georg Sandberg (Bernhard Schütz) sind auf Geschäftsreise, ihr Sohn Maximilian Sandberg besucht mit seinen Mitschülern, u.a. dem Pärchen Dominik (Leonard Scheicher) und Nathalie (Carla Juri), und Lehrer Nickel (Christoph Bach) ein Konzentrationslager. Oma Sandberg (Margit Carstensen) hingegen bekommt nie Besuch, außer von Fußpfleger Claude Petersdorf (Michael Maertens). Und irgendwo in der Wildnis pflegt ein Einsiedler (Johannes Krisch) seinen kranken Raben. Sie alle eint der Zufall – oder das Schicksal?

Nicht nur der Film ist hochkarätig besetzt, auch mit Drehbuchautor Christian Kracht (u.a. „Faserland“, 1995) findet sich ein Name im Vorspann, der Erwartungen weckt. Das Filmprojekt entstand in enger Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau Frauke Finsterwalder. Die Idee zum Film kam den beiden beim Autofahren, so verrät es zumindest das Vorwort des gemeinsamen Drehbuchs. Draußen zog die deutsche Landschaft vorbei, drinnen spielte Noel Cowards „Don’t Let’s Be Beastly to the Germans“ (1943), ein satirischer und patriotischer Song, der während des zweiten Weltkriegs in Großbritannien Erfolge feierte: „Don’t let’s be beastly to the Germans / When our victory is ultimately won, / It was just those nasty Nazis who persuaded them to fight“. Ihre Visionen nahm das Künstlerpaar zunächst mit auf Reisen: In Argentinien, Kenia und Korea fanden sie den nötigen Abstand, um ihr Filmprojekt voranzutreiben. Es folgte eine „sehr intensive, von Heiterkeit und gemeinsamer Zuneigung geprägte, meditative Zusammenarbeit“, an die sich 2012 die Dreharbeiten in Bayern und Tansania anschlossen. Im Folgejahr feierte ihr Film schließlich Premiere in den deutschen Kinos.

„Finsterworld“ hüllt sich in eine düstere Assoziationswolke aus Stereotypen: Die deutsche Schuldfrage, die deutschen Autos, die deutsche Natur – der deutsche Boden wird hier zum psychologischen Tatort. Das Konzentrationslager, der Wald, das Seniorenheim und die Autobahn bilden die passende Kulisse dazu. Mittendrin ereignet sich eine menschliche Tragödie. „Und je älter man wird, desto mehr Enttäuschungen erlebt man und man verschließt sich, wird immer gefühlloser, abgebrühter, unbeteiligter und lebloser“, erklärt Schüler Dominik die Misere. Überhaupt ist er es, der bebrillte Junge mit der Liebe zum Comic, der dem Film überraschende sprachliche Tiefe verleiht. Seine originellen philosophischen Ausführungen zu den existenziellen Lebensfragen werden – wie könnte es in „Finsterworld“ anders sein – schließlich mit dem Tode bestraft. Das scheint ein beliebtes Muster in diesem Film: Auf jeden hellen Moment folgt auch sofort wieder Schatten. Dem Zuschauer ist kaum ein Moment der Erholung vergönnt.

„Es gibt doch Schönheit in dieser Welt!“ Wenn Franziska Feldenhoven – hauptberuflich Videojournalistin, nebenberuflich Idealistin – über ihre Arbeit spricht, erreicht der Film eine selbstreflexive Ebene. „Man fährt am besten in ein vom Bürgerkrieg zerfetztes Land“, lautet ihre ernüchternde Erkenntnis. Finsterwalder und Kracht brauchen nicht in die Ferne schweifen, mit ihrem Film durchqueren sie eine von Identitätskrisen zerfetzte Gesellschaft, die ganz nah ist. Der Bürgerkrieg entfesselt sich in den Worten ihrer Protagonisten. In Franziskas Naivität entblößt sich aber auch der wahre Schrecken von „Finsterworld“, denn reine Schönheit sucht man in den filmischen Bildern vergeblich.

Dabei ist „Finsterworld“ ein Meisterwerk der Filmkunst. Aus den Bildern spricht eine erfrischende Detailverliebtheit. Es ist aber vor allem die Skurrilität, aus der sich die filmische Ästhetik speist: Es ist der Fußpfleger Claude Petersdorf, wie er mit großer Hingabe Herzchenplätzchen aus Hornhaut backt, es ist der Schüler Dominik, der auf der Toilette mit seinem imaginären Freund spricht, es ist Polizist Tom, der in seinem plüschigen Eisbärenkostüm einsam auf einer Parkbank sitzt und es ist Nathalie, die von ihren Mitschülern in einen Verbrennungsofen gesperrt wird. In dieser Szene klafft die Schere zwischen Bild und Handlung am deutlichsten auseinander: Der Schockmoment ist stark inszeniert und setzt dem Entsetzen filmische Schönheit entgegen. Dabei leben die Bilder von dem Spiel mit Licht und Schatten, genau wie die Geschichte von dem Spiel mit Gut und Böse lebt.

„Ich hasse Deutschland“, verkündet Inga Sandberg stolz. Die restlichen Charaktere hassen entweder ihre Mitmenschen oder zumindest sich selbst. Das Fürchterliche in „Finsterworld“ sind die seelischen Abgründe seiner Protagonisten. „Ich bin so fürchterlich allein“, erklärt Oma Sandberg traurig. Sie alle sind auf ihre Art fürchterlich einsam, fürchterlich missverstanden und fürchterlich fürchterlich. Die Erzählstränge verlaufen parallel, berühren sich nur gelegentlich und sprechen doch von den gleichen Nöten: Einsamkeit, Isolation, Selbstverleugnung, Schuld.

Schade nur, dass der Film dabei auf mindestens eine entscheidende Schlüsselszene verzichtet. Dem Schnitt fiel die Rolle des Schulleiters (Karl-Heinz Hackl) zum Opfer, der den zu unrecht angeklagten Nickel ins Kreuzverhör nimmt: „Sie sind ganz unten, Nickel. Ganz unten. Und wir alle mit Ihnen in der … Finsternis.“ Hier öffnen sich erstmals auch verbal die Pforten zu Krachts „Finsterworld“.

Das Filmende besingt schließlich Cat Stevens („The Wind“): „But never never never / I‘ll never make the same mistake / No never never never“. Nie, nie, nie wieder werde ich den selben Fehler machen. Vielleicht der ironischste Moment des gesamten Films: Denn wir alle wissen doch, dass das eine Lüge ist.

„Finsterworld“ (Deutschland 2013)
Regie: Frauke Finsterwalder
Drehbuch: Christian Kracht, Frauke Finsterwalder
Darsteller: Corinna Harfouch, Sandra Hüller, Michael Maertens, Ronald Zehrfeld, Margit Carstensen, Bernhard Schütz, Johannes Krisch, Christoph Bach, Carla Juri, Leonard Scheicher
Laufzeit: 91 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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