Abgesang auf eine geopferte Generation

„Anthem for Doomed Youth“ (1917) des ‚soldier poet‘ Wilfred Owen

Von Alla SoummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alla Soumm

„This book is not about heroes […].
Above all I am not concerned with Poetry.
My subject is War, and the pity of War.
The Poetry is in the pity.
Yet these elegies are to this generation in no sense consolatory. They may be to the next.
All a poet can do today is warn. That is why the true Poets must be truthful.“

Mit diesem berühmt gewordenen Vorwort zur geplanten Erstausgabe seiner Kriegsgedichte – einem schmalen „body of work composed between January 1917, when he was first sent to the Western Front, and November 1918, when he was killed“ (Day Lewis, S. 11), skizziert Wilfred Owen im Juli 1918 eine Art literarisches Manifest. Darin proklamiert der erst 25-jährige englische Dichter, der als Leutnant der britischen Armee am Ersten Weltkrieg teilnimmt, die bewusste Abkehr von jeglichem staatlich verordneten und zu Propagandazwecken instrumentalisierten Scheinheroismus und postuliert zugleich die unbedingte thematische Bezogenheit seines Lyrikkonzeptes.

Im Falle Owens mag das Beharren auf der Vorrangstellung des Inhalts, welcher folglich auch die formalen Mittel eines Werkes bestimmt, durchaus berechtigt sein. Seine vor dem Zeitpunkt des ersten Einsatzes an der Front entstandenen Gedichte zeugen eher vom jünglingshaften, spätromantischen Epigonentum, als dass sie die nur wenige Monate später scheinbar unvermittelt einsetzende dichterische Reife erahnen lassen: statt eines graduellen künstlerischen Wachstums „a forced growth“ also – und zwar „under conditions so hideous that they might have been expected to maim a poet rather than make him“ (ebd., S. 22). Es ist jene „pity of war“, die vom Leiden der eigenen Kameraden hervorgerufene Anteilnahme, die Owens dichterischer Subjektivität ihre prätentiöse Sentimentalität nimmt und ihr zugleich durch die Verschmelzung der traditionellen Gedichtform wie der des Sonetts, des Terzetts oder der Ballade mit Elementen des krudesten Realismus auf der inhaltlichen Ebene eine eigenartige Kraft verleiht. Die Aufgabe des „true Poet“ ist es, über das Unaussprechliche der Conditio humana das Schweigen zu brechen und über die zu Tausenden ermordeten einfachen Soldaten seine Klage anzustimmen. Erst durch Owens Augenzeugentum und ‚Mitleiden’ erlangt seine „poetry of protest“ (ebd., S. 22) die zur emotionalen Beeinflussung notwendige Überzeugungskraft – „[t]he subject made the poet“ (ebd., S. 12). 

Am Ende seines Vorwortes äußert Owen die Hoffnung, seine Gedichte mögen „the spirit of […] Prussia“ überdauern. Damit wird einerseits evident, dass Owens antimilitaristische Haltung nicht mit bedingungslosem Pazifismus verwechselt werden sollte; andererseits wird der zu bekämpfende Militarismus – gleichsam als die Spitze des Eisbergs – in seiner sprichwörtlich gewordenen deutschen Ausprägung verortet, der es folglich vor allen anderen Erscheinungen desselben Übels den Krieg zu erklären gilt. Zugleich ist der universelle Charakter des Owenschen Mitleids nicht zu verkennen, beklagt er doch in einem Brief noch vor seiner freiwilligen Meldung an die Front das „deflowering of Europe“ – und zwar, wie es für sein „pity of war“ bezeichnend sein wird, ausdrücklich auf beiden Seiten (Brief an die Mutter vom 28. August 1914).

Die ersten Kriegsmonate ist Owen hin- und hergerissen zwischen dem intensiven Erleiden der eigenen Schande als ‚Drückeberger’ und der vagen Ahnung, die der Überzeugung seiner späteren Dichterfreunde Siegfried Sassoon und Robert Graves entspricht, „that my life is worth more than my death to Englishmen“ (Brief an die Mutter vom 2. Dezember 1914). Sein Bewusstsein, durch das Blutopfer anderer am Leben zu bleiben und das Mitleid für diese unbekannten, gesichtslosen Erretter lässt Owen schließlich auf eine fast ekstatisch-mystische Weise eine folgenreiche Entscheidung fällen: Das ‚Mitschultern’ der kollektiven Last wird für ihn zum „Only Way“ (Brief an den Cousin vom 25. Juli 1915).

Owens „conception of poetic honesty“ (Lane, S. 141), die Pflicht, über das Leid der Männer an der Front Zeugnis abzulegen, verbindet sich in seinem Œuvre mit einer jeglichem Militarismus trotzenden Position. Jeglicher Suggestivkraft der Owenschen Antikriegsdichtung zum Trotz sollte jedoch daran erinnert werden, dass der Dichter sich freiwillig an die Front gemeldet hat – genauso wie daran, dass sein eigenartiger Pazifismus in hohem Maße von Widersprüchlichkeit geprägt ist, die sich u.a. in der Geringschätzung der nicht kämpfenden Zivilbevölkerung niederschlägt.

Owens Geringschätzung der Nichtkämpfenden mag zwar verwundern, hängt aber mit dem Charakter des Owenschen Mitleids, dessen Universalität zwar nur Soldaten, dafür aber der Farbe ihrer Uniform ungeachtet allen Soldaten gilt, eng zusammen: „[…] we shall not fully understand the poetry of protest written by Owen, Sassoon and others, unless we realize how great was the gulf between the fighting man and the civilian at home […]. To the soldier, those on the other side of the barbed wire were fellow sufferers; he felt less hostility towards them than towards the men and women who were profiting by the war, sheltered from it, or wilfully ignorant of its realities“ (Day Lewis, S. 22).

Einen Beweis seines Mutes und seiner Todesverachtung wird Owen einen Monat vor seinem Tod in Form eines Military Cross auch mit Freude erhalten: für die Eroberung eines deutschen Maschinengewehrs. Sein Gedicht „The Next War“ enthüllt aber, welchem Krieg sich Owen in seiner Dichtung eigentlich verschreibt und welche „greater wars“ er sich von den zukünftigen Generationen erhofft, „when every fighter brags / He fights on Death, for lives; not men, for flags“: Dem Tod und dessen Agenten aus Fleisch und Blut – der zum Patriotismus, Mord und Selbstopfer aufrufenden Kirche und Vätergeneration – gilt Owens kriegerischer Hass um des Lebens und der lebenden Leidtragenden willen.

Wie findet nun Owens Kriegsablehnung mit der gleichzeitigen festen Entschlossenheit, an den Kämpfen aktiv teilzunehmen, Eingang in seine Lyrik und sein Lyrikkonzept?

Die Konzeption der Lyrik als eines Inhalte übermittelnden Mediums spiegelt die Verpflichtung des Dichters, „to speak out about the war“ (Lane, S. 13). Damit wird der Dichter gleichsam zu einem Sprachrohr seiner Leidensgenossen, denen die Fähigkeit, über ihre eigenen Nöte die Stimme zu erheben, nicht gegeben ist. Doch nicht anders als im letzten Gespräch mit seinem Bruder Harold, dem gegenüber Owen freimütig bekannt haben soll, der Lebensgefahr ungeachtet an die Front – „the only place I can make my protest from“ –  zurückkehren zu wollen (Stallworthy, S. 261), ist nicht das Zeugnis eines nur indirekt betroffenen, nüchternen Beobachters das Ziel, sondern das direkte, körperliche ‚Miterfahren’ des kollektiven Leids als die einzige moralische Rechtfertigung des Kriegsdichters. Einzig das buchstäbliche Mitleiden führt zur wahren Empathie und verleiht dem Dichter so die Berechtigung, als Zeuge und Sprachrohr zugleich aufzutreten. Der Indifferenz und Abstumpfung der planmäßig desinformierten Leser an der Heimatfront gilt es daher mit literarischen Schocks entgegenzuwirken – bis diese wieder zur Empathie wie auch zu Taten fähig sind.

Neben diesen als primäre Adressaten auserkorenen Lesern an der Heimatfront, denen gegenüber der wahre Dichter – Owens „almost messianic belief in the poet’s responsibility“ (Welland, S. 94) und dem daraus entstehenden aufklärerischen Impetus seines Lyrikkonzeptes gemäß sowie im Einklang mit der späteren Definition der Kriegsdichtung durch W. H. Auden als „extending our knowledge of good and evil, […] making the necessity of action more urgent and its nature more clear“ (Lane, S. 12) – zur absoluten Aufrichtigkeit verpflichtet ist, hat die Owensche Dichtung noch eine weitere Verpflichtung gegenüber ihrer zweiten, eingeweihten Leserschaft: „The men who lived and died in the world Owen distilled into his work were, if not his audience, his witnesses – […] that he spoke truth as well as poetry“ (Stallworthy, S. 142). Die Owensche Dichterkonzeption verpflichtet den Künstler somit zweifach – sowohl durch ihren Aufklärungscharakter als auch durch das Verständnis des Dichters als eines Sprachrohres der Stimmlosen – zur vollkommenen Aufrichtigkeit. Diese zweite Funktion der Owenschen Lyrik, die im „strong belief in the paradoxical power of poetry to console, though born in moments of darkest dejection“ wurzelt, verbindet sich mit ihrer primären, aufklärerischen Funktion: „One is reminded of the hope, cautiously voiced in [Owen‘s] 1918 Preface, that his war poems […] might one day become consolatory to later generations“ (Bäckmann, S. 69).

Ein Dichter wie Owen, der Dichtung stets als ein Medium begreift und dem aus idealistisch-humanistischen wie aufklärerischen Gründen an der Kommunikationsfähigkeit dieses Mediums besonders gelegen ist, sieht sich – nicht anders als andere zeitgenössische Kriegsdichter – im Angesicht der vollkommen neuen Erfahrung des in seiner Totalität und seinem Ausmaß beispiellosen Stellungs- und Vernichtungskrieges einem Dilemma gegenüber: Zwar ist es sein erklärtes Ziel, die eigentliche Kriegsrealität den Heimatfrontlesern verständlich zu machen, doch ist er sich zugleich auch der Problematik bewusst, dass nur jene, die an der neuen Kriegserfahrung partizipiert haben, darum wissen. Anderen dagegen ist es zunächst verwehrt, an dieser neuartigen Erfahrung, die Todesangst und Gewissensqualen genauso umfasst, teilzuhaben.

Der Wunsch, semantisch neuartiges Material auf eine verständliche, emotional erschütternde und zugleich auf eine diesem gerecht werdende Art einem breiten Kreis von Nichteingeweihten zu vermitteln, ist mit der Suche nach neuen Formen und Verfahren verbunden: „[T]he completely new and shocking experience that taking part in mass trench warfare constituted […] was more or less incommunicable in its own terms, and demanded new approaches“. Daher können „the literary records of the Great War […] be seen as a series of attempts to evolve a response that would have some degree of adequacy to the unparalleled situation in which the writers were involved“ (ebd., S. 63f.). Die Suche nach einem Instrument, „to shock the reader into awareness“ (ebd., S. 64), beginnt. 

Zunächst muss neuartiges ‚Schockpotential’ auf der inhaltlichen Ebene lokalisiert werden: Owen wie anderen zeitgenössischen Kriegsdichtern ist es zu verdanken, der Dichtung, welche immer noch vornehmlich mit „pleasant, dreamy experiences“ assoziiert worden war, „scenes of utter horror, without any […] consolation“ als neues Material erschlossen zu haben (ebd.). Damit haben sie eine bereits vor dem Krieg einsetzende Entwicklung fortgeführt, die Thomas Hardy schon 1896 in „De Profundis III („if way to the Better there be, it exacts a full view at the Worst“) formuliert und John Millington Synge 1908 in dem berühmten Vorwort zu seinen Gedichten („before verse can be human again it must learn to be brutal“) gefordert hatte. Owens in seinem Vorwortentwurf formulierte Behauptung, „[to be] not concerned with Poetry“, ist daher als eine „re-definition of poetry [to serve one] particular purpose“ zu verstehen – eine Neudefinierung, die jedoch zugleich einen dreifachen Bruch zur Folge hat: mit traditionell ‚poetischem’ „subject-matter“, mit der Art der „emotions concerned“ sowie mit den „techniques used to convey them“ (ebd., S. 91f.).

Nicht geringe Kraft zum Erschüttern des Rezipienten kann in der kontrastiven Vermählung des neuen Inhalts, der neuartigen Erfahrung mit traditionellen Formen, etwa der des Sonetts entfaltet werden – wie Owen anhand seines „Anthem for Doomed Youth“ (1917) unter Beweis stellt:

ANTHEM FOR DOOMED YOUTH

What passing-bells for these who die as cattle?
   – Only the monstrous anger of the guns.
   Only the stuttering rifles‘ rapid rattle
Can patter out their hasty orisons.
No mockeries for them; no prayers nor bells;
   Nor any voice of mourning save the choirs, –
The shrill, demented choirs of wailing shells;
   And bugles calling for them from sad shires.

What candles may be held to speed them all?
   Not in the hands of boys, but in their eyes
Shall shine the holy glimmers of goodbyes.
   The pallor of girls‘ brows shall be their pall;
Their flowers the tenderness of patient minds,
And each slow dusk a drawing-down of blinds.

In diesem Sonett erfolgt die Verweigerung des ausdrücklich auf das Christentum und seine Liturgie der Totenmesse bzw. der anglikanischen „Order for the Burial of the Dead“ bezogenen Erlösungsgedankens auf eine direkte, explizite Art, doch ist diese Verweigerung kein Ausdruck der Streitbarkeit, sondern nur noch der durch kein Ritual und keine religiöse Sublimation zu mildernden Trauer. Diesem realen Schmerz über das reale Abschlachten realer Menschenkörper kann kein entpersönlichtes Ritual einer heuchlerischen und mitleidslosen Institution Abhilfe schaffen, sondern muss vielmehr als eine Verhöhnung der Toten erscheinen. Wenn Owen der Kirche und ihren Riten, die einzig dem verlogenen Akt der Sublimierung des nicht zu sublimierenden, endgültigen und durch nichts ungeschehen zu machenden Massenmordes dienen, das Potential zur Trostspendung im Oktett aberkennt, lässt er im Sextett aber erahnen, wer bzw. welche ‚Riten’ der Verabschiedung der Toten würdig sind.

Nicht anders als in seinem frühen Kriegsgedicht „A New Heaven“, worin kirchliche Bestattung und Totenehrung mit neuem, unkirchlichen Sinn gefüllt wird – „[w]eary cathedrals light new shrines for us. / To us, rough knees of boys shall ache with rev’rence. / Are not girls’ breasts a clear, strong Acropole?“ – vollzieht Owen in seinem „Anthem“ eine Umwertung der gesellschaftlichen Werte. Es zählt nicht der pervertierte, zum lebensfeindlichen Prinzip verkommene Glaube, der im Dienste eines Staates den angeblichen Heldentod glorifiziert, sondern das wahrhaft Lebendige in seinem Ausdruck der wahren Empathie: Die Blässe der aufrichtigen Anteilnahme ist das wahre Leichentuch, während nicht Kerzen, sondern menschlichen Tränen allein das Epitheton „holy“ gebührt. Damit ist Owens anthropozentrische Haltung mit entpersönlichten, religiösen Ritualen unvereinbar.

Owen „tended to conceive of poetry in terms of music“ (ebd., S. 140). Dies wird nicht zuletzt auf der semantischen Ebene seiner Kriegsdichtung in der Fülle musikalischer Motivik und Klangreferenzen deutlich: So verneint im auf Klangmotivik aufgebauten Oktett des „Anthem“ „stuttering rifles’ rapid rattle“ die vorausgegangenen „passing bells“; so ersetzen „shrill, demented choir of wailing shells“ und „bugles calling“ zuvor evozierte „bells“ wie jede andere „voice of mourning“ – und bilden damit einen (auch auditiven) Kontrast zu einer der Toten angemessenen, visuellen Leidbekundung im abschließenden Sextett.

Die semantische Ebene geht so nahtlos in die klangliche über. In „Anthem“ muss in diesem Zusammenhang auf das onomatopoetische Element hingewiesen werden: auf den abrupten Tempowechsel im Oktett, worin auf die im gemessenen Tempo des fünfhebigen Jambus gestellte Frage nach den „passing-bells“ in der Antwort mit ihren zahlreichen, um den „t“-Laut kreisenden Lautmalereien, den r-Alliterationen und der unregelmäßigen Metrik der vierten Zeile das Tempo übergangslos erhöht wird („Only the stutterting rifles’ rapid rattle / Can patter out their hasty orisons“).

Mit seiner „remarkable sensitivity to sounds“ (ebd., S. 123) gelingt es Owen so, dichterische Verfahren zu entwickeln und Techniken zu vervollkommnen, die ob in „harmonies“ oder „discords, are prompted by the meaning“ (Day Lewis, S. 26) und so die emotive Kraft seiner Kriegsdichtung verstärken – gemäß des Owenschen Sendungsbewusstseins mit der beinahe prophetischen Überzeugung, dass „[s]ome of these verses will light my cigarettes, but one or two may light the darkness of the world“ (Brief an die Mutter vom 7. September 1917).

Literaturhinweise:

Wilfred Owen: Collected Letters, hg. v. Harold Owen/John Bell. London 1967.
Wilfred Owen: The Complete Poems and Fragments, hg. v. Jon Stallworthy. London 1983.
Sven Bäckmann: Tradition Transformed. Studies in the Poetry of Wilfred Owen. Lund 1979.
Arthur E. Lane: An Adequate Response. The War Poetry of Wilfred Owen & Siegfried Sassoon. Detroit 1972.
Jon Stallworthy: Wilfred Owen. London 1974.
Dennis Sidney Reginald Welland: Wilfred Owen. A Critical Study. London 1960.

Anmerkung der Redaktion:

Der Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz