Bilder von Leben und Tod

Im auf der Lebensgeschichte seines Großvaters basierenden Roman Oorlog en Terpentijn des belgischen Autors Stefan Hertmans, der im August 2014 in deutscher Übersetzung erscheinen soll, stehen sich Kunst und Krieg Front an Front gegenüber

Von Yuri NaegelenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yuri Naegelen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 2014 ist das Jahr eines tragischen Jubiläums: Vor genau 100 Jahren versank Europa im Schrecken des Ersten Weltkrieges, der Millionen Menschen das Leben kosten und das Schicksal der nachfolgenden Generationen unumkehrbar verändern würde. An dieser leidvollen Zeit orientiert sich der neueste Roman des belgischen Schriftstellers Stefan Hertmans, Oorlog en Terpentijn (zu Deutsch: Krieg und Terpentin). Dem autobiographisch geprägten Erzähler nach publizierte Hermans den Roman mit Absicht bereits Ende 2013, um das Werk, das auf den niedergeschriebenen Erinnerungen seines Großvaters Urbain Martien beruht, nicht in der erwarteten Flut von Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg untergehen zu lassen. Dennoch ist Oorlog en Terpentijn weder eine Biographie noch ein Kriegsroman im engeren Sinne.

Die Handlung folgt der Kindheit und dem frühen Erwachsenenleben des 1891 geborenen Urbain Martien, der sich im Laufe seines Lebens sowohl als sensibler und sentimentaler Kunstliebhaber als auch als konservative, pflichtbewusste Kämpfernatur präsentiert. Die Geschichte berichtet von den zahlreichen prägenden Erlebnissen Martiens, die er in seinen Notizbücher festhielt, allen voran vom frühen Tod seines asthmakranken Vaters, seinen ersten Versuchen in der Kunst und die Schrecken des ersten Weltkrieges. Diese erzählten Erinnerungen offenbaren die menschlichen Tragödien hinter dem Mann, der als Kriegsheld, Künstler und Familienvater doch nie erreichen konnte, was für ihn wirklich bedeutsam war.

Das im Titel angelegte Gegensatzpaar verdeutlicht bereits den Widerspruch, in dessen Zeichen das gesamte Buch steht: Der omnipräsente Konflikt zwischen Kunst und Soldatentum, zwischen Malerei und Grabenkämpfen, zwischen Krieg und Terpentin. Für den künstlerisch begabten Martien ist das Zeichnen eine Weise, die Welt wahrzunehmen und sie sich begreiflich zu machen, und bildet zugleich eine für ihn unersetzliche Verbindung zu seinem verstorbenen Vater, der ihm als Freskenzeichner schon früh die Liebe zur Kunst nahebrachte. Diese Kunst, eine idyllische Vorstellungswelt, die ihm Halt gewährt – während er von der erbarmungslosen Wirklichkeit stets eingeholt wird, in der er sich in seine Rolle als fähiger und gehorsamer Soldat fügen muss. 

Der Fokus der Erzählung liegt zwar deutlich auf der Person des Urbain Martien, doch gelingt dem Autor vor allem im ersten der drei Buchteile ein bemerkenswerter Balanceakt. Neben der Wiedergabe der ereignisreichen Kindheit seines Großvaters berichtet der Erzähler immer wieder von seinen eigenen Recherchen, Gedanken und Erinnerungen, die die Entstehung des Buches begleiteten. Diese erstaunlich wirksame Metafiktion erlaubt es dem Leser nicht nur, einen besseren Begriff für die Position des Autors zu entwickeln und eine kritische Haltung zum Gedankengut und den Handlungsweisen des Großvaters einzunehmen. Sie bildet auch eine mit Geschick konstruierte erzählerische Brücke, die die Gegenwart mit der Geschichte Urbain Martiens verbindet und diese so weitaus unmittelbarer wirken lässt.

Während der Erzähler sich bemüht, die Perspektive des Großvaters in ihrem Kontext zu erklären und einige Sichtweisen zu relativieren, zeigt er aufrichtiges Interesse an und eine große Ehrfurcht vor den Geschehnissen der Vergangenheit. Leider hat dies aber auf der anderen Seite zur Folge, dass der Erzähler gelegentlich in denselben übertrieben nostalgischen und sentimentalen Ton verfällt, der für seinen Großvater so charakteristisch ist.

Im zweiten Teil hingegen wandelt sich die Erzählweise deutlich. Die Kriegserlebnisse, denen dieser Teil des Buches gewidmet ist, werden ausschließlich aus der Perspektive Urbain Martiens wiedergegeben, ohne dass sich der Erzähler je einschaltet. Dies betont die besonders persönliche Färbung der Handlung und die Unmöglichkeit, diese als Außenstehender vollkommen nachempfinden zu können. Zugleich wird anhand des Schreibstils und der Wiedergabe von Ereignissen, von denen der Autor unmöglich gewusst haben kann, auch die Fiktionalisierung des Geschehens am deutlichsten erkennbar. Generell werden die geschilderten Ereignisse nur gelegentlich in ihren historischen Zusammenhang gestellt, die persönliche Perspektive überwiegt auch hier klar.

Dennoch fällt dieser Teil erzählerisch weniger stark aus als der erste. Die teils sehr grausigen, drastischen Schilderungen des Kriegsalltags und deren gekonnte Kontrastierung mit der bildenden Kunst verfehlen ihre Wirkung nicht. Der Autor greift aber immer wieder auf verbrauchte Sprachbilder zurück, neigt dazu, Geschehnissen einen übertrieben symbolischen und psychologischen Wert zuzuordnen und schildert Begebenheiten, die dem Leser aufgrund ihrer schieren Unwahrscheinlichkeit die Identifikation deutlich erschweren – selbst wenn sie auf wahren Erlebnissen beruhen sollten. Die Handlung wird zwar nie uninteressant, ihre Erzählweise aber wohl. 

Der dritte, vergleichsweise kurze Teil dient dem Erzähler vor allem dazu, die Geschichte abzurunden. Allerdings wird dabei noch auf einige wesentliche Stationen im weiteren Leben Martiens eingegangen, während der Erzähler seine eigenen Motivationen und Überlegungen darzulegen versucht. Vor allem Urbain Martiens Begegnung mit seiner über alles geliebten Verlobten Maria und ihr baldiger Tod hinterlassen in der Psyche des vom Leben geplagten Mannes weitere tiefe Spuren, deren Tragik der Erzähler mit aller Macht gerecht werden will. Die Auswirkungen auf seine Familiengeschichte, das weitere Leben seines Großvaters und sogar dessen künstlerisches Schaffen werden intensiv in den Blick genommen.

An vielen Stellen streuen Erzähler und Protagonist ihr breites Wissen über die Malerei, Musik und Kunst im Allgemeinen ein, was deren Bedeutung für den Werdegang Martiens deutlich untermalt. Generell baut ein Großteil der Erzählung auf Sinneseindrücken jeder Art auf und verleiht ihr sowohl eine ganz eigene Überzeugungskraft als auch eine gewisse dramatische Ironie; auf diese Weise wirken auch die in das Buch eingebetteten Photographien und Abbildungen, die die große Rolle des Bildes in der Handlung nochmals hervorheben und gleichzeitig den historischen Aspekt der Handlung betonen. Die Bilder sind überlegt platziert worden, sodass sie die Atmosphäre und den Erzählfluss eher bereichern als stören.

Die Übersetzung von Oorlog en Terpentijn ins Deutsche wird einige Herausforderungen mit sich bringen. Das klare Feinddenken Martiens gegenüber den Deutschen ist durch die historischen Umstände erklärbar, und für deutsche Leser könnte es gerade bereichernd sein, die Ereignisse des Ersten Weltkrieges durch die Augen des belgischen Soldaten zu sehen. Problematischer wird das Übersetzen der altertümlichen niederländischen Sprechweise in einigen Abschnitten sein, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt, sowie das historische Vorwissen zu Belgien, das im niederländischsprachigen Raum eher vorhanden ist als in Deutschland. (Dazu kommt die Wahl des voraussichtlichen deutschen Buchtitels Der Himmel meines Großvaters, durch den die treffsichere Originalität des Ursprungstitels komplett verloren geht.)

Vor allem eines muss dem Leser aber bewusst sein: Auch wenn Oorlog en Terpentijn ein größtenteils lesenswertes Buch ist, wird es doch nie einen Platz im Kanon der bedeutendsten Kriegsliteratur finden. Und der Grund dafür ist, dass Oorlog en Terpentijn in erster Linie ein Werk ist, das ein Menschenleben erzählt, und erst in zweiter Linie ein Buch über den Weltkrieg.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Stefan Hertmans: Oorlog en Terpentijn. Roman.
Bezige Bij, Amsterdam 2013.
333 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9789023476719

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