Wissenschaftshistorische Hintergründe eines literaturtheoretischen Klassikers

Claudia Löschners Analyse, Kontextualisierung und Rekonstruktion von Käte Hamburgers „Logik der Dichtung“

Von Frank ZipfelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Zipfel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Käte Hamburgers Logik der Dichtung (LdD) gilt auch heute noch, mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem ersten Erscheinen, als ein Klassiker der modernen Literaturtheorie. Auch wenn Hamburgers Versuch, eine systematisch begründete Theorie der Literatur aus deren Verhältnis zum allgemeinen Sprachsystem zu entwickeln, heute nicht mehr im Zentrum der literaturtheoretischen Diskussion steht, werden bestimmte Aspekte ihrer LdD nach wie vor international rezipiert und diskutiert, z. B. im Zusammenhang mit der neueren Diskussion zur Infragestellung des Konzepts des fiktiven Erzählers für heterodiegetische Fiktionserzählungen.[1] Allerdings ist Hamburgers LdD, auch wenn sie für viele inspirierend gewirkt hat und wirkt,[2] in manchen ihrer Aussagen nach wie vor schwer verständlich und die Kontroverse der 1960er und 1970er Jahre darüber, wie Hamburgers Theorie zu verstehen sei und ob sie zu substantiellen Einsichten über Literatur führe, ist zwar abgeflaut, jedoch keineswegs abschließend gelöst. So erscheint es durchaus begrüßenswert, dass Claudia Löschner sich mit ihrer Dissertation vorgenommen hat, durch eine Aufdeckung der theoretischen Hintergründe den Leserinnen das Verständnis der LdD zu erleichtern.

Löschner geht davon aus, dass die Kontroversen um die LdD daher rühren, dass Hamburgers Theorie bisher nicht richtig oder nur teilweise verstanden wurde. Die Verständnisschwierigkeiten seien darin begründet, dass in der „Architektur der Argumentation tragende Teile nicht sichtbar“ würden und Hamburgers Theorie nicht verstehbar sei, wenn man „die stillschweigenden Voraussetzungen der Logik der Dichtung“ nicht kenne (8). Diese Verständnisprobleme möchte Löschner beseitigen, indem sie die verborgenen theoretischen Hintergründe von Hamburgers Gedankengängen ans Licht bringt, und zwar durch eine „Analyse, Kontextualisierung und Rekonstruktion“ von Hamburgers Klassiker.

In ihrem Versuch einer wissenschaftshistorischen Kontextualisierung macht Löschner insgesamt fünf verschiedene Hintergründe aus, welche den Gedankengang der LdD implizit bestimmen, die von Hamburger aber gar nicht oder nur am Rande thematisiert werden: 1) den Marburger Neukantianismus (Hermann Cohen, Ernst Cassirer, Paul Natrop), 2) die Existenz- bzw. Sinnphilosophie (Karl Jaspers, Paul Hofmann), 3) die Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Max Dessoir), 4) die Denkpsychologie der Würzburger Schule sowie die Gestaltpsychologie der Berliner Schule (Oska Külpe, Karl Bühler) und 5) die Romantikforschung (Fritz Strich, Joseph Körner).

In fünf Kapiteln versucht Löschner nun, diese Hintergründe für eine Erläuterung und ein vertieftes Verständnis der LdD fruchtbar zu machen. Die Einteilung in fünf Kapitel orientiert sich jedoch nicht an den verschiedenen theoretischen Präsumtionen, sondern an den Grundbegriffen von Hamburgers Theorie: Logik, Erzählfunktion, Subjekt/Existenz, Sprach- bzw. Aussagentheorie und Wirklichkeit bzw. Nicht-Wirklichkeit.

Im ersten Kapitel thematisiert Löschner den Ausgangspunkt der LdD, insbesondere die Frage, wie die Rede von einer Logik der Dichtung besonders in Abgrenzung zur Ästhetik zu verstehen sei. Löschner konstatiert, dass der Ausgangspunkt, das Erkenntnisinteresse und die disziplinäre Verortung der LdD von Hamburger nicht klar ausformuliert werden, und stellt die These auf, das von Hamburger postulierte logische System sei als eine „in den Begriffen des Neukantianismus und der Denkpsychologie formulierte Strukturtheorie des menschlichen Geistes“ (24) zu verstehen.

Das Konzept der „Erzählfunktion“ bildet das Zentrum des zweiten Kapitels. Löschner vertritt die Ansicht, dass Hamburger „Funktion“ nicht in einem alltagssprachlichen, sondern in einem mathematischen Sinn verwende. Die „Erzählfunktion“ sei nicht als Mittel oder Technik des Erzählens zu verstehen, sondern als „Zuordnungsvorschrift“, d.h. als „eine […] unpersönliche Beziehung, die zwischen erzeugender Sprache und dem erzeugten gedanklichen Fiktionsgebilden besteht“ (36). Insofern sei für Hamburger Fiktion nicht wie für viele andere als „kommunizierte Kommunikation“ zu konzipieren, sondern als Entfaltung „einer fiktiven umgebenden Welt und eines erlebenden Bewusstseins“ (46). Als sprachtheoretischen Hintergrund solcher Vorstellung arbeitet Löschner eine Abwandlung der Bühlerschen Feldlehre der Sprache heraus.

Im dritten Kapitel, das den etwas kryptischen Titel „Existenz, Differential, Integral“ trägt, thematisiert Löschner einerseits weiterhin den mathematischen Hintergrund der LdD und andererseits die Bedeutung der Existenzphilosophie für Hamburgers Theorie. Die Autorin verortet Hamburger in einer philosophischen Tradition, in der mathematische Konzepte zur Aufschlüsselung von geistigen Phänomenen verwendet wurden, z.B. die Infinitesimalrechung zur Modellierung von Bewusstseinsprozessen. In einer gewissen Spannung hierzu sieht Löschner die Tatsache, dass Hamburger den Subjekt-Begriff durch den der Existenz ersetze. So werde das Konzept der Jetzt-Hier-Ich-Origo, das Löschner den neokantianischen und szientistischen Tendenzen der LdD zuordnet, unerwarteterweise mit einem von Jaspers inspirierten Existenz-Begriff überblendet. Damit basiere Hamburgers Theorie auf einem Konzept des Subjektiven, bei dem es um „individuelles Welt- und Werterleben“ und einen „emphatisch herausgehobenen Begriff von Existenz“ gehe (75).

Das vierte Kapitel widmet sich Hamburgers Theorie der Sprache als Theorie der Aussage und deren so genannter existenziellen Pointe. Letztere besteht wohl darin, dass eine Wirklichkeitsaussage unabhängig von der Abstraktheit ihres Inhalts immer als Aussage eines realen Aussagesubjekts, eines konkreten Menschen in Raum und Zeit begriffen wird und dass die Haltung dieses Subjekts in der sprachlichen Form der Aussage erkennbar wird. Für die Fiktion bedeute das, dass „die Interaktion zwischen Bewusstsein und Sprache so unmittelbar vor sich geht, dass der logische Status des Gesagten, ob eine als wirklich oder fiktiv gemeinte Erzählung vorliegt, sich in den grammatischen Strukturen der entstehenden Sätze niederschlägt“ (130).

„Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit“ ist das fünfte Kapitel überschrieben. Als grundlegend für Hamburgers Wirklichkeits-, Erkenntnis- und Sprachverständnis arbeitet Löschner im Laufe ihrer Arbeit mehrfach heraus, dass Hamburger Wirklichkeit als Realität des erlebenden Bewusstseins verstehe und Sprache im Konzept der Wirklichkeitsaussage nicht als Medium der Kommunikation, sondern „als Medium der Erkenntnis, des erkennenden und erlebenden Bewusstseins, als ‚Medium des spezifischen menschlichen Lebens’“(133). Nicht-Wirklichkeit wird dann zum „kontradiktorischen Gegensatz“ (137) von Wirklichkeit erklärt. Diese Nicht-Wirklichkeit als Gegenstand fiktionalen Erzählens ergibt sich aus dem Verschwinden eines realen Aussagesubjekts, eine Tatsache, welche die Fiktion kategorial von anderen sprachlichen Äußerungen unterscheidet. Dabei entsprechen den beiden Verwendungsweisen von Sprache, Wirklichkeitsaussage und fiktionale Darstellung, zwei Funktionen des Geistes: Erkennen (von Wirklichkeit) und Erzeugen (von Nicht-Wirklichkeit). Neben Ausführungen zu den aus diesen Annahmen ableitbaren sprachlogischen Grundformen geht Löschner in diesem Kapitel auch auf das Konzept des „Leseerlebnisses“ ein, das sie ebenfalls als zentral für Hamburgers Theorie ansieht. Es wird dargelegt, dass im Rahmen des von Hamburger vertretenen Subjektbegriffs nur im fiktionalen Erzählen andere Menschen als Subjekte (und nicht als Objekte) erlebbar werden. Löschner ist nun der Ansicht, dass aus der Abwesenheit eines realen Aussagesubjekts beim fiktionalen Erzählen folge, dass auch der Leser im Leseerlebnis sein an Zeit und Raum gebundenes Ich verliere.

In ihrem Abschlusskapitel unterstreicht Löschner die bisher in ihren Ausführungen eher am Rande auftauchende These, dass ihre Kontextualisierung eine Deutung der LdD sei, die Hamburgers Konzept eines Denksystems in den Vordergrund stelle. Nach Löschners Auffassung ist LdD letztlich als „Beitrag zum Problem der Erkenntnistheorie“ (169) konzipiert – was immer diese etwas vage Formulierung bedeuten soll. Etwas unvermittelt und im Kontrast zu der Bewunderung, welche in den vorigen Kapiteln implizit zum Ausdruck kommt, setzt Löschner in diesem Kapitel zu einer kritischen Distanzierung von Hamburgers Theorie an, indem sie ihr ein Scheitern der Theorie in der Praxis und eine antimodernistische Literaturauffassung vorwirft. Schließlich wird Hamburgers Position als Variation der aristotelischen Aussage, dass die Literatur philosophischer sei als die Geschichtsschreibung, interpretiert. Nach dem Schlusskapitel fügt Löschner noch eine Zusammenfassung der Ergebnisse an, die erstens aus einer Liste von vier impliziten Voraussetzungen von Hamburgers Theorie und zweitens aus dem Versuch besteht, die LdD auf acht Grundzüge der Argumentation herunterzubrechen.

Im Hinblick auf die Bewertung der Ergebnisse von Löschners Untersuchung lassen sich zwei unterschiedliche Perspektiven einnehmen, eine wissenschaftshistorische und eine interpretatorische. Aus einem wissenschaftshistorischen Blickwinkel ist nicht zu leugnen, dass Löschner eine ganze Reihe von impliziten Voraussetzungen der LdD aufdeckt und es ihr gelingt, den geistesgeschichtlichen Kontext von Hamburgers Theorie differenziert zu beschreiben. Aus interpretatorischer Perspektive sind die Ergebnisse von Löschners Untersuchung daran zu messen, inwiefern sie dazu beitragen, das Verständnis der LdD tatsächlich zu befördern. Auch hier ist einiges auf der positiven Seite zu verbuchen: Man gewinnt einige vertiefte Einsichten in Hamburgers Sprachtheorie sowie in ihre Wirklichkeitsauffassung und damit auch in ihr Konzept der Fiktion. Wie weit diese Einsichten über eine intensive textimmanente Beschäftigung mit der LdD hinausgehen, ist allerdings schwer zu sagen. Das hängt auch damit zusammen, dass Löschner sich grundsätzlich darauf beschränkt, Hamburgers Aussagen aus ihrem philosophiegeschichtlichen Kontext herzuleiten. So scheint eine These, wie z. B. die, dass Hamburger den Begriff der Funktion mathematisch verstehe, durchaus erhellend. Löschner begnügt sich jedoch damit eine solche Begriffsverwendung festzustellen bzw. die Kontexte, aus denen sie stammt, zu benennen und führt nicht explizit aus, wie diese These das Verständnis der LdD verändert und verbessert. Ungeklärt bleibt z. B., wie die „Handhabung“ einer solchen Funktion in diesem Zusammenhang zu verstehen ist.

Auch scheint Löschner ihre Aufgabe ausschließlich darin zu sehen, mit Hilfe der wissenschaftshistorischen Kontexte nachzuweisen, dass Hamburgers Gedankenführung in sich widerspruchsfrei sei und damit Vorwürfe, wie die Argumentation sei lückenhaft oder inkohärent, zu entkräften. Die Frage, inwiefern die vorgelegte Kontextualisierung, Analyse und Rekonstruktion hilft, den positiven Erkenntnisgewinn der LdD zu bewerten, wird nicht gestellt. Symptomatisch für die Schwierigkeit zu klären, inwieweit der Leserin durch Löschners Untersuchung das Verständnis der LdD erleichtert wird, erscheint mir die Tatsache, dass die acht Grundzüge von Hamburgers LdD, die das interpretatorische Ergebnis der Untersuchung zusammenfassen sollen, teilweise recht unklar formuliert sind und damit der Verständnisgewinn nur bedingt nachvollziehbar wird. Es kommt hinzu, dass die ausführliche Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen Hintergründen von Hamburgers Theorie nicht selten dazu führt, dass die Formulierungen der Ergebnisse sehr stark in dem jeweiligen philosophischen Jargon verankert bleiben und damit zuweilen ebenso hermetisch anmuten wie manche von Hamburgers eigenen Thesen.

Der Endredaktion des Buches hätte man etwas mehr Sorgfalt gewünscht, dann hätten wohl unstrukturierte seitenlange Absätze, welche die Lektüre erheblich erschweren, ein paar seltsame Wortzusammenstellungen und Unachtsamkeiten wie die Nummerierung des 6. Kapitels mit der römischen Zahl IV (sowohl im Inhaltverzeichnis wie auch im Text) vermieden werden können. Auffällig ist auch die große Anzahl von Redundanzen sowohl innerhalb des Textes wie auch zwischen Text und Fußnoten. Ohnehin bleibt unklar, warum manche interpretatorischen Aussagen in die Fußnoten verbannt werden und andere eher kolportageartigen Aussagen im Haupttext stehen. Die Menge der Redundanzen ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass die Autorin in den jeweiligen Kapiteln zwar gewisse Schwerpunkte entwickelt, diese jedoch durch Vor- und Rückgriffe ansatzweise wieder auflöst, so dass sich letztlich in jedem Kapitel Aussagen über jeden der behandelten Grundbegriffe der LdD wiederfinden. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die Abfolge der einzelnen Kapitel letztlich unbegründet bleibt, auch wenn die Autorin versucht, sie in der Einleitung als eine Art Denkentwicklung vorzustellen. Bedauerlich ist schließlich, dass Löschner die internationale Rezeption von Hamburger LdD allenfalls streift und nicht in ihrer Vielfältigkeit wahrnimmt, auch wenn dies nicht im unmittelbaren Zentrum ihres Interesses stand.

Insofern bietet die Arbeit eine Reihe von wissenschaftshistorischen Einsichten und einiges Material, auf dessen Basis sich eine Neulektüre der LdD lohnen wird. Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, zu welchen neuen literaturtheoretischen Einsichten eine solche Wiederbeschäftigung mit der LdD führen kann.

Anmerkungen:

[1] Vgl. z. B. Sylvie Patron: Le narrateur. Introduction à la théorie narrative. Paris 2009, Kap. 7.

[2] Vgl. als zwei unter vielen die Bezugnahmen von G. Genette (z. B. in Fiction et diction, Paris 1991) und die neue evolutionspsychologische Deutung von K. Mellmann (Katja Mellmann: Gibt es einen epischen Modus? Käte Hamburgers Logik der Dichtung evolutionspsychologisch gelesen, in: Endre Hárs/Márta Horváth/Erzsébet Szabó (Hg): Universalien? Über die Natur der Literatur. Trier 2014, 109-130).

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Claudia Löschner: Denksystem. Logik und Dichtung bei Käte Hamburger.
Ripperger & Kremers Verlag, Berlin 2013.
240 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783943999020

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