Leise und spektakulär unspektakulär

Judith Hermann, die Apologetin der Kurzgeschichte, hat ihren ersten Roman geschrieben

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judith Hermann hat einen Roman geschrieben. Die bekennende Kurzgeschichten-Autorin und Bewundererin von Alice Munro, die zeitlebens keine Romane schrieb und doch große Literatur schuf, hat nun mit „Aller Liebe Anfang“ die Form gewechselt. Und ist sich – zum Glück – treu geblieben. Denn was ihre Erzählungen auszeichnet, diese ungeheure Verdichtung des Alltäglichen, die lakonische Sprache und die Beiläufigkeit, mit der sie Lebenswelten und Personen in ihrem Wesen erfasst, zeichnet auch diesen Roman aus. Unverkennbar, dieser Rhythmus und dieser Ton: leise und spektakulär unspektakulär.

Ein Ort, irgendwo. Eine ältere Vorortsiedlung, die nicht weiter beschrieben wird. Ein einfaches Haus am Stadtrand. Hier wohnen Stella, Jason und ihre kleine Tochter Ava. Jason baut Häuser und ist häufig unterwegs. Stella arbeitet als Krankenpflegerin, ihre Patienten leben auf der anderen Seite der großen Straße, in der neuen Siedlung. Auf dem Weg zur Arbeit bringt Stella Ava in den Kindergarten. Alle Wege kann sie mit dem Fahrrad zurücklegen. Ihre Welt hat – äußerlich – einen kleinen Radius, anders als Jasons, der weite Strecken absolviert. Jason hat das Haus gekauft, als Stella schwanger war. „Ein Haus für eine Familie. Kein Haus für immer. Wir werden hier auch wieder wegziehen, sagt Jason, wir werden weiterziehen.“ So geschieht, was geschieht, in einem „Zustand von ungewisser Dauer“.

Fest verortet und doch scheinbar losgelöst, wie schwebend, wird hier eine Episode ihres Lebens aus Stellas Sicht beschrieben. Stella, die außer ihrer kleinen Familie nur eine einzige Freundin hat, Clara, mit der sie früher zusammenwohnte und der sie regelmäßig Briefe schreibt, pendelt zwischen Haus und Arbeit. Sie begegnet ihren Patientinnen und Patienten mit Achtung und Achtsamkeit, ist (fast) erfüllt von ihrem einfachen Leben, dessen Mittel- und Bezugspunkt das Kind ist. Ein friedliches Leben, in dem es aber doch kleine Brüche und (ganz leise) Zweifel gibt. Und manchmal die Furcht vor einer Katastrophe, etwas Großem, Gestaltlosen, das vielleicht auch ein Wunsch, „eine wilde Sehnsucht“ ist.

Kostbar und ungeschützt ist dieses Leben. Ungeschützt wie Stella, die abends in ihrem Sessel am großen Panoramafenster des Wohnzimmers liest „und sich nicht darum schert, dass sie nach Anbruch der Dunkelheit in diesem Sessel wie auf einer Bühne sitzt“. Wo sie doch andererseits froh ist um den schmiedeeisernen Zaun mit dem schmiedeeisernen Tor zur Straße hin – ein Zaun, den Jason gleich abreißen wollte, doch „glücklicherweise ist er noch nicht dazu gekommen“. Denn Stella findet Grenzen wichtig, „Abstand, Raum für sich selbst“.

Soweit die Vorstellung dieser kleinen Welt, die keineswegs zur Idylle wird, zu nüchtern wird hier protokolliert. Eine Exposition, die den Riss, die Gefährdung kunstvoll vorwegnimmt in aller Beiläufigkeit. Denn in das friedliche Leben von Stella, Ava und Jason tritt Mister Pfister, ein Nachbar, der sich unbedingt Zutritt verschaffen möchte zu dieser Welt, der plötzlich auftaucht (obwohl er immer schon da war), immer wieder kommt, klingelt, Briefe schreibt, permanent anwesend ist. Der vor dem Haus steht, als unerwünschte Konstante und wiederkehrende Störung. Eine hartnäckige Bedrohung.

Judith Hermanns Version einer Stalking-Geschichte ist – natürlich – leise, das Gegenteil von reißerisch. Dafür ist sie voller Nuancen. Zum Beispiel in der unterschiedlichen Art, wie Stella und Jason mit dieser Störung umgehen, in der kaum merklichen Spannung zwischen den beiden, die untergründig vielleicht schon immer da war. Die sich aber nicht ins Ungute kehren muss. Keine Katastrophe, nicht wirklich, kein jäher Abgrund. Aber ungeheure Tiefe.

Nichts wird dramatisiert, leicht und schwerelos schwebt die Sprache über den Dingen, auch über den schrecklichen. Denn das Schwere, das Leiden wird ja nicht geleugnet. Stellas Patientinnen und Patienten beispielsweise haben schwere Schicksale, sind unheilbar krank. Sie sterben. Und müssen mitten im Sterben auch noch ihr Zuhause verlassen. „Es ist so“ – mit diesen Worten beginnt der Roman. Und steht wie ein Motto über der Prosa Judith Hermanns. Es wird konstatiert, als pure Wahrnehmung. Bedauert wird nichts, allenfalls hinterfragt. „Es ist möglich, Orte zu verlassen, Versprechungen fallen zu lassen“, heißt es später, „und sie empfindet keine Sehnsucht. Das bedeutet, sie könnte immer wieder gehen.“ So ist es.

Titelbild

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
220 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100331830

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