Werkstatt im Wandel

Ein Sammelband weist auf Phänomene des Medienwechsels aus der Sicht der Editionswissenschaft hin

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Jahrzehnten schon segelt die Editionswissenschaft in den nebelverhangenen Gewässern des digitalen Wandels, und doch ist das rettende Ufer noch nicht in Sicht. Der Ruf nach Standardisierungen erschallt immer wieder, doch zugleich kann es gar nicht anders sein, als dass Editionstheorie projekt- und fallspezifisch generiert und revidiert wird. Keine Edition ist heute mehr möglich ohne die Frage, welche digitalen Komponenten nicht nur den Editoren allein, sondern auch den Nutzern zur Verfügung gestellt werden sollen. Ob Retrodigitalisierung, Hybridedition oder ob ein Format born digital zum Einsatz gelangt – alle Editoren experimentieren. Da in einer pluralistisch verfassten und sinnvollerweise von Konkurrenzen geprägten Wissenschaftslandschaft der Standard nicht durchsetzbar ist, hat sich in den letzten Jahren das Feld eher verbreitert als vereinheitlicht. Die Beiträge des hier vorzustellenden Sammelbandes gehen aus einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition im Jahr 2010 hervor, doch sind sie trotz des rapiden technischen Wandels auch heute größtenteils noch aktuell.

Medienwechsel ist ein grundsätzliches Charakteristikum der Editionspraxis, findet doch stets die repräsentierende Transformation eines Zeichenensembles in ein neues Zeichensystem statt. Auch die Objekttexte unterlagen in ihrem Entstehungs-, Verwertungs- und Überlieferungsprozess vielfältigen Medienwechseln, häufiger etwa im Zusammenhang von (Theater-) Aufführungen. Darüber hinaus liegt es natürlich nahe, bei ‚Medienwechsel‘ vor allem an das digitale Medium und seine Chancen für Editor/innen zu denken. Damit befassen sich auch die meisten der insgesamt 22 Beiträge, keiner davon übrigens gibt sich medien- oder digitalisierungsskeptisch. Der eine freilich ist etwas konservativer ausgerichtet, der andere gibt sich offensiv digitalisierungsfreudig.

Rüdiger Nutt-Kofoth etwa überrascht in seinem hoch kompetenten Aufsatz mit der Feststellung, die durch digitale Editionen ermöglichte medien(!)technologische Innovation benötige keine editionstheoretische Refundierung, vielmehr böten die von der Editionswissenschaft angebotenen Modelle für die Buchedition die Grundlage auch für digitale Editionen. Dies mag auf manch ein Merkmal bis hin zu dem schon 1985 durch Hans Zeller angemahnten Baukastenprinzip zutreffen; gerade etwa die Multimedialität des Edierens, die jetzt möglich ist und Text, Bild, Ton, Objekt einzubeziehen vermag, konnte im Buch aber lediglich plan deskriptiv angedeutet, nicht  jedoch realisiert werden. Weder Konzepte für Interaktivität noch solche für Alinearität konnten gedruckte Editionen tatsächlich provozieren oder gar verwirklichen. Peter Stadlers nur aus technischen Gründen und somit vorläufig etwas resignativ wirkender Titel „Die Grenzen meiner Textverarbeitung bedeuten die Grenzen meiner Edition“ bieten Nutt-Kofoth Paroli. Auch wenn es sich um eine bereits „alte Verheißung der digitalen Medien“ handelt, „aus einem maximal reichen Archivformat beliebige Ansichten/Präsentationen zu generieren“, dann ist doch nach wie vor evident, dass es an der technischen Konzeptualisierung liegt, diese Verheißung zu verwirklichen und somit die Buchedition qualitativ hinter sich zu lassen.

Der Begriff der Archivedition gestattet in Nutt-Kofoths Beitrag den Brückenschlag zwischen längst schon formulierten Plädoyers zugunsten von Vorläufigkeit, Materialzentriertheit, vermeintlichem Verzicht auf Vorentscheidungen und interessengeleitetem Edieren. Eine Art Archivedition war im Grunde schon die Weimarer Goethe-Ausgabe – will man den Begriff weit fassen und setzt man die innovative Kraft in der gegenwärtigen Edition als eher gering an, dann kann dies behauptet werden. Auch jene Editoren waren im Archiv tätig – doch die Grenzen von archivarischer Erschließung einerseits und Textkonstitution und -präsentation andererseits blieben gewahrt, während viele der heute in Arbeit befindlichen literatur- und musikwissenschaftlichen Editionen diese Grenzen überschreiten möchten und auch den fachlich kompetenten Nutzer in die editorische Arbeit interaktiv einbeziehen wollen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass viele der Beiträge des Bandes Projektdesigns bieten. Nun wäre es ein Leichtes, die Pläne von 2010 an ihren Verwirklichungen zu messen und mithilfe von Google herauszufinden, was aus den Projekten von damals geworden ist. Fairer scheint es mir, die mehreren Artikeln gemeinsamen Tendenzen kurz aufzugreifen. So bietet das digitale Medium für die musikwissenschaftliche Edition erstmals überhaupt den ‚Platz‘, um Varianten einzubeziehen und nicht nur die eine, authentische Fassung zu favorisieren. Immer wieder ist von Auszeichnungsstandards die Rede – XML-TEI war auch 2010 schon grundsätzlich Standard, die Problematik der unvermeidlichen projektspezifischen Varietäten wurde damals genauso diskutiert wie heute. Textgrid war längst am Horizont aufgetaucht, die Debatte über mustergültige Software war damals so wenig entschieden wie sie es heute ist.

Spannend sind Ansätze zur Reflexion multimedialer Edition oder eben zur Edition in bestimmten vernachlässigten medialen Bereichen. Toni Bernhart denkt über ‚Audioedition‘ nach – mittlerweile ist Anna Bohns zweibändiges Werk zur Filmedition erschienen, das gut hierher passen würde. Wolfgang Lukas zeichnet die plurimediale Autorschaft Paul Wührs anhand von dessen O-Ton-Hörspielen nach, die in vielen Stufen das auditive Medium, Text, aber im Grunde auch Bild (in der Handschrift nämlich) durchlaufen und irgendwann im Buch ankommen. Hierzu das Konzept einer multimedialen Edition zu entwickeln, wäre so reizvoll wie technisch unabsehbar – in jedem Fall aber wird es künftig solche Konzepte geben.

Open Access-Editionen können ihre Prozesshaftigkeit ausstellen – zum Gewinn der Nutzer, gewiss auch zu dem der Editoren, die Kritik frühzeitig in Empfang nehmen und darauf reagieren können. War es bis vor kurzem verpönt, ‚Unfertiges‘ preiszugeben, so ermutigt das Medium heute dazu, alle Interessierten an der Genese einer Edition teilhaben zu lassen. Das ist nicht Nabelschau, sondern erweiterte Teamarbeit. Andrea Hofmeister-Winter plädiert aus der Sicht eines in vielen Schritten langsam, aber gut vorangekommenenen Editionsprojekts, des „Brixner Dommesnerbuches“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, dafür, die für Editoren „ohnehin obligatorische[n] Arbeitsschritte […], zu konservieren und der gedruckten Edition in geeigneter Form (am besten elektronisch) beizugeben“. Zwischenstufen editorischer Arbeit nicht einfach zu überschreiben ist sinnvoll etwa dort, wo Edition bedeutet, in einem reduktiven Prozess maximalen Detailreichtum der Quelle herunterzutransformieren zu einer pragmatisch motivierten Beschränkung der Transkription oder Transliteration auf das für das gesamte Korpus zu Leistende. Der Nutzer kann anhand des editorischen Bewusstwerdungsprozesses die im Laufe der Arbeit getroffenen Entscheidungen am Material selbst nachvollziehen.

Bei so viel Wandel mag man es tröstlich finden, dass es in der Arbeit des Autors und des Editors auch Konstanten gibt. Eine der sicht- und greifbaren, somit für die Schreibszenenforschung auch auswertbaren hat für seinen Beitrag Bodo Plachta ausfindig gemacht: den Schreibtisch.

Titelbild

Anne Bohnenkamp-Renken (Hg.): Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft.
Beihefte zu Editio.
De Gruyter, Berlin 2012.
270 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110300260

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