Erst die Literatur, dann die Politik

Miriam Seidler hat einen lesenswerten Sammelband zu „Martin Walser im Kontext der Literatur nach 1945“ herausgegeben

Von Wolfgang M. SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang M. Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sich mit Martin Walser zu beschäftigen, heißt, sich zunächst mit einer Person des öffentlichen Lebens zu beschäftigen und dann erst mit einem Schriftsteller. Dabei ist Walser selbst oft der Autor seiner medialen Figur, und die Literaturkritiker, Intellektuelle und Feuilletonisten arbeiten diesem Image zu. Es ist daher ein Verdienst des von der Literaturwissenschaftlerin Miriam Seidler herausgegebenen Sammelbandes „Wörter für die Katz? Martin Walser im Kontext der Literatur nach 1945“, dass die Aufsätze primär von seinem Werk handeln; wobei, wie Seidler in der Einleitung ausführt, das Persönliche und Politische bei einem Autor wie Walser nicht voneinander getrennt werden können, weil das eine das andere bedingt.

„Es gibt noch Bücher zu lesen jenseits der Zeitungen“, sagte einmal ein anderer großer Skandalschriftsteller, Peter Handke, und diesem Credo folgen die Autoren des Sammelbandes, ohne aber dass daraus ein Brevier für Walser-Liebhaber wird. Hervorgegangen sind die Texte aus Vorträgen, die anlässlich einer Tagung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Jahr 2010 gehalten wurden.

Die Öffentliche Meinung und Martin Walser pflegen seit den 1950er – Jahren eine komplizierte Beziehung, die jedoch als leidenschaftlich bezeichnet werden kann. Auf die scharfen Urteile der Literaturkritik, allen voran die apodiktischen Verisse Marcel Reich-Ranickis, wird daher in beinahe jedem Aufsatz verwiesen. Haben sie doch die Rezeption des Walser’schen Werks enorm geprägt und häufig auch die Interpretationen der Literaturwissenschaft bestimmt. Die Fehde mit Reich-Ranicki begann bereits in den 1960er – Jahren und wurde von Walser bereits ange vor „Tod eines Kritikers“ literarisch verarbeitet, wie Seidler in ihrem Aufsatz „Tagtraum eines Erzählers“ zur Rezeptionsgeschichte des dramatischen Werks nachweist. Seidlers Untersuchung zeigt, dass – im Übrigen ganz wie im skandalträchtigen Schlüsselroman – der Starkritiker nur der Aufhänger für eine generelle Kritik an der zeitgenössischen Theaterkritik und auch am Theater als Institution ist. Das dramatische Werk Walsers, so Seidler, frage erneut, was das Theater überhaupt vermag.

In gleich drei Aufsätzen wird der Themenkomplex der Vergangenheit und des Erinnerns bei Walser analysiert. „Gattungskritik und Gesellschaftskritik“ verbinden sich in „Das Einhorn“, wie Anita Gröger erzähltheoretisch nachweisen kann. Die eng an die Erinnerungsarbeit geknüpften Heimattopoi in „Verteidigung der Kindheit“ und „Ein springender Brunnen“ arbeitet Friederike Eigler in ihrem Beitrag heraus. Auch wenn Eigler ankündigt, das Hauptaugenmerk auf die poetologische Dimension zu legen, zeigt sie darüber hinaus, wie die Heimattopoi sich „auf überraschend ungebrochene Weise ins Nationale ausweiten“. Etwas problematisch ist Rosa Pérez Zancas’ Vergleich von „Ein springender Brunnen“ mit Ruth Klügers „weiter leben“, bei dem Walsers Ausblenden des Auschwitz-Diskurses erzähltheoretisch gerechtfertigt beziehungsweise entschuldigt wird. Walser konstruiere „eine Kindheitsgeschichte, die den Auschwitz-Diskurs implizit beim Leser voraussetzt“. Zancas Rezeptionsvorschlag lautet daher: „Deshalb sollten seine literarischen Texte nur im Zusammenhang mit seinen Reden und Essays rezipiert werden, die einen Weg zu einer neuen Form der Vergangenheitsaufarbeitung markieren.“

Es scheint so, als bräuchte Walsers Roman einige von ihm verfasste Gebrauchsanweisungen. Hier offenbart sich eine Schwäche des Sammelbandes, der zwar Walsers Werk nicht nur in Bezug auf den literarischen, sondern auch auf den zeithistorischen Kontext verhandelt, dabei aber die politologischen Untersuchungen zu den Diskursen um den Begriff der Nation, die Debatte um die Deutsche Teilung und die Wiedervereinigung nur am Rande erwähnt, die aber gerade für eine Analyse zur Form und Funktion des Erinnerns in Walsers Werk produktiv gemacht werden könnten.

Durch viele der Aufsätze zieht sich die Frage, inwieweit das den Texten Walsers angeheftete Etikett „gesellschaftskritisch“ nicht eher unzureichend und diffus bleibt, ja, es vielmehr von einer Verlegenheit der Rezipienten zeugt. So geht Dietmar Till in seinem Aufsatz „Kunst, Kommerz, Kritik“ dem gesellschaftskritischen Impetus in Walsers erstem Roman „Ehen in Philippsburg“ sehr differenziert nach. Der Roman thematisiere in erster Linie die kulturindustrielle Entwertung der Kunst, in dem diese für den sozialen Aufstieg funktionalisiert werde und „entweder schmückendes Beiwerk oder wiederum Gegenstand ökonomischer Verhältnisse“ sei. Till erläutert dies sehr präzise anhand der einzelnen Figuren, die ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama ergeben, indem die „Kunst als Dekoration“ fungiert. Auch die Dichterfigur Helmut Maria Dieckow, in der Stadt für seinen gesellschaftskritischen Schlüsselroman über die Philippsburger Verhältnisse gefeiert, sei, wie Till belegt, Teil des (ökonomisch-politischen) Spiels. Selbst das Schicksal der radikalsten Figur Bertold Klaff, eines arbeitslosen gescheiterten Dichters, wird als ein individuelles, nicht als ein systemisches gezeichnet. Walsers Text laufe so einer eindeutigen politischen Lesart zuwider, da selbst die als gesellschafts- beziehungsweise systemkritisch eingeführten Figuren schließlich vom Erzähler desavouiert würden: „Ehen in Philippsburg entwirft deshalb kein Gegenmodell, bietet keinen Ausblick auf eine ‚andere‘ Gesellschaft und damit auch keinen übergeordneten Standort, von dem aus im Roman Kritik geäußert werden könnte.“

Die Erzählstrategie des Romans, dessen vier Kapitel letztlich vier Geschichten seien, erfordere vom Leser eine Synthese und Bewertung, die die Kritik ermögliche, welche „im Text selbst nur zum Teil angelegt“ sei. Von einem gesellschaftskritischen Roman könne man deshalb aber nicht sprechen, auch, weil Walser zu viele brisante Themen der Adenauer-Ära, wie den Einfluss der Kirchen, die Wiederbewaffnung oder die Frage nach der deutschen Kriegsschuld, außen vor lasse. Tills Ergebnisse ließen sich sicherlich ohne weiteres auf andere Texte Walsers beziehen.

Den Schlussteil bilden zwei Aufsätze zu Walsers Goethe-Roman „Ein liebender Mann“. Henriette Herwig weist ausgesprochen fundiert die diversen intertextuellen Bezüge nach, mit denen Walser sein Goethe- und (wohl auch) sein Selbst-Bild entwirft. Goethes Fiktivtexte dienen Walser „unterschiedslos als Spielmaterial, als Steinbruch, aus dem er Brauchbares“ verarbeitet. Unverständlich aber bleibt der Aufschrei Herwigs am Ende: „Doch was, um Himmels willen, soll der Absturz in die Banalität der Morgenerektion des Mannes am Ende des Romans?“

Banal ist dies, wenn man Goethe mit den fiktiven Figuren aus anderen Walser-Romanen vergleicht, aber keineswegs. Tragische Größe konnte Walser – manchmal zum Preis der Lächerlichkeit – schon immer aus den allzu menschlichen Widrigkeiten gewinnen.

Nikolas Immer nimmt in seinem vorzüglichen Aufsatz das Goethe-Bild in Walsers Gesamtwerk in den Blick und kann mit etlichen neuen Einsichten aufwarten. „Ein liebender Mann“ markiert den vorläufigen Schlussstein einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Dichterfürsten, die selten affirmativ war, wenn Walser beispielsweise die unübersehbaren Parallelen seiner berühmten Novelle „Ein fliehendes Pferd“ zu den „Wahlverwandtschaften“ leugnete, und erst in seinem Altersroman von einem Streben nach Harmonie mit dem Klassiker geleitet wird.

„Wörter für die Katz?“, so fragte Walser einst nach der Wirkmacht von Literatur. Der interrogative Titel des Sammelbandes kann nach der Lektüre mit einem „Jein“ beantwortet werden. Ja, was die realpolitische gesellschaftsverändernde Komponente betrifft; nein, wenn man unter Literatur mehr als das verstehen will. Letzteres wissen die Beiträge kritisch zu würdigen.

Titelbild

Miriam Seidler (Hg.): Wörter für die Katz? Martin Walser im Kontext der Literatur nach 1945.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
204 Seiten, 42,80 EUR.
ISBN-13: 9783631606612

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