Exilant in der Sowjetunion, Tito-Faschist und Marxismusexperte

Zum Tod von Wolfgang Leonhard

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Der 1921 in Wien geborene Wolfgang Leonhard verbrachte seine Jugend in der Sowjetunion, nachdem er 1933 mit seiner Mutter über Schweden in das rettende Exil in die Sowjetunion gelangt war. Nach dem Krieg wurde Wolfgang Leonhard als 23-Jähriger im Mai 1945 in der Nähe der neuen deutsch-polnischen Grenze zwischen Frankfurt und Küstrin eingeflogen. Er gehörte jener „Gruppe Ulbricht“ an, die unter konspirativen Umständen im legendären Moskauer „Hotel Lux“ zusammengestellt worden war, um die Fäden für eine neue antifaschistische Ordnung zu knüpfen. Die DDR sollte Leonhard bis zu ihrem Ende im Jahr 1989 wie ein Schatten begleiten, obwohl er lediglich vier Jahre seines Lebens dort verbracht hatte. Ende 1949 floh der aktive Funktionär und Dozent der SED-Parteihochschule nach Jugoslawien. Ein damals unerhörter und bislang einziger Vorgang.

Leonhards ungewöhnliche Biografie bildete den Grundstock für seine lebenslangen Forschungen. Über Jahrzehnte hinweg überzeugte Wolfgang Leonhard in seinen Büchern und unzähligen Beiträgen, Gesprächs- und Diskussionsrunden als Experte für Fragen der kommunistischen Weltbewegung sowie der Entwicklung der politischen Systeme des „real existierenden Sozialismus“. Seine aufrichtige Sympathie galt dabei neben den Bürgerrechtlern in den sozialistischen Ländern den Ideen der tschechoslowakischen Reformkommunisten in den 1960er-Jahren, die unter Alexander Dubček im „Prager Frühling“ von 1968 für wenige Monate zur Wirklichkeit geworden waren. Es kennzeichnete die Logik des Neostalinismus, dass dieser Reformversuch mit Waffengewalt niedergeschlagen worden war. Obwohl Wolfgang Leonhard im Westen lebte, stand er dennoch im Visier der Chefideologen des „realen Sozialismus“. In seinem Buch „Meine Geschichte der DDR“ (2007) berichtete Leonhard, dass ihn Rudi Dutschke einmal während einer Begegnung in Hamburg lauthals als „Tito-Faschist“ tituliert hatte, und er zitiert den ehemaligen APO-Aktivisten: „Das ist doch der schönste Titel, den man von den miesen Dogmatikern in Moskau verliehen bekommen kann. Um mich zu kritisieren, hat man schon zu den verschiedensten Bezeichnungen gegriffen, aber ‚Tito-Faschist‘ fehlt mir in meiner Liste. Ich beneide Wolfgang darum“.

Vierzig Jahre nach seinem Bestseller „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ legte Wolfgang Leonhard mit „Spurensuche“ (1992) eine subjektive Bilanz des zusammengebrochenen „real existierenden Sozialismus“ vor. Er hatte hohe DDR-Funktionäre wie Erich Honecker, Markus Wolf oder Walter Ulbricht von seinen früheren Jahren als Funktionär persönlich gekannt. In seiner charakteristisch spannend gehaltenen Weise ermöglichen Leonhards Porträtbeschreibungen Rückschlüsse auf deren politische Handlungen. Zugleich gelang es ihm, jene Grenze zur kritischen Einsicht zu markieren, die diese nicht zu überschreiten vermochten. Vor dem Hintergrund einer feststellbaren zunehmenden Verharmlosung der SED-Diktatur forderte Leonhard eine kritische Aufarbeitung ein.

Zu seinem letzten Buch „Anmerkungen zu Stalin“ (2009) fühlte sich Wolfgang Leonhard veranlasst, da er mit tiefer Bestürzung im heutigen Russland eine unreflektierte und von Verdrängung und Verzerrung geprägte Rehabilitation der historischen Rolle Josef Stalins beobachtete. Gerade im heutigen Russland findet sich jene unselige ideologische Aufteilung zwischen sogenannten Patrioten und Volksfeinden wieder. Wolfgang Leonhards nüchterne Bilanz fällt eindeutig aus: „Solange die Verbrechen Stalins nicht als Teil der eigenen Geschichte anerkannt werden, ist der Weg zu einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft in Russland nicht möglich“. Am frühen Morgen des 17. August ist Wolfgang Leonhard im Alter von 93 Jahren verstorben.