Was ist sekundärer Antisemitismus?

Ein Florilegium mit Hinweisen auf weiterführende Analysen von Claudia Globisch und Samuel Salzborn

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert. Sie werden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk.

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944)

2014: Auschwitz wird ‚den Juden‘ immer noch nicht verziehen

Zu allererst: Der sogenannte sekundäre Antisemitismus ist nicht etwa ‚zweitrangig‘. Seinen Namen bekam er aufgrund rhetorischer Wandlungen in der judenfeindlichen Kommunikation nach 1945: Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz sollten ‚die Juden‘ nunmehr an allem schuld sein, wie es Henryk M. Broder einmal sarkastisch auf den Punkt brachte. ‚Sekundär‘ ist dieser Antisemitismus also nur darin, dass er nicht mehr auf die Leugnung von Auschwitz setzt. Er verleiht dem über 2.000 Jahren alten Judenhass lediglich mittels neu arrangierter Codes und Chiffren Ausdruck: Sie erlauben, die historische Tatsache der Shoah partiell in ein verkehrtes Weltbild zu integrieren, in dem ‚die Juden‘ auch weiterhin als Synonym für alles Unglück der Menschheit fungieren sollen.

Die Qualität und die Gefährlichkeit des Antisemitismus ist dadurch nicht etwa vermindert worden, sondern dieselbe geblieben. Mehr noch: Die Stärke des Ressentiments überdauerte selbst den beinahe gelungenen Versuch, das komplette europäische Judentum zu vernichten. Dies zeigt, wie schwer es ist, den Antisemitismus durch Aufklärung auszuschalten: Selbst die Evidenz des bis heute beispiellosen Massenmords an den europäischen Juden vermochte es nicht zu verhindern, dass auch dieses maximale Verbrechen in eine ,jüdische Schuld‘ verkehrt werden konnte, anstatt Mitleid mit den Opfern auszulösen. Nunmehr sollen stattdessen vor allem diejenigen, in deren Gesellschaft die Massentötung in den Gaskammern der deutschen Vernichtungslager ursprünglich geplant und umgesetzt wurde, die ersten und nachhaltigsten ‚Opfer‘ einer Vergangenheit sein, ‚die nicht vergehen will‘ (Ernst Nolte). Werde sie ihnen doch permanent von ‚den Juden‘ vorgeworfen, um jegliche entlastende ‚Normalisierung‘ der Gesellschaft der ‚Gnade der späten Geburt‘ (Helmut Kohl) im Keim zu ‚ersticken‘.

Das letztere Verb geht in der Charakterisierung dieser irrsinnigen Verdrehung des von Juden Erlittenen in eine mörderische Tat keinesfalls zu weit, da es der Schuldabwehr-Antisemitismus nicht bei der Klage über das ‚Shoah-Business‘ belässt, hinter dem angeblich ‚die Juden‘ stecken, um arme, unschuldige Deutsche auszubeuten und permanent zu erniedrigen beziehungsweise zu zwangsneurotischen, unterwürfigen ‚Gutmenschen‘ zu machen: Israel soll nun, anders als seine selbstgerechten Ankläger, ‚immer noch nichts aus der Vergangenheit‘ gelernt haben. Der ‚Jude unter den Staaten‘, wie der französische Historiker Leon Poliakov die verbreitete Wahrnehmung Israels einmal umschrieb, soll nunmehr Inbegriff eines neuen Nationalsozialismus sein, als ‚rassistischer‘ Staat,  der einen ‚Vernichtungskrieg‘ gegen die Palästinenser führe und den ‚Weltfrieden‘ gefährde. Kurz: Diejenigen, die einstmals dazu vorgesehen waren, allesamt ‚vergast‘ zu werden, stehen nunmehr plötzlich als Täter da, die vergleichbare Verbrechen im Nahen Osten begehen sollen.

Blütenlese typischer Phrasen des ,sekundären’ Antisemitismus

Fixpunkt ressentimentgeladener Projektionen des ‚sekundären‘ Antisemitismus ist also die angeblich durch mächtige Lobbyisten und Strippenzieher erzwungene, ständige Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus: Die ‚Fron‘ einer selbstquälerischen  ‚Vergangenheitsbewältigung‘ – ein deutsches Wort, das selbst schon wieder einen rekordverdächtigen Euphemismus konstruiert, da eine ‚Bewältigung‘ der Ereignisse unmöglich ist und genauso wie eine illusorische ‚Wiedergutmachung‘ nur im Interesse der Schuldigen läge, die sich dadurch selbst entlasten würden – wird als fortgesetzte Tortur an den unschuldigen Nachkommen der Täter dargestellt, verübt durch die längst wieder mächtigen Opfer der Shoah.

Die unerlässliche Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus wird dabei als lähmendes ‚Denkverbot‘ oder ‚Diktatur der Political Correctness‘ sowie als Verhinderung eines ‚gesunden deutschen Nationalbewusstseins‘ halluziniert. Dieses Wahngebilde, mit dessen beliebig kombinierbaren Versatzstücken sich Rechtsextreme, autoritäre Patrioten, biedere FDP-Bürger, ergriffene Bernhard-Schlink-Leser, Judith-Butler-Adeptinnen mit einer Vorliebe für Burkas und antiimperialistische Palituch-Linke gleichermaßen in helle Empörung hineinsteigern können, wird meist mit der rigorosen Forderung nach einem ‚Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit‘ verbunden – eine anmaßende Vorstellung, die erkennen lässt, was die vielbeschworene ‚Vergangenheitsbewältigung‘ tatsächlich schon immer meinte und zugleich als aufklärerisches Programm einer geläuterten Gesellschaft verkaufen half.

Dieses in sich schon vollkommen widersprüchliche Affektszenario, in dem geschichtspolitische Mechanismen der Selbstentlastung als von Juden verordnete Qual dämonisiert werden, schließt meist die verschwörungstheoretische Behauptung mit ein, es gebe ein kaum hintergehbares und mit furchtbarsten Strafen drohendes Tabu, Israel zu kritisieren, obwohl genau dies insbesondere in Deutschland ständig geschieht. Nirgendwo wird Israel soviel kritisiert wie hier.

Um es ein für allemal klarzustellen: Selbstverständlich ist jede rationale Kritik an Israel erlaubt. Nur eindeutige antisemitische Hetze sollte in einem Rechtsstaat, der den Namen verdient, tabuisiert sein, ist es aber in Deutschland in zunehmendem Maße genausowenig. Selten konnten sich Antisemiten, die sich permanent als unschuldig verfolgte und diskriminierte ‚Israelkritiker‘ ausgeben, während sie ihre Umwelt permanent mit gemeingefährlichen Parolen aufwiegeln, so sehr anerkannt und eins mit dem Mainstream der ‚Mitte der Gesellsschaft‘ fühlen wie heute.

Dass die notdürftig verschlüsselten Artikulationsformen des gegenwärtigen Antisemitismus, die im letzten Jahrzehnt wiederholt bis hin zu erneuten Gewaltverbrechen gegen Juden, mörderischen Attentaten und Entführungen, offenen Forderungen der Fortführung des Holocaust und zu Brandanschlägen auf Synagogen auch in Deutschland reichten, qualitativ nicht von früheren Formen judenfeindlicher Affektmobilisierungen zu unterscheiden sind, zeigt nicht zuletzt jene Variante des ‚sekundären‘ Antisemitismus, welche diesen Sommer bei antizionistischen Demonstrationen und pogromartigen Empörungen erneut eskalierte. Die Rede ist von der erwähnten Täter-Opfer-Umkehr, die zwar weltweit funktioniert, aber insbesondere jenen Deutschen zupass kommt, welche die lastende Schuld der Judenvernichtung endlich loswerden wollen: ‚Die Juden‘ werden umstandslos für behauptete Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht, als deren Urheber man im Nahen Osten den demokratischen Staat Israel wähnt, während man mehr oder weniger offen Partei für die antisemitischen Terroristen der Hamas ergreift.

Israel erscheint damit als halluziniertes Zentrum jenes wahnhaft entworfenen ‚Weltjudentums‘, an das man schon im „Dritten Reich“ glaubte. Meinen doch auch heute wieder viele Leute ganz selbstverständlich, jeder Mensch, den sie mit dem Judentum identifizieren, weil er beispielsweise auf dem Berliner Kurfürstendamm mit einer Kippa herumläuft, sei automatisch auch damit einverstanden und dafür verantwortlich, was in Israel verbochen werde. Dieses Israel wiederum soll sogar „barbarischer als Adolf Hitler“ sein, wie etwa kürzlich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan der Welt mitteilen zu müssen glaubte.

„Kindermörder Israel“: Ritualmordlegenden und altbekannte ,Stürmer’-Hetzmotive

Israel wird mittels eines Singling Out, mit dem in der internationalen Wahrnehmung allein dieses kleine, von allen Seiten akut bedrohte und angegriffene Land den ,Weltfrieden’ gefährden soll, zur weltweiten Projektionsfläche eines Hasses, dessen Botschafter sich selbst den Anstrich friedliebender Aufgeklärtheit und pazifistischer Läuterung geben, obwohl sie das Existenzrecht des ‚kritisierten‘ souveränen Staates negieren. Damit reden sie letztlich ebenfalls jener Fortführung der Shoah das Wort, die das erklärte Ziel der Hamas und ihrer Unterstützer ist. Paradigmatisch war kürzlich die Meldung, das Schauspieler-Ehepaar Javier Bardem und Penélope Cruz prangere zusammen mit einer Reihe weiterer Prominenter an, dass Israel in Palästina einen „Völkermord“ begehe. Offenbar hatte den Mimen noch niemand erklärt, dass allein die derzeitigen Gegner Israels solch einen Völkermord explizit planen, da in der Charta der Hamas ausdrücklich steht, das Ziel der Terrororganisation sei es, jenen Staat, der derzeit wehrhaft das Leben der letzten Überlebenden des Holocaust und von deren Nachkommen zu sichern versucht, dem Erdboden gleichzumachen.

Nur zur Erinnerung: Bei der Hamas handelt es sich um eine international geächtete, aber dennoch von Deutschland und den USA mit Hilfsgeldern unterstützte Truppe fanatischer Massenmörder, die Millionen hilfloser Palästinenser als Geiseln nimmt, indem sie diese zwingt, illegalen Waffenbasen in Krankenhäusern und Schulen als menschliche Schutzschilde zu dienen. Nüchterne Berichte, die etwa nach der Rolle der United Nations Relief and Works Agency (UNRWA) in Gaza fragen, wo UN-Schulen von der Hamas ungestraft als Waffenlager genutzt werden, findet man allerdings eher in der US-Presse als in Deutschland, wo man auf die Zeitschrift konkret, den meisten Lesern kaum bekannte Blogs wie Lizas Welt oder eine kleine, aber feine Wochenzeitung wie die Jungle World angewiesen ist, um in den Genuss korrekt recherchierter Gegenberichterstattung zu kommen.

Für die meisten selbsternannten Nahostexperten, die wie besessen auf die Vorgänge in Gaza starren und zugleich blind dafür zu bleiben scheinen, was dort vor aller Augen tatsächlich geschieht, ist von Anfang an klar, dass Israel und seine Siedlungspolitik an allem schuld seien, da die vielbeschworene „Spirale der Gewalt“ allein von Seiten des attackierten Landes beendet werden könne. Nicht nur diese Phrase, sondern auch noch einige andere Signalwörter, die in dem Zusammenhang gerne genannt werden, sind zum geradezu feststehenden Vokabular des ‚sekundären‘ Antisemitismus geworden: Wer Israel so wie die 400 Künstler und Intellektuellen um Nina Hagen, Ingo Schulze und Rupert Neudeck in ihrem offenen Brief als „größtes Freiluftgefängnis der Welt“ bezeichnet, wer die jüdische Heimstätte als „Apartheidsstaat“ oder das Land gar als „Kindermörder“ personalisiert, bewegt sich bereits unweigerlich im ideologischen Rahmen einer Weltanschauung, die auf purem antisemitischem Wahn fußt.

Vielleicht sollte man auch an dieser Stelle, nur zur Sicherheit, kurz noch einmal einflechten, warum diese an Dummhheit kaum zu überbietenden Statements so scharf kritisiert werden müssen: Dass die Grenzen von Gaza selbst während des Krieges für Palästinenser und israelische Hilfsgüter passierbar blieben, hat Matthias Küntzel mittels einer simplen Recherche belegt, die auch den sogenannten Kulturschaffenden vor der Aufsetzung ihres Schreibens möglich gewesen wäre, hätten Sie denn Interesse an der Wahrheit gehabt und nicht am bewussten oder unbewussten Genuss ihrer kollektiven Unterstützung des grassierenden antizionistischen Antisemitismus.

Auch der ständig zu hörende Vorwurf, bei Israel handele es sich um einen „Apartheidsstaat“, den man nach dem altbekannten, nur graduell anders formulierten Motto „Kauft nicht bei Juden!“ zu boykottieren habe, ist für jeden, der halbwegs bei Groschen ist, sofort als kompletter, böswillig behaupteter Quatsch erkennbar: Selbstverständlich gibt es in Israel keine ethnisch diskriminierende Staatsangehörigkeitsregelung, und im Unterschied zu Südafrika ist Israel auch kein autoritäres Regime, sondern der einzige demokratische Staat im gesamten Nahen Osten.

Gerade weil diese Beschuldigungen allesamt irrational sind, verbreitet sich ihre Fiktion jedoch so schnell und so erfolgreich. Offensichtlich realisiert kaum noch jemand, dass der Ausruf „Kindermörder Israel“, der sich, wenn er denn überhaupt irgendetwas treffen soll, nur auf Kriegsverbrechen beziehen kann, die in dem gegenwärtigen Konflikt die Hamas plant, durchführt und als Heldentaten feiert, als Anprangerung eines ,jüdischen‘ Verbrechens ursprünglich auf mittelalterliche Ritualmordlegenden und damit eine der ältesten judenfeindlichen Verschwörungstheorien überhaupt bezieht. Der Ausruf „Kindermörder Israel“ ist seit Jahren Standard auf antizionistischen Demonstrationen und geht unter anderem auch auf Karikaturen im nationalsozialistischen Hetzblatt „Der Stürmer“ zurück. Da verwundert es kaum noch, dass deutsche Beamte krakeelenden Demonstranten in den letzten Wochen dafür auch noch ihre Megaphone liehen. „Die Polizei, Dein Freund und Helfer“: Der Spruch trifft dieser Tage tatsächlich einmal zu – wenn auch nur aus Sicht antisemitischer Volksverhetzer.

Der Grund für die allgemeine Wahrnehmungsverschiebung liegt auf der Hand: Die großen Presseagenturen berichten einseitig über den Krieg in Israel, so dass die Situation des bedrohten Staates überhaupt nicht angemessen dargestellt wird. Dies ist nichts Neues: Dass der Iran, dessen Machthaber seit Jahren den Holocaust leugnen, um gleichzeitig offen anzukündigen, sie würden Israel so bald als möglich von der Landkarte radieren, kurz davor stehen, die Atombombe zu erlangen, wird ohnehin seit Jahren bagatellisiert. Stattdessen halten Demonstranten in Deutschland Porträts eines Nobelpreisträgers hoch, auf denen zu lesen steht: „Günter Grass hat gesagt, was gesagt werden musste.“ Was darauf zu antworten wäre, wurde in dieser Zeitschrift bereits ausführlicher erklärt.

Klartext: Samuel Salzborns Aufsatzsammlung

Wer nach systematischen und wissenschaftlichen Analysen der Entwicklung jenes ‚neuen‘ Antisemitismus seit den 1990er-Jahren sucht, der in nicht zuletzt durch populistische ‚Debattenmacher‘ des Nachkriegs- und Gegenwartsliteraturbetriebs wie Martin Walser und Günter Grass genährt wurde, tut gut daran, bei soziologischen Untersuchungen Rat zu suchen: Wo sich viele Germanisten in erbarmungswürdig anmutenden Eiertänzen winden, liefert der Göttinger Sozial- und Politikwissenschaftler Samuel Salzborn seit vielen Jahren Klartetxt.

Als ersten Band der von ihm herausgegebenen Reihe „Interdisziplinäre Antisemitismusfoschung / Interdisciplinary Studies on Antisemitism“ hat der Autor nun seine Aufsatzsammlung „Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie“ herausgebracht. Das Buch versammelt Texte, die schon einmal veröffentlicht wurden und sich heute oftmals wie Prophezeihungen von Zuständen lesen, die mittlerweile unerträglicher Alltag geworden sind. Neben der Geschichte des Antisemitsmus in Europa rufen Salzborns Analysen insbesondere die Entwicklung seit 2002 in Erinnerung, als der FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann mit seinem bis dahin beispiellosen Hetz-Wahlkampf gegen Ariel Sharon und Michel Friedmann sowie Martin Walser mit seinem umstrittenen Roman „Tod eines Kritikers“ einen regelrechten Dammbruch des offen geäußerten Antisemitismus in Deutschland herbeiführten.

In seinem Beitrag „Antizivilisatorische Affektmobilisierung. Zur Normalisierung des sekundären Antisemitismus“ erinnert uns Salzborn noch einmal daran, dass es der zur FDP übergelaufene und von Möllemann verteidigte Politiker der Grünen Jamal Karsli war, der bereits vor 12 Jahren genau diejenigen judenfeindlichen Behauptungen vertrat, die nun, im Jahr 2014, umso lauter und unwidersprochener in der deutschen Öffentlichkeit wiederkehren: Karsli hatte der rechtsextremen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ ein Interview gegeben, in dem er unter anderem von der Existenz einer „jüdischen Lobby“ faselte, die „den größten Teil der Medienmacht in der Welt“ an sich gerissen habe und „jede auch noch so bedeutende Persönlichkeit klein kriegen“ könne. So hätten die Deutschen Angst davor bekommen, sich kritisch über Israel zu äußern, obwohl dieser Staat „Nazi-Methoden“ anwende. Heute beinahe schon wieder vergessen ist zudem die Tatsache, dass der spätere deutsche Außenminister Guido Westerwelle Möllemanns antisemitischen FDP-Wahlkampf, der auf Karslis Skandaläußerungen folgte, als Parteivorsitzender monatelang unterstützte.

Walsers Paulskirchenrede von 1998 wiederum, in der sich der Schriftsteller über eine „Auschwitzkeule“ entrüstete, mit der den Deutschen zugesetzt werde, hatte diesen Durchbruch des ‚sekundären‘ Antisemitismus bereits vor der Jahrtausendwende mit vorbereitet. Salzborn geht nicht zuletzt auf den Roman „Tod eines Kritikers“ von 2002 ein, in dem Marcel Reich-Ranicki als jüdischer Protagonist André Ehrl-König karikiert und mit antisemitischen Stereotypen nur so überhäuft wird. Reich-Ranicki, der zusammen mit seiner Frau das Warschauer Ghetto überlebt hatte, äußerte sich seinerzeit schockiert über den Bestsellererfolg des Textes: „Schon sind hundertfünfzigtausend Exemplare dieses Buches im Umlauf, eines Romans, der gegen die Juden hetzt, der, hier und da dem Vorbild des Stürmers folgend, Ekel hervorrufen möchte. Welche Folgen werden sich daraus ergeben? Ich weiß es nicht, denn ein solcher Roman ist nach 1945 in deutscher Sprache noch nicht veröffentlicht worden. Ich weiß es nicht, ich fürchte mich.“

Hilfreicher theoretischer Überblick: Claudia Globischs Doktorarbeit

Auch die Innsbrucker Soziologin Claudia Globisch hat ein Buch zum Thema „Radikaler Antisemitismus. Inklusions- und Exklusionssemantiken von links und rechts in Deutschland“ verfasst. Die überarbeitete Erlanger Dissertation aus dem Jahr 2009 analysiert Artikel und Dokumente des rechten und linken Antisemitismus, indem derzeitige Formen der Israelfeindschaft als ‚kulturelle Semantiken‘ in den Blick genommen werden. Globischs Buch bietet zunächst besonders ausführliche Einführungskapitel über den Begriff des Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart. Diese Passagen mögen aufgrund ihrer Detailliertheit langatmig wirken, zumal im Text immer wieder stilistische Holperigkeiten stehengeblieben sind. Abgesehen von diesen Mängeln, die vermuten lassen, dass es im Verlag Springer VS kein Lektorat gibt, eignet sich Globischs Buch aber insbesondere im Fall der Ausführungen über den Forschungsstand der Theorien und Analysen des Antisemitismus gut zum Kennenlernen oder auch zur Vergegenwärtigung derzeitiger soziologischer Parameter.

Um mit einem konstruktiven Hinweis zu enden: Sowohl bei Salzborn als auch bei Globisch ist die Rolle der Emotionen im Antisemitismus aufgrund der jeweiligen methodischen Orientierung ihrer Studien noch kein zentrales Thema. Am ehesten noch nimmt es Salzborn in den Blick. Doch selbst sein zitierter Aufsatz zur „antizivilisatorischen Affektmobilisierung“ deutet die Gefühle, die den Judenhass ganz maßgeblich befeuern, nur im Titel an, während der Beitrag selbst eher statistische Daten und Debattenverläufe wiedergibt, ohne Thesen zur genaueren Funktion und Wirkungsweise der Emotionalisierungsstrategien aufzustellen, die anhand dieses Materials benennbar wären. Ansätze zu derartigen Überlegungen sind in Salzborns Beitrag „Halbierte Sympathie. Antisemitische Schuldprojektion und die Angst vor der eigenen Vergangenheit“ oder auch in seinem kurzem Artikel zum „antisemitischen Gehalt von Ungeziefer-Metaphern“ zu finden, in dem es um die Affekte geht, die solche Bilder auslösen, wenn sie zur Charakterisierung von Juden verwendet werden: „Ekel und Abscheu werden ausgelöst, vielleicht Angst geweckt, ein Gefühl von Unannehmlichkeit entsteht, die Lästigkeit der Tiere tritt ins Bewusstsein, und mit ihr das Wissen darum, dass einige von Ihnen Krankheiten übertragen können, zum Teil folgenschwere.“

Der Antisemit, so Salzborn in seinem erstgenannten Aufsatz, könne nur abstrakt fühlen, da er lediglich über eine halbierte Empathie verfüge: „Der antisemitische Affekt, die mit der Schuldprojektion einhergehende wahnhafte Erregung, in die sich Antisemit(inn)en versetzen, geht einher mit der Unfähigkeit des emotionalen Mitleidens. Die halbierte Empathie besteht somit lediglich in einer ontologischen Trauer um sich selbst, die historisch betrachtet zur Lüge und gesellschaftlich überdies zur aufklärungsresistenten Ideologie wird.“

Diese analytische Perspektive ist ein vielversprechender Beginn. Auch in der Geschichtswissenschaft sind zu diesem Aspekt bereits Überlegungen angestellt worden: Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum haben zuletzt für eine Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus plädiert. Daran gilt es – auch von Seiten der Literaturwissenschaft – in Zukunft anzuknüpfen. Die Bücher von Globisch und Salzborn liefern wichtige Literaturhinweise, Materialien, Beobachtungen und Analysen, auf die dabei zurückgegriffen werden kann.

Titelbild

Claudia Globisch: Radikaler Antisemitismus. Inklusions- und Exklusionssemantiken von links und rechts in Deutschland.
Springer Verlag Berlin, Heidelberg 2013.
428 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783531175638

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Samuel Salzborn: Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014.
212 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783848711130

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