Der Treibsand der Geschichte

Christoph Poschenrieder erzählt intelligent und elegant von einem Homosexuellen auf den Spuren Friedrichs II.

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist der 6. Juni 1915. Ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Ein junger, gut gekleideter Mann zieht durch die Straßen Berlins, zieht hier und da ein kleines Säckchen aus der Tasche und lässt Sand herausrieseln, verteilt ihn systematisch, reibt ihn in die Ritzen, schiebt ihn unter den Sockel einer Litfasssäule oder unter das Pflaster. Dazu murmelt er etwas vor sich hin: „Gioia del Colle.“ Oder: „Lucera.“ Oder „Melfi.“ Oder „Castel del Monte.“

Die Menschen werden misstrauisch, beobachten ihn, verfolgen ihn: Was treibt der Mann da? Bis sie einen Polizisten holen, der ihn mit auf die Wache nimmt. Zwar ist das Verstreuen von Sand keine Straftat, aber dennoch: Im Krieg, umgeben von Feinden, unterwandert von Spionen und Saboteuren – wer weiß? Immerhin bleibt die Frage: „Wie kommen Sie dazu, hier Säckchen fremdländischen, um nicht zu sagen, feindlichen Inhalts auszuleeren?“ Und so kommt der Mann zu Kommissar Treptow. Der schnell merkt, dass er es mit einem Sonderling zu tun hat. Und sich von ihm seine Geschichte erzählen lässt. Und der erzählt gern: „Ja, wie komme ich dazu.“

Seine Geschichte handelt von seinen Reisen nach Süditalien. Er, der Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn, der einem Forschungsauftrag des Deutschen Archäologischen Instituts folgt, soll die Bauten des Stauferkönigs Friedrich II. in Apulien erforschen, kartografieren, fotografieren und bestimmen: Wo hat er gelebt, wo sind seine Frauen begraben, was hat er zu welchem Zweck erbaut und wie sah es aus? Möglichst immer in Abgrenzung zu seinem französischen Kollegen Bertaux – schließlich ist es ja doch ein deutscher Kaiser, da haben die Franzosen nichts zu suchen!

Der Auftrag ist für ihn ein doppelter Glücksfall: Denn nicht nur entgeht er so der drögen Arbeit im Kellerarchiv des Instituts und kommt an die frische Luft, er ist auch frei und sein eigener Herr und mit einem anfangs großzügigen Reisebudget ausgestattet. Und er entkommt auch einem Erpresser. Denn Tolmeyn ist homosexuell, verkehrte in Berlin in einschlägigen Kreisen, in Bars und öffentlichen Toiletten, die im Volksmund wegen ihres Aussehens „Café Achteck“ hießen. Heimlich. Denn im Kaiserreich galt der Paragraf 175, nach dem homosexuelle Handlungen strafbar sind. Zudem waren auch die Affären des Fürsten Philipp zu Eulenburg-Hertefeld in aller Munde: Angestoßen durch den Schlüssellochjournalisten Maximilian Harden (den Karl Kraus deswegen in der „Fackel“ heftig angegriffen hatte), kam es zu mehreren Prozessen, politischen Interventionen und Vorwürfen – man sah einen mächtigen und verschworenen Homosexuellenkreis, der die Politik des Kaisers in ihrem Sinn beeinflusste, zudem galten damals Schwule als verweichlicht und keine „richtigen Männer“.

Die erste Reise in sein unbeschwertes Arkadien führt Tolmeyn noch allein durch, bei der zweiten begleitet ihn der Schweizer Beat Imboden, und es beginnt eine zarte, verschwiegene Liebesgeschichte zwischen den beiden. Sie ist so zart, dass sie nie ausgelebt wird, nicht einmal ausgesprochen, kaum gedacht wird, Schwärmerei ist das höchste, was sich Tolmeyn gestattet. Die beiden sehen sich an, einmal baden sie sogar nackt im Meer miteinander, aber ihre Zuneigung, gar ihre Liebe zueinander können sie sich nicht gestehen. Bei der dritten Reise begleitet sie eine resolute, junge, attraktive und temperamentvolle Italienerin aus dem Ministerium, Letizia Trivulzio di Belgioioso, die sich allerdings vor allem für die Missstände im südlichen Italien und die Emanzipation der Frauen interessiert, die Armen besucht, Untersuchungen anstellt, Interviews führt. Sie fühlt sich zu beiden Männern hingezogen, auch wenn sie bald merkt, dass aus dem angestrebten Verhältnis zu Tolmeyn nichts werden wird. Und als dann der Krieg ausbricht, hat Tolmeyn noch eine kleine Gnadenfrist, aber dann muss auch er zurück nach Berlin, und Beat, der aus einer Familie von Soldaten kommt, meldet sich zur Fremdenlegion.

Poschenrieders Buch „Das Sandkorn“ ist wohl einer der intelligentesten Romane dieses Jahres. Sehr atmosphärisch und in einer eleganten, sicheren Sprache beschreibt er, meist aus Tolmeyns Sicht, aber manchmal auch aus der des verhörenden Kommissars Franz von Treptow, seine Gefühle, seine Irrungen, seine Eindrücke aus Süditalien, seine Theorien und Gedanken und Phantasien über den Staufer-Kaiser, seine vorsichtige Verliebtheit. Klug flechtet Poschenrieder auch die politischen und historischen Ereignisse hinein, erzählt von den armen Menschen im Süden und den arroganten Grundherren, die Tolmeyn nach Kräften unterstützen, ihnen Essen und Arbeiter bringen: Friedrich II. hat immer noch einen guten Ruf in Süditalien, von wo aus er sein großes Reich regierte.

Es ist vor allem der titelgebende Sand, der eine immer größere Rolle spielt: Irgendwann beginnt Tolmeyn, in den Städten und von den Burgen und Ruinen Sand abzukratzen. Etwas später kommt er auf die Idee, dass man mit diesem Sand, wenn man ihn genau untersucht, vielleicht auch ein archäologisches Indiz hat, dass man aus ihm beweisen könnte, wann eine Burg gebaut wurde. Er beginnt den Sand zu bestimmen und zu klassifizieren, aber unter dem Mikroskop entdeckt er auch, dass kein Sandkorn aussieht wie das andere, jedes hat ein unterschiedliches „Gesicht“, jedes ist ein Individuum – eine wunderbare Metapher für den gleichmacherischen Krieg, die großstädtische, scheinbar entindividualisierte Gesellschaft. Es spielt im Roman auch eine süditalienische Hexe eine Rolle, die mit Sand einen zauberischen, schützenden Sandkreis zieht, so wie Tolmeyn in Berlin, was aber bei ihm ins Gegenteil umschlägt. Und schließlich ist da der Treibsand, der nicht nur als Metapher für den Homosexuellen Tolmeyn und sein ganzes Leben, sondern auch ganz real in Süditalien und später an der Front eine Rolle spielt. In dem Tolmeyn entdeckt, dass der Treibsand manchmal fest, manchmal fließend ist, und dass man sich aus ihm befreien kann, wenn man sich ihm hingibt.

Dass der Roman historisch unterfüttert ist, Tolmeyns Geschichte auf die Kunsthistoriker Arthur Haseloff und Martin Wackernagel zurückgeht, die zwischen 1904 und 1908 Kampanien, Kalabrien und Sizilien auf den Spuren Friedrichs II. durchstreiften, ist nicht weiter wichtig, zeigt aber, wie gut Poschenrieder recherchiert hat. Und auch von Treptow, von dem man im Roman hört, wie die Schwulen in der Kaiserzeit unter Beobachtung stehen und wie sich die Kriminaltechnik der Zeit schon der Fotografie bediente, hat ein historisches Vorbild in Hans von Tresckow, der, wie von Treptow, sich nach dem Krieg für die Aufhebung des Paragrafen 175 einsetzte.

Das alles ist subtil und sehr unterhaltsam erzählt, mit Perspektivwechseln und spannenden, lebensvollen Episoden, mit ausdrucksstarken Bildern und passenden Dialogen, mit Witz und Esprit, dabei aber nie aufdringlich, sondern eher zurückhaltend-sachlich und damit desto eindringlicher.

Titelbild

Christoph Poschenrieder: Das Sandkorn.
Diogenes Verlag, Zürich 2014.
416 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068863

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