Wenig Zählbares

Silvio Vietta versucht sich an einer Funktionsgeschichte der Literatur im Kontext der europäischen Rationalitätskultur

Von Christopher BuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Busch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den großen Erzählungen des Abendlandes gehört jene über den Ausgang der Menschheit aus der vorgeschichtlichen Unmündigkeit in die vermeintlich verstandesgemäße Mündigkeit, vom Dunkel ins Licht, vom Mythos zum Logos. Dass hier die ‚schöne‘ Literatur eine eminente Rolle spielt, ist immer wieder bemerkt worden. Im deutschsprachigen Raum prominent sind Hans Blumenbergs Kapitel zu Goethes Prometheus in „Arbeit am Mythos“ und Heinz Schlaffers Kulturgeschichte der Philologie mit dem Titel „Poesie und Wissen“. Beide Autoren verstehen es, auf unterschiedliche Weise die komplexen Verstrickungen von Poesie und Rationalität sichtbar zu machen; hier, indem der Mythos als Form der Selbstbehauptung des Menschen gegenüber dem Absolutismus der Wirklichkeit interpretiert, dort, indem die Entstehung eines Beobachterverhältnisses zwischen ästhetischem Bewusstsein und philologischer Erkenntnis rekonstruiert wird.

Silvio Vietta geht es in seinem Essay um die Funktion von Literatur im speziellen Kontext der Kulturgeschichte europäischer Rationalität. Der historische Bogen ist weit gespannt. Vom Gilgamesch-Epos über die antike Tragödie, Dantes „Göttliche Komödie“, die Neuzeit bis hinein ins 20. Jahrhundert spürt der Autor dem Verhältnis von Literatur und Rationalität nach. Was aber heißt hier ‚und‘? Sind Literatur und Ratio verschwistert, verschworen, austauschbar, Castor und Pollux, Hanni und Nanni? Oder sind sie Gegner, gar verfeindet, Spion und Spion, Don Camillo und Peppone? Sowohl als auch, lautet die enttäuschende, weil inhaltsleere Antwort. Aber der Reihe nach.

Vietta versteht Literatur gut strukturalistisch als selbstreferentielles Zeichen und damit als „Form der sprachlichen Erfindung, die eigenen Regeln folgt, eine eigene Form von Ganzheit darstellt und damit eben auch als literarische Ganzheit eine eigene literarische Funktionsgeschichte hat“ – Literatur mit eigener literarischer Funktionsgeschichte: Die Tautologie wird weder thematisiert, noch für weitere Überlegungen fruchtbar gemacht. Rationalität dagegen versteht der Autor als „spezifische[n] Typus des menschlichen Denkens in der Form einer möglichst linear-zielführenden Zweck-Mittel-Relation, in welcher ein Objekt unter dem Zweck der Nutzbarmachung mit den Mitteln der Kalkulation bearbeitet wird“. Es fehlt noch der beide Bereiche verbindende Begriff, das methodologische Äquivalent des ‚und‘ im Titel der Untersuchung. Bei Vietta heißt es ‚Funktion’ bzw., mit historischem Index, ‚Funktionsgeschichte’. Aus dem Abschnitt, der den Bezug klären soll, erfährt der Leser aber nur, wie der Autor den Begriff nicht verstanden wissen will. Das führt dazu, dass Vietta nahezu alles als Funktion von Literatur in der Rationalitätskultur erklären kann, wobei ab und an der Bezug zum Thema auch verloren geht. Schlaglichtartig widmen sich die acht Kapitel heterogenen Aspekten dieser Kultur; analysiert werden: die Austreibung der Dichter aus dem rationalen Staat, Literatur im postmythischen Zeitalter, Rationalität und das Irrationale, literarische Frauenemanzipation, Emotion – Sinnlichkeit – Fantasie, Utopie und Apokalypse und schließlich Funktionen der Erkenntnis und des Komischen. Die Literatur der Antike seit Euripides und Sophokles funktioniert demnach sowohl als irrationales Korrektiv der Rationalität wie als Aufklärung des archaischen Mythos. Dantes „Göttliche Komödie“ kann zweifellos in Teilen als Kritik am verschwenderischen Leben der Kurie gelesen werden – inwiefern das Gebaren der Päpste nun aber rational oder irrational im vom Autor verstandenen Sinne sein soll bzw. welche Position Dante einnimmt, wird nicht ganz klar. Auch die Kolonialzeit wird in die Darstellung mit aufgenommen, denn hier habe ein Export europäisch-rationaler Standards stattgefunden, der nun gleichzeitig von neuzeitlichen Autoren kommentiert worden sei: Dass diese Autoren Rationalität allerdings gar nicht zum vorrangigen Thema ihrer Berichte machen, stört Vietta nicht. Der Leser erfährt, dass die anthropophagen Riten der südamerikanischen Ureinwohner verteidigt werden und dass Daniel Defoe rationale Akribie als Darstellungsstil verwendet, um zu zeigen, wie Robinson Crusoe seinen Freitag vor den Menschenfressern rettet. Die Utopie gilt als rationale Textgattung der Wissenseliten, die aber gleichzeitig darum irrational sei, weil sie den Menschen auf seine Rationalität reduziere. Neuzeitliche Apokalypsen werden verstanden als Entlarvung irrationaler menschlicher Politik, und Komik hat darum etwas mit Rationalität zu tun, weil der Rezipient komischer Texte Rationalitätsdefizite der Figuren erkenne, wodurch er, der Leser, nun belehrt werde und sich gleichzeitig auch freuen könne – Horatius dixit.

Ein bunter Strauß also. Leider gleitet dessen Darstellung häufig ins Schematische ab und dann und wann auch ins Klischee. Romantiker sind dann irrationale Poeten, die rationale Tendenzen kritisieren, gleichzeitig aber auch übersteigerte Irrationalismen wie die Liebe zu Automaten nicht gutheißen können. Naturalisten reagieren auf die Rationalitätserwartungen der Moderne mit der Forderung einer Verwissenschaftlichung der Literatur und kritisieren gleichzeitig soziale Missstände. Expressionisten sind Apokalyptiker, die die rationale Kultur (die nun gleichgesetzt wird mit der Beherrschung des Technischen) ebenfalls kritisch beurteilen, wie Gottfried Benn das in den Rönne-Texten tut. Dass Benn gleichzeitig Mediziner und Wissenschaftler ist, also auch irgendwie (aber wie denn genau?) auf Seiten der Rationalität (Zählen, Messen, Wiegen) steht – naja, sowohl als auch eben. Die Klassische Moderne krankt am allzu apollinischen Wesen der Zeit bei gleichzeitigem Werteverfall; in Kakanien und dem Davos-ähnlichen Bergsanatorium huldigt man der Mystik und Dionysos – je nun, man hat davon gehört. Wie sind aber Sätze wie der folgende mit Blick auf Platons Dichterschelte formulierte zu verstehen: „Die erste Funktion also der Literatur im rationalen Staat ist ihre Entfunktionalisierung darin“? Für wen funktioniert hier was mit welchem Ergebnis? Funktioniert hier die Literatur in der Weise, dass sie nun nicht mehr fungibel ist? Aber dann funktioniert sie ja noch. Dies zumal, als Platon betont, dass die Literatur im rationalen Staat durchaus panegyrisch sein darf. Man kann also nur erklären, welche Funktion Literatur im rationalen Staat vermeintlich nicht mehr erfüllen darf? Für Problematisierungen solcher Art hat Vietta keine Zeit, immerhin gilt es auf 175 Seiten Text 10.000 Jahre Menschheits- und Rationalitätsgeschichte abzurollen. Mit der Bestimmung der Literatur als selbstreferentielles Zeichen, das darum seit Platons „Politeia“ aus der Staatsordnung ausgeschlossen werde, tut er sich freilich keinen Gefallen. Denn tatsächlich referiert ja die Literatur Heines, Börnes und Büchners (die Vietta auch als Beispiele anführt) vornehmlich auf die reale Welt mit ihren sozialen Missständen, ansonsten hätte es keinen Grund gegeben, sie aus den staatlichen Ordnungen auszuschließen.

Referenzialität der Literatur wird auch im Gender-Kapitel des Buches vorausgesetzt, nämlich dann, wenn Euripides’ „Medea“ als Kritik an der aristotelischen Abwertung des weiblichen Stoffprinzips durch das männliche Formprinzip gelesen wird. Denn auch die Emanzipation der Frau durch Literatur gehört für Vietta zum Thema seiner Darstellung: Heloïse, Christine de Pizan, Sophie von La Roche, Therese Huber, Caroline Schlegel-Schelling, Dorothea Schlözer, Dorothea Veit, Rahel Varnhagen, Jane Austen, Else Lasker-Schüler, Ingeborg Bachmann, Christa Wolf, Karen Duve, Judith Herrmann, Zoë Jenny u.v.m. schreiben im Sinne einer wahrhaftig rationalen Rationalität gegen die männlich dominierte Rationalität an. Diese Diversifizierung in Rationalitäten zieht denn aber keine begrifflichen Justierungen nach sich; von Diskursen und Semantiken, insgesamt von kontextsensitiven Perspektivierungen hat sich Vietta in den ersten Kapiteln des Buches losgesagt, nicht einmal zwischen Rationalitätsformen unterscheidet er. Das wird dem Gegenstand nicht gerecht.

Weiter gefragt: Taugen Termini wie Emotion, Sinnlichkeit und Fantasie wirklich als Abgrenzungsbegriffe zur Rationalität? Vordergründig sind die Oppositionen klar, bei näherem Hinsehen kompliziert es sich aber erheblich. Es war ein vorrangig rationalistisches Interesse, das Alexander Baumgarten dazu bewog, die Regeln der sinnlichen Erkenntnis zu erforschen; seine gnoseologia inferior ist immerhin eine gnoseologia. Und wenn die Abwendung der (deutschen) Literatur von der Rationalität der Aufklärung für das Jahr 1774 angesetzt wird, trägt das dem Umstand Rechnung, dass Goethe den Werther eine Sprache der Empfindsamkeit sprechen lässt, nicht aber der Tatsache, dass diese Sprache auf dem Buchmarkt sofort kopiert worden ist – aus rein rationalen Gründen der Profitmaximierung. Kritik an der Rationalität bzw. Abweichung von ihr wird also von der Rationalität selber wieder eingeholt. Entsprechend wird die Aufwertung der Fantasie als Parallelaktion zur Verselbständigung der Rationalitätsgesellschaft verstanden und dann behauptet, sie, die Fantasie, sei selbst Mimesis und Opposition (wovon genau und wogegen?).

Um es kurz zu machen: Zu Beginn seiner Abhandlung bringt der Autor das Verhältnis von Rationalität und Literatur plakativ auf den Gegensatz zählen vs. erzählen, hier die quantitative dort die qualitative Ratio. Das Buch fügt sich dieser Dichotomie auf seine eigene Weise. Es erzählt viel, zählt wenig – und erweist sich daher als Quantité négligeable.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Silvio Vietta: Literatur und Rationalität. Funktionen der Literatur in der europäischen Kulturgeschichte.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013.
197 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770555918

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