Von der rebellischen Arbeit am Selbst

Michael Roes’ neuer Roman „Die Legende von der Weißen Schlange“ ist mehr als eine Analyse des modernen China

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast scheint es unmöglich, irgendetwas über den neuen Roman von Michael Roes, Die Legende von der Weißen Schlange, sagen zu können, ohne schon zuviel zu sagen. Auch der Verlag hat sich offenkundig schwer damit getan und den Klappentext so allgemein formuliert, dass sich alles mögliche zwischen den Buchdeckeln verbergen kann, nur nicht die sich tatsächlich auf 465 Seiten entspinnende Story. Das ist einerseits schade, andererseits aber auch der Überraschungsmoment dieses Romans. Denn wenn der Klappentext davon spricht, der Roman bringe „die chinesische Geschichte und Gegenwart mit dem Portrait einer Jugend, für die radikale Kontraste und Widersprüche längst zum Alltag gehören“, zusammen, dann ist das allenfalls die halbe Wahrheit.

Wie schon der 2009 erschienene Roman Die fünf Farben Schwarz spielt auch das neue Buch in einer chinesischen Metropole der Jetztzeit, nur dass diesmal kein alternder deutscher Professor im Mittelpunkt steht, sondern der 20-jährige Schauspieler, Breakdancer, Skater und Graffitikünstler Jian. Durch ihn gewinnt der Leser Einblick in die Verwerfungen des modernen China, das zwischen Tradition und Moderne seinen Weg noch finden muss. Dass dies nicht in klischeebehaftete Bilder und Beschreibungen mündet, ist Michael Roes’ hochreflexiver Schreibweise zu verdanken, wie sie in all seinen Büchern souverän um Allgemeinplätze und Verallgemeinerungen navigiert und damit bekannte wie neue Perspektiven verbindet.

Berichtet wird von sieben Tagen im Leben Jians, die dem Roman seine Form geben. Dabei sind die Kapitel wie ein Countdown angeordnet, beginnend mit dem siebten Tag, was zunächst an eine verkehrte Schöpfungsgeschichte denken lässt. Die Wahl dieser Form dient der Spannungserzeugung, zeigt aber gleichzeitig an, dass nach dem ersten Tag vielleicht alles, aber auf jeden Fall das Buch enden wird. Die sieben Kapitel erzählen in zwei Perspektiven von Jian und seinem Leben im modernen China. Jian selbst berichtet von den Schwierigkeiten seines Berufes als Darsteller in der Kun-Oper, was ihm keinerlei gesellschaftliche Anerkennung einbringt, weil Schauspielerei jeder ökonomischen Effizienz wie auch den sozialen Erwartungen zuwiderläuft. So hat er die Schule abgebrochen, um Schauspieler zu werden und verweigert sich beharrlich den Verkupplungsversuchen seiner resoluten und herrischen Mutter. In seiner Freizeit geht Jian zwei Beschäftigungen nach, die ihn ebenfalls an den sozialen Rand drängen: Er tanzt mit seinen Freunden Breakdance vor einem Einkaufstempel und er ist Graffitikünstler, was ihn zu einem Ziel staatlicher Beobachtung werden lässt.

Eine Kernerzählung rund um Jian ist die Beziehung zwischen ihm und seinem Vater, denn dass Jian weitestgehend von staatlicher Bevormundung und Strafverfolgung verschont bleibt, hat er seinem Vater zu verdanken, der als Leiter eines Kryonikinstituts eine sehr hohe Stellung innehat und deshalb seinem Sohn mehr als einmal Schutz bietet. Es ist der Vater, dem eine Schlüsselrolle in Jians Leben zukommt. Er ist nämlich keine übermächtige, repressive Figur (eine Rolle, die ausschließlich Jians Mutter zukommt), sondern äußerst verständnisvoll. Vater und Sohn verbindet eine intensive innige Beziehung, die aber durch das Verschwinden von Jians bestem Freund Liu Xin allmählich Risse bekommt.

Bei einer gemeinsamen Spray-Aktion wird Liu Xin verhaftet und verschwindet in einem Lager. Über den Rechner seines Vaters und mit der Hilfe seines Hackerfreundes Chang Quing, versucht Jian herauszufinden, wo sich Liu Xin befindet. Schließlich glaubt er, dass sich sein verschwundener Freund auf dem Institutsgelände befindet, auf dem sein Vater arbeitet. Es tauchen zudem Dokumente auf, die nahelegen, dass Jians Vater Kryonikexperimente mit Menschen verantwortet. Diese Dokumente wollen Jian und Chang Quing kopieren und veröffentlichen.

Es ist also Jian, der im doppelten Sinn der Resonanzkörper des Romans ist. Als Protagonist laufen in ihm alle Wahrnehmungen zusammen und er ist körperlich betroffen, von seinen Lebensumständen, den sozialen wie politischen Einschränkungen. Sein Körper und dessen Funktionalisierung bilden immer wieder den Gegenstand seiner Gedanken: „In einer Welt des Geredes sagt nur noch der Körper die Wahrheit.“ – „In diesem Land zählt der Körper nicht, er ist allein zum Essen da, und zum Gefressen werden.“ – „Meine ganze Kindheit über war mein Körper das Schlachtfeld meiner uneinigen Eltern.“ – „Irgendetwas stimmt mit unseren Körpern nicht. Sie gehören uns nicht wirklich. Zunächst und zuallererst gehören sie unseren Eltern, dann der Schule, dann vielleicht der Armee oder der Firma, aber niemals uns selbst.“

Die zweite Perspektive zeigt Jian aus einer Verfolgerposition heraus, deren genauen Status man lange nicht einordnen kann, was sich im letzten Drittel aber schließlich aufklärt. Wie genau, soll nicht verraten werden, doch der Verfolger kennt Jian sehr gut, spricht ihn immer wieder direkt an, ohne ihm aber nahekommen zu dürfen. In dieser leicht paranoiden Perspektive, denn der Verfolger glaubt sich selbst verfolgt, zeigt sich einer der Spannungsmomente des Romans, der sich auch typografisch von den anderen Abschnitten abhebt: keine Interpunktion, konsequente Kleinschreibung, rechtsbündige Anordnung, fast lyrikhaft, sodass es einige Zeit braucht, sich darauf einzustellen. Es ist dies ein schon aus anderen Büchern von Michael Roes bekanntes Verfahren, um unterschiedliche Perspektiven zu differenzieren.

Damit reiht sich der neue Roman nahtlos in das übrige Werk Michael Roes’ ein, indem es nämlich eine ähnliche Konstellation vorstellt. Es geht in Roes‘ Büchern fast immer um ein Nachdenken, ein Abarbeiten und ein Entwickeln von Menschen. Fast alle Protagonisten sehen sich konfrontiert mit einem Gegenüber, mit dem sie sich auseinandersetzen, an dem sie sich abarbeiten müssen. Aus der Arbeit am Anderen tritt der Protagonist schließlich selbst als ein Anderer hervor. Schon in Roes’ erstem Roman Lleu Llaw Gyffes (1994) arbeiten sich Vater und Sohn aneinander ab; in David Kanchelli (2001) sind es zwei Brüder; in Weg nach Timimoun (2006) und Geschichte der Freundschaft (2010) zwei Freunde und auch Die Legende von der Weißen Schlange geht einen ähnlichen Weg, variiert ihn aber zugleich, auf eine durchaus überraschende Weise.

Die Legende von der Weißen Schlange ist ein typischer Roes-Roman in seiner Mischung aus aktueller Zeitgeschichte, Wissenschaftsreflexion sowie Kultur- und Landesgeschichte. Michael Roes beweist in seinem neuen Roman erneut eine meisterliche Beherrschung verschiedener Tonlagen, Sprachebenen und literarischer Formen, die er gekonnt mit disparaten Diskursen und einer glaubhaften Rollenprosa verbindet. Michael Roes hat wieder einen weltsatten, spannenden und leichtfüßigen Roman geschrieben.

Titelbild

Michael Roes: Die Legende von der Weißen Schlange. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
465 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783882211948

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