Himmel oder Hölle – USA oder Sowjetunion?

Simon Huber untersucht Reiseberichte aus der Weimarer Republik

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der Entdeckung Amerikas 1492 durch Christoph Columbus haben unzählige Reiseberichte und Romane die USA immer wieder beschrieben und auch geografisch erkundet. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg erlangte die Auseinandersetzung in der Weimarer Republik mit Blick auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse eine neue Qualität. Denn mit der 1917 gegründeten Sowjetunion war eine hoch ideologisch besetzte politische und gesellschaftliche Alternative erwachsen, die neue praktischen Antworten auf die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Herausforderungen im Zuge des Verlusts alter Ordnungssysteme und der fortschreitenden Emanzipation des Subjekts gab.

Simon Huber untersucht in seiner programmatisch „Orientierungsfahrten“ überschriebenen Studie zehn exemplarische Sichten auf die beiden big player der Moderne und beleuchtet die Suche der Autorinnen und Autoren nach tragfähigen Antworten hinsichtlich der Neubewertung von Geschlecht, Rasse, Religion und nicht zuletzt hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft im Zeitalter der Ökonomie und Rationalisierung, eben „Ordnungsentwürfe, die auf zentrale Moderneparadigmen reagieren“, wie Huber schreibt.

Bei der Suche nach diesen Perspektiven kommt dem literarischen Genre Reisebericht und dem Feuilleton als Keimzelle im Gefüge des an Aktualität und Fakten orientierten neusachlich geprägten Buchmarkts in der Weimarer Republik ein großer Stellenwert zu. Reporter und Feuilletonisten werden zu teilnehmenden Beobachtern, sie sehen und vergleichen durch Lektüre oder Voreinstellungen erwartete und unerwartete Dinge und menschliches Verhalten, sie verallgemeinern und instrumentalisieren unsichtbare und sichtbare Phänomene. Unausgesprochen wird die Zukunftsperspektive für das Ich, wird Deutschland im Prozess der Moderne zum eigentlichen Bezugspunkt der Berichte.

Es sind inszenierte Reiseberichte, die einen hybriden und multiperspektivischen Zugriff auf ihr Sujet wagen. Jedoch legt Huber weniger Wert auf die Analyse der ästhetischen Dimension. Auch eine sowjetisch-amerikanische Literaturgeschichte der zeitgenössischen Reiseberichte schreibt er nicht – so verzichtet er auf die Erwähnung weiterer Bücher, die aufgrund der Vielfalt zwangsläufig nur summarisch sein könnte. Vielmehr konzentriert er sich auf eine thematische Analyse exemplarischer Berichte.

Diesem Zuschnitt folgend, schließt sich einer überblickshaften diachronen und synchronen Einordnung der Gattung Reisebericht, zunächst die sehr textnahe und für eine wissenschaftliche Arbeit sehr eingängig geschriebene Auseinandersetzung mit den Berichten der Reisen in die Sowjetunion und danach mit denen in die USA an, die auch vom Umfang jeweils gleich gewichtet sind.

Neben Egon Erwin Kischs „Zaren, Popen, Bolschewiken“ (1927) und „Asien gründlich verändert“ (1932), werden so für die Sowjetunion, Armin Wegners „Fünf Finger über dir“ (1930), Friedrich Sieburgs „Die Rote Arktis“ (1932) und Arthur Rundts „Der Mensch wird umgebaut. Ein Rußlandbuch“ (1932) als Positionen aufgerufen. Bei den Amerikaberichten folgen auf Arthur Rundts „Amerika ist anders“ (1926) und Egon Erwin Kischs Paradies Amerika“ (1929), die Bücher „Das amerikanische Abenteuer“ (1933) und „Feldwege nach Chicago“ (1931) von Wolfgang Langewiesche und Heinrich Hauser. Die einzige weibliche Autorin ist Marta Karlweis mit ihren Porträts in „Eine Frau reist durch Amerika“ (1928)

Allen Reportagen gemeinsam ist bei unterschiedlichster Bewertung einzelner Ereignisse und Erlebnisse zwischen Alaska und Mexiko beziehungsweise Moskau und Nowosibirsk die Frage nach dem individuellen und gesellschaftlichen Nutzen der modernen Phänomene Rationalisierung, Ökonomie, Individualität und der Politik – zwischen liberaler Deregulierung und staatlich kontrollierter Ordnung. Dabei schwanken die Diagnosen je nach politischer Sicht zwischen einem euphorisch begrüßten, sich nach kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten frei entfaltenden Individualismus als Folge eines liberalen Wirtschaftssystems mit höchstem gesamtgesellschaftlichen Nutzen und dessen perhorreszierender Verdammung als inhumanes Teufelszeug mit einer dem Massenkonsum geschuldeten Nivellierung der Kultur und der Negierung historischer Traditionen in dessen Folge ein massiver gesellschaftlicher Schaden beobachtbar sei. Die Frage, ob der Kapitalismus Ressourcen verschwendet oder sie rational und effizient nutzt, bleibt letzlich ebenso offen, ob die Kollektivierung oder das Individuum zur Leistungssteigerung beiträgt.

Bei aller zum Teil sehr deutlichen, fast enthusiastischen Parteinahme schlagen die Berichte nur selten in die Beschwörung einer quasireligiösen Ersatzideologie um. In der Auseinandersetzung entwirft jeder Autor für sich eine individuelle Modernisierungskonzeption. Auffällig ist jedoch, dass Wohlstand und der effiziente Einsatz der Arbeitskraft in beiden Gesellschaften Teil der Zukunftsstrategie und damit eine zentrale Antwort auf die Sinnfrage in der Moderne ist. Dies ist ein Phänomen, das uns bei und mit aller Fragwürdigkeit noch heute bekannt ist.

Titelbild

Simon Huber: Orientierungsfahrten. Sowjetunion- und USA-Berichte der Weimarer Republik als Reflexionsmedium im Modernediskurs.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2014.
265 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783849810139

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