Russlands langer Marsch

Dietmar Neutatz liefert mit „Träume und Alpträume“ eine informative und gut lesbare „Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Geschichte Russlands und der Sowjetunion im 20. Jahrhundert bindet der Freiburger Osteuropa-Historiker Dietmar Neutatz einige kleine Kapitel über Repräsentationen des Landes auf Weltausstellungen ein. So präsentierte sich 1900 in Paris das Zarenreich als riesiges Land, das mit gewaltigen Schritten dabei war, zu einem modernen Staat nach europäischem Vorbild zu werden. Mit der transsibirischen Eisenbahn konnten die Besucher eine virtuelle Entdeckungsreise durch das Riesenland antreten. 1925, auf der „Weltausstellung des Kunstgewerbes und des Industriedesigns“ in Paris erregte die junge Sowjetunion mit dem von dem Architekten Konstantin Melnikow kühn und mit revolutionärer Geste entworfenen Pavillon aus Holz und Glas gewaltiges Aufsehen. Die Botschaft: hier, in der Sowjetunion entsteht das Neue, das Fortschrittliche, das Internationale. 1937, wieder in Paris, stand der sowjetische Pavillon, diesmal weniger avantgardistisch, direkt gegenüber dem deutschen Pavillon – ein politisches Signal an die Welt: die Sowjetunion an der Seite der Kämpfer  gegen den Faschismus, solidarisch mit den Opfern, deren Leid Picasso mit dem Gemälde „Guernica“, das im spanischen Pavillon ausgestellt war, für alle Welt sichtbar zum Ausdruck gebracht hatte.

1958 in Brüssel und 1967 in Montreal konkurrierte die Weltmacht Sowjetunion mit der anderen Weltmacht, der USA. Wieder waren die Pavillons direkt gegenüber dem Konkurrenten beziehungsreich aufgebaut. In den 1990er- Jahren in Sevilla (1992), Lissabon (1998) oder Hannover (2000) zielten die Auftritte des neuen Russlands dahin, das Land wieder als Teil der internationalen Staatengemeinschaft zu präsentieren. Wenn dabei, wie in Hannover, ein nachgebildetes Fabergé-Ei ausgestellt wurde, dann sollte dies eine bewusste Anknüpfung an die vorsowjetische Zeit sein, als Russland sich aufmachte in die europäische Moderne.

Die knappen, vom Autor im Übrigen ein wenig oberflächlich abgehandelten Weltausstellungskapitel, sind ein Beispiel für die Darstellung einer Verzahnung der russisch-sowjetischen Geschichte mit der „Europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert“, wie die von Ulrich Herbert herausgegebene Reihe, in der der vorliegende Band erscheint, heißt. In diesem Sinne belegen sie den Anspruch der Reihe und deuten jene „Querschnitte“ an, von denen der Herausgeber spricht, die europäische und internationale Bezüge und Vergleiche ermöglichen.

In seiner umfangreichen, vielseitig informativen und gut lesbaren Darstellung der russischen Geschichte seit 1900 weist der Autor auf die „Kategorie der Rückständigkeit“ hin, die das Denken der russischen und sowjetischen Eliten im Verhältnis zu Europa (und zur Welt) prägte. Ausgerichtet am Vorbild der europäischen Moderne, wie sie die Eliten des Zarenreichs anstrebten, oder an einer ideologisch konstruierten Vorstellung von Moderne, die zu erreichen das Ziel der Sowjetunion sein sollte, erschien das eigene Land immer bedürftig.

„Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.“ Mit diesem Zitat des ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin aus dem Jahre 1993 belegt der Autor ein die russisch-sowjetische Geschichte des 20. Jahrhunderts durchziehendes Dilemma: denn „das Beste“ wurde regelmäßig ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Traditionen, Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung geplant. Im Interesse eines elitären Modernisierungsideals setzte man sich – während sowjetischer Zeiten auch mit rücksichtsloser Gewalt – darüber hinweg. So zerstörte man die eigenen Wurzeln. So hatte beispielsweise die ‚rückständige‘ Landbevölkerung, die in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts oft zum Objekt dieser Modernisierungsanmaßung wurde, durchaus eigene funktionierende soziale und kulturelle Traditionen, die zur Grundlage eine eigenen Wegs in die Moderne hätten werden können. Es kam anders: jede Widerständigkeit gegen den Modernisierungsanspruch der Eliten, galt diesen als Beleg für ihr Feindbild. Damit erklärt der Autor ein weiteres Kontinuum in der russisch-sowjetischen Geschichte: die mentale Kriegsdisposition. Insbesondere die Bolschewiki sahen sich von Feinden umringt. In dieser Perspektive ist Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den 1930er- Jahren, wie der Autor nachvollziehbar darlegt, der Beginn des gezielten Massenterrors gegen die Feinde der Sowjetunion. Wieder ist es der zwanghafte Kampf gegen die Rückständigkeit – konkret gegen die „Kulakenbrut“, die vernichtet werden muss, um die neue Gesellschaft zu errichten. Das Konstrukt der feindlichen „Kulaken“ ermöglicht die Rationalisierung der Gewalt. Im Sinne der Durchsetzung des Modernisierungsideals der „neuen Gesellschaft“ ist die Zwangskollektivierung und damit auch der Massenterror aber eben auch „ein Instrument des social engeneering“.

Eine russisch-sowjetische Geschichte des 20. Jahrhunderts muss sich natürlich gerade in diesen Zeiten, da Russland unter Putins Herrschaft eine aus europäischer Sicht zweifelhafte und risikoreiche machtpolitische Neuorientierung sucht, fragen lassen, was sie denn zum Verständnis Russlands beitragen kann. Neutatz meidet allzu schnelle Analogieschlüsse. Aber aus seiner Darstellung ergeben sich durchaus hilfreiche Erkenntnisse. Denn sie vermittelt die Einsicht, dass Russlands Entwicklung im 20. Jahrhundert bis heute nicht mit dem Maß westlicher, europäischer Modernisierung zu messen ist. Es gilt – eigentlich eine Selbstverständlichkeit – ein Verständnis für die spezifischen Einflussfaktoren, die Russlands Weg ins 21. Jahrhundert präg(t)en, zu gewinnen.

Um das zu können, braucht es zuvörderst Kenntnisse. Neutatz’ Buch liefert sie. So entsteht ein Handbuch, dessen Fülle man freilich besser nutzen könnte, gäbe es noch weitere Wegweiser durch das Material als nur die sehr grobmaschige Inhaltsangabe, die kaum mehr als die fünf Teile des Buchs ausweist: Unterwegs in die Moderne 1890-1917 – Utopie und Kompromiss 1917-1928 – Kriegszustand 1928-1953 – Konkurrenz mit dem Westen 1953-1982 – Scheitern und Neubeginn 1982-1999.

Titelbild

Dieter Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
688 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406647147

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