Das Ohr auf der Wiese

Édouard Levés „Autoportrait“ bietet Potenzial zur Anteilnahme

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon seit Marcel Prousts Romanzyklus „À la recherche du temps perdu“ steht fest, dass die Faszination autobiografischer Literatur vor allem in der Geduld liegt, die der Leser zur Bewältigung dieser Aufgabe mitbringen muss. Manchmal scheitert er jedoch; sind ihm etwa Prousts Schilderungen des aristokratischen Paris zu viel der Genauigkeiten, sehnt er sich nach einem kürzeren Buch, wünscht sich aber einen ähnlich detailversessenen Blick des Autors auf seinen Ich-Erzähler.

Édouard Levé hat mit „Autoportrait“ einen Text verfasst, der sich dem Roman-Etikett entzieht und sich dennoch in die lange Reihe autobiografischer Literatur einordnet. Er stellt scheinbar unzusammenhängende Äußerungen zusammen, viele davon in Form kürzester Anekdoten. Der Text läuft in einem fort, ist scheinbar nicht gegliedert, entwickelt aber gerade daraus sein Potenzial. Levé spricht Themengebiete an, die ihn selbst betreffen: seine Auffassung von Kunst, seine Tics, sein Umfeld, sein Sexualleben. Diese „Fragmente“ reihen sich, verweisen jedoch auch manchmal aufeinander. Die immer wiederkehrenden Motive unterstützen den Eindruck, es hier nicht mit einer Auflistung von Idiosynkrasien, verstreuten Notizen und Aphorismen zu tun zu haben, sondern mit einem komponierten Werk, das, vom Leben des Autors ausgehend, allgemeine Aussagen über das menschliche Leben trifft. Levés Trumpfkarte dabei ist die Kunst, die seinem Leben Struktur gibt, ihm aber auch schmerzhaft Grenzen aufzeigt. „Ich möchte eher die Wahrnehmung der Dinge verändern als die Dinge selbst.“ Diese Haltung gestattet es Levé, den Phänomenen seines Alltags mit der Offenheit zu begegnen, die für ihn als Künstler wichtig ist. Das führt zu skurrilen Situationen, etwa dann, wenn er vom „Ohr auf der Wiese“ erzählt, das er nicht zu finden hofft. Der Humor ist nicht immer lebensfroh, sondern oft von einer tiefen Traurigkeit getrübt. Oft spricht Levé seinen eigenen Tod an, erwähnt seine Depressionen und einige Selbstmordversuche. Diese Äußerungen fallen beiläufig, lassen sich aber nicht vom Suizid des Autors trennen.

Eine alleinige Berücksichtigung dieser Fixierung auf den Tod versperrt jedoch den Blick auf die Ästhetik, die sich nicht nur an fragmentarischer Literatur orientiert. Sie entwirft einen „Tatsachenbericht“, der Levé als die „schönste unpoetische Poesie“ erscheint. Die Stärke von „Autoportrait“ liegt gerade darin, dass es keine gewöhnliche Autobiografie ist. Denn in diesem „Museum für Alltagsnotizen“ muss man sich nicht darauf einstellen, den Autor nur durch eine Glasscheibe betrachten zu können. Die einzelnen Sätze und Anekdoten lassen dem Chaos und Wuchern eines Lebens genügend Freiraum.

Der Leser kann sich mit Recht fragen, inwiefern die Auswahl der Begebenheiten und Äußerungen beliebig ist. Gerade in der fragmentarischen Struktur dieser autobiographischen Schrift liegt jedoch Potenzial zur Anteilnahme: Es ist unsinnig, die einzelnen Ereignisse chronologisch ordnen zu wollen, dafür aber möglich, dem detailversessenen Blick Levés genau zu folgen.

Titelbild

Édouard Levé: Autoportrait.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
111 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210682

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