Spruchbandtexte in einer bebilderten mittelhochdeutschen Handschrift

Lesen in Bild und Text von Nikolaus Henkel

Von Claudia SchumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte von Maria und Joseph sowie die Geburt Christi ist in vielen Varianten überliefert. Allen gemein sind der immanente religiös-erbauliche Charakter sowie das Mysterium um die jungfräuliche Empfängnis. Schon früh hatte sich ein Kult um die Gottesmutter gebildet, der in ihrer Anerkennung als Gottesgebärerin beim Konzil von Ephesus im Jahr 431 seinen Anfang nahm. Im 12. Jahrhundert äußerte sich dieser beispielsweise darin, dass unter anderem die kinderlose Ehe Kaiser Heinrichs II. und seiner Frau Kunigunde zur Heiligsprechung beider führte, da sie eine angebliche Josephsehe geführt haben sollen.

Vielfach wurden auch Artefakte im Zusammenhang mit Maria im Volksglauben als wundertätig angesehen, was mitunter zu einer Verehrung dieser führen konnte. Dieses Brauchtum ist über viele Jahrhunderte und bis in unsere heutige Zeit praktiziert worden, so hat sich Wolfgang Brückner unlängst mit dem Marien-Kult um eine Medaille im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt.

In den Zusammenhang wundertätiger Artefakte kann man auch die aus dem 13. Jahrhundert stammende ehemalige Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘ stellen, auch wenn diese heutzutage nicht verehrt wird, so ist sie doch ein Artefakt, welchem im Volksglauben früherer Jahrhunderte besondere Fähigkeiten zugewiesen wurden.

Nikolaus Henkel widmet sich im Rahmen seines Aufenthaltes in Freiburg (CH) anlässlich der 17. Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanistische Philologie dieser Bilderhandschrift von editorischer Seite aus. In dem 2014 veröffentlichten Werk „Lesen in Bild und Text – Die ehem. Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘“ beschreibt er die Miniaturen, ediert die darin enthaltenen Spruchbandtexte und erörtert, wie Bild und Text miteinander korrespondieren. Insgesamt zeigt er auf, wie eine bildliche Ebene in Handschriften bereichert und welche Auswirkungen diese Ebene auf die Benutzung einer Handschrift haben kann. Dies ist wichtig, denn aufgrund der enthaltenen bildlichen Darstellungen eröffnet sich ein neuer Benutzerkreis für die Handschrift: Menschen die des Lesens nicht (unbedingt) mächtig waren – Illiterati. Man konnte die Handschrift als eine Art Bilderbuch verwenden.

Henkels Buch ist im De Gruyter Verlag erschienen und wurde vom Mediävistischen Institut der Universität Freiburg in der Schweiz herausgegeben. Der Band ist gebunden, 92 Seiten stark und gliedert sich in die Begrüßung des Gastprofessors durch Martina Backes, den Hauptteil, in welchem Nikolaus Henkels Beschreibungen zur ehemaligen Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘ zu finden sind, exemplarische Abbildungen jener Handschrift, einem Lebenslauf von Nikolaus Henkel sowie seiner Publikationsliste.

Interessant ist der Buchaufbau, denn schon das Inhaltsverzeichnis liest sich wie die Mitschrift eines Vortrags und ebenso erscheint auch der erste Teil des Bandes, die Begrüßung, einem Vortrag gleich, denn sie startet mit den Worten „Meine Damen und Herren“, worauf eine tatsächliche Begrüßungsrede folgt, die an den Inhaber der 17. Wolfgang Stammler Gastprofessur und das Plenum gerichtet ist. Enthalten ist darin beispielsweise eine kurze Vorschau auf den nächsten Gastdozenten sowie eine Aufzählung der bisherigen Forschungsarbeiten und beruflichen Stationen Nikolaus Henkels sowie der Titel des Vortrags. Dieser leitet das dazugehörige Blockseminar Henkels „Lesen und Erkennen – Kognitive Potentiale in Texten und Bildern des deutschen Mittelalters“ in Freiburg (CH) ein: „Lesen in Bild und Text: Die Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘“.

Zum Abschluss der Begrüßung wird eine Verortung von Henkels Thema in den Gesamtrahmen der „Aufgabe, Verpflichtung und Praxis“ des Instituts für Germanistische Philologie der Universität Freiburg (CH) sowie der Gastprofessur in der Folge Stammlers vorgenommen. Bemerkenswert ist die Umsicht, mit welcher Nikolaus Henkel vorgestellt worden ist, denn es werden Fäden zwischen seinen Forschungen sowie dem Gegenstand des Vortrags bzw. des Aufsatzes gesponnen. Dies verdeutlicht eine sehr fundierte Kenntnis der Bilderhandschrift sowie der Arbeitsweise und Vita Nikolaus Henkels auf Seiten der Begrüßungsrednerin, Martina Backes.

Anschließend folgt der Aufsatz Henkels, welcher Hauptteil und eigentlicher Gegenstand des Buches ist. Hierbei wird kaum noch ein Vortragscharakter imitiert; es wird eher ein längerer Aufsatz dargeboten, der auf 51 Seiten die ehemalige Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘ beschreibt und Parallelen zu anderen Bilderhandschriften sowie Spruchbandtexten in anderen Bilderhandschriften et cetera aufzeigt. Henkel beleuchtet in seiner Analyse unterschiedliche Aspekte: Zuerst erörtert er die „Rahmenbedingungen von Schriftlichkeit, Textillustration und Literatur als Zeugnissen der spezifischen historischen Situation um 1200“, danach werden bestimmte „Realien zum Autor und zur Entstehung der ‚Maria‘“ aufgezeigt, ehe er auf die Quellensituation sowie auf die Charakteristika „der Handschrift und ihrer Miniaturen“ eingeht. Anschließend widmet sich Henkel in seinem Aufsatz der reflektierenden Betrachtung der Abfolge von Text und Bildern und erörtert, inwieweit hinter dieser Abfolge eine planende Gestaltung gestanden hat und welchen „Beitrag die in die Miniaturen eingelagerten Spruchbänder und ihre Texte geben“. Zum Abschluss seines Artikels ediert Henkel die Spruchbandtexte und fügt Übersetzungen hinzu.

Henkels Aufsatz ist durchgehend sehr gut recherchiert und beweist eine umfassende Arbeitsweise. So beschreibt er beispielsweise nicht nur Wernhers ‚Maria‘, sondern auch ähnliche Bilderhandschriften aus der gleichen Entstehungszeit. Ebenso berücksichtigt er Gattungsphänomene in seinem Aufsatz und vergleicht diese beispielsweise in Bezug auf das Auftreten eines Textes in unterschiedlichen Fassungen. Er beschreibt die Entstehungsumstände und weist auf die kultisch anmutende Verwendung der ‘Maria’ im Volksglauben hin: „wo eine Frau bei ihrer Niederkunft die drei Bücher der Mariendichtung in ihrer rechten Hand hält, werden die Geburtsschmerzen verkürzt“. Weiter beschreibt Henkel die Quellen und die Ausweitung des ‚Maria‘-Stoffes bei Wernher im Gegensatz zu dessen Vorlagen. Im Zuge dessen geht er nochmals näher auf die Fassungen des Textes und auf die Bedeutung der Rezeptionsgeschichte ein.

Henkel weist auf Besonderheiten der Überlieferungsträger der ‚Maria‘ hin: Beispielsweise auf das jeweils kleine Format der Handschriften und die „einspaltige Notierung in durchgeschriebenen Versen“. Die Handschrift sowie deren heutigen Standort und Zustand beschreibt Henkel sehr genau und zeigt Parallelen beim Beschreibstoff fast aller deutschsprachigen Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts auf. Auch weist er nach, dass die ehemalige Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘ in ihrer Blattgröße beschnitten ist. Henkel beschreibt die Handschrift von Text und Spruchband und erwähnt die kunsthistorische Einordnung der Handschrift in den Regensburger Raum um 1220.

Der reich ausgeführte Buchschmuck der Handschrift findet in Henkels Aufsatz ebenfalls Erwähnung. Ebenso widmet er sich den „85 in den Text eingelagerten Miniaturen“ und erläutert deren Ausrichtung, Ausführung und Positionierung. Henkel beschreibt die Farben der Zeichnungen, die Gestaltung des Bildgrundes und geht ausführlich auf die Verwendung der Farben Gold und Silber ein. Henkel schildert anschaulich mit welch findigen Ideen der Miniaturmaler den recht übersichtlichen Raum, der für die Zeichnungen zur Verfügung stand, immer wieder über seine eigentlichen Ränder hinaus ausgedehnt hat: „Nahezu durchgängig beobachten wir, dass die Bildrahmen zwar das Zentrum der Handlung begrenzen, nicht jedoch den Bewegungsspielraum der Figuren oder die Ausdehnung baulicher oder sonstiger Bildelemente einschränken.“ Hier geht Henkel auch auf die Abfolge der Arbeitsgänge ein, die sich aus dem Aufbau der Miniaturen ableiten lassen.

Der Aufsatz widmet sich ebenfalls dem Prozess der Findung der angemessenen Größe und Ausrichtung der Miniaturen: Dieser Prozess lässt sich nach Henkel anhand der Abfolge der Miniaturen nachvollziehen, da die ersten Miniaturen (mit sehr wenigen Ausnahmen) andere Größenverhältnisse und eine andere Ausrichtung aufweisen als spätere Miniaturen. In diesem Zusammenhang beschreibt Henkel besonders diejenigen Miniaturen, die auf einander gegenüberliegenden Handschriftenseiten positioniert sind – (meist) im letzten Drittel der Handschrift zu finden. An der dadurch aufgebauten engen Verknüpfung zwischen Text und Bild haben die Spruchbänder, mit denen etwa die Hälfte der Miniaturen ausgestattet ist, einen starken Anteil. Vor allem im Bezug auf die Verwendung der Handschrift ist dies relevant, denn die Spruchbänder eröffnen die Möglichkeit, die Handschrift nicht nur zu lesen, sondern sie ebenfalls, den Inhalt memorierend, als „Bilderbuch“ zu benutzen. Die Tatsache, dass es sich bei der Einrichtung der Seiten um einen Findungsprozess zu handeln scheint, lässt darauf schließen, dass die Handschrift nicht von einer Vorlage abgeschrieben wurde – was die Miniaturen anbelangt.

Bevor Nikolaus Henkel am Abschluss seines Aufsatzes eine Auflistung und inhaltliche Beschreibung sämtlicher Miniaturen sowie die Edition der Spruchbandtexte der Handschrift D von Priester Wernhers ‚Maria‘ bietet, widmet er sich den Spruchbändern. Er beschreibt diese und erläutert deren Bedeutung sowohl für den Inhalt der Handschrift als auch für die Benutzung derselben noch einmal genauer: So formuliert er drei Annahmen zur Benutzung der Handschrift und zum möglichen Benutzungszusammenhang in welchem die Spruchbandtexte gestanden haben könnten. So könnte das Bucht in der Liturgie seinen Einsatz gefunden haben; weiter ist es möglich, dass es ein Buch zur privaten Erbauung (vermutlich) des weiblichen Laienadels war; es könnte aber auch als reines ‚Bilderbuch‘ zum Memorieren der bereits bekannten Erzählung der ‚Maria‘ genutzt worden sein. Die mögliche Nutzung der ‚Maria‘ als „Bilderbuch“ macht Henkel auch in Abgrenzung zu anderen Bilderhandschriften, beispielsweise denjenigen ohne Texte oder denjenigen mit deiktischen Bildunterschriften, deutlich.

Henkel arbeitet ergänzend funktionale Aspekte der Spruchbänder und ihrer Texte heraus: So können die Spruchbänder konzeptionelle Teile der Bildgefüge innerhalb der Miniaturen sein und teilweise auch eine bildkonzeptionelle Funktion aufweisen: Sie nehmen beispielsweise eine architektonische Funktion ein, indem sie ein Gewölbe darstellen. Auch eine semantische Funktion kann von den Spruchbändern ausgefüllt werden: Wenn sich Ansprechender und Antwortender bei einer Unterredung einig sind, wird dies beispielsweise mit einander kreuzenden Spruchbändern deutlich gemacht – wenn Uneinigkeit herrscht „werden die Spruchbänder getrennt voneinander geführt“. Zudem sind die Spruchbandtexte wichtig, um ähnliche Bildtypen voneinander zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu wird kein Spruchbandtext benötigt, wenn die dargestellte Szene eindeutig greifbar ist, wie beispielsweise bei der Verkündigung an Maria.

In einem Fazit wird noch einmal auf die Vorteile einer bebilderten Handschrift im Gegensatz zu einer reinen Texthandschrift eingegangen sowie auf den Mehrwert der Spruchbandtexte innerhalb der ehemaligen Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘.

„[Z]um ersten Mal in der Überlieferungsgeschichte deutschsprachiger Bilderhandschriften lässt sich (…) dieses Zusammenwirken von erzählendem Text, Bilderzählung und Spruchbändern beobachten“. Damit endet Henkels Beschreibung der Handschrift, ihrer Entstehung et cetera. Im darauffolgenden Abschnitt widmet er sich der Edition der Spruchbandtexte und der Beschreibung der Miniaturen beziehungsweise der darauf dargestellten Szenen.

Die Edition erfolgt laut eigenen Angaben diplomatisch, wobei Abbreviaturen und Schaft-s aufgelöst worden sind, was Henkel allerdings nicht erwähnt. Jedoch verweist er darauf, dass er an einigen Stellen „die sonst üblichen Reimpunkte ergänzt“ hat. Wenn Henkel anderes ediert, als die Handschrift hergibt, wie beispielsweise zu Abbildung 69 – hier wurde ein Wort weggelassen – oder zu Abbildung 33 – hier hat er dem mit den ediert, wird dies in den Anmerkungen kommentiert. Ebenfalls in den Anmerkungen zu finden sind weiterführende Hinweise beispielsweise zur besseren Lesbarkeit der Handschrift, wenn man sie um 180° dreht oder Verweise auf ähnliche Bildertypen.

Insgesamt ist Henkels Aufsatz zur ehemaligen Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘ sehr gut gestaltet. Der Text ist knapp gehalten und damit auf das Wesentliche reduziert. Die Ausführungen bieten jedoch an relevanten Stellen weiterführende Hinweise beispielsweise Reflexionen über andere Bilderhandschriften et cetera. Das Buch ist empfehlenswert, wenn man sich über die Handschrift D der ‚Maria‘ informieren möchte und wenn man Interesse an Bilderhandschriften allgemein sowie Spruchbandtexten in Bilderhandschriften im Speziellen hat. Handwerklich sind die Editionen sehr gut ausgeführt worden und die teilweise vorhandene Vergleichbarkeit der Editionen mit den exemplarischen Abbildungen von 12 Miniaturen wird jeden Editor mittelhochdeutscher Texte erfreuen. Abgerundet wird der Band mit Henkels Lebenslauf sowie seiner Veröffentlichungsliste, womit dem eigentlichen Anlass der Herausgabe des Buches, die Würdigung von Nikolaus Henkels Arbeit sowie die Verdeutlichung der Relevanz des Inhabers der 17. Wolfgang Stammler Gastprofessur für die germanistische Mediävistik Deutlichkeit verliehen wird.

Das Buch ist für ein Fachpublikum herausgegeben worden und damit für Laien weniger relevant, da für eine populärwissenschaftliche Nutzung zu sehr in die Tiefe gegangen worden ist. Jedoch ist der Band auch so angelegt und entspricht damit voll den Erwartungen, die an das Buch gestellt werden können. Leider sind nicht alle Miniaturen abgebildet worden, was wahrscheinlich auf die hohen Kosten zurückzuführen ist. Jedoch wird in Anmerkung 77 beziehungsweise 18 und 42 auf Ausgaben mit sämtlichen Miniaturen beziehungsweise entsprechende Digitalisate der Miniaturen verwiesen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Nikolaus Henkel: Lesen in Bild und Text. Die ehemalige Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ,Maria´.
De Gruyter, Berlin 2013.
91 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783110335026

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