Frida und Fukushima

Lucy Fricke wagt mit „Takeshis Haut“ ein wildes Literatur-Sampling

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die Literatur sich eine Synthesetechnik wie das Sampling aus der Musik entleiht, kann sie ihre kompositorische Kraft vervielfältigen und das Assoziationsfeld erweitern. Die Autorin Lucy Fricke arbeitet mit ihrer „postmodernen Kulturtechnik“ (Jochen Bonz) wie ein Sampler-Spezialist: Sie sucht sich eine Reihe von charakteristischen Themen und Motiven, um eine dem beschleunigten Rhythmus der Zeit angeglichene Textmelodie zu komponieren – in diesem Fall einen hektischen apokalyptischen Beat. Zum Klang dieser Soundscape tritt Frickes Protagonistin Frida, eine Frau, die bald vier Dekaden hinter sich hat, mehr oder weniger prekär und sich selbst ausbeutend als „Tonfuzzi“ in der Kreativindustrie tätig, eine Reise nach Japan an.

Am Ende

Es sind die Mechanismen der sogenannten Kreativszene in Deutschland im Besonderen und die Konventionen der deutschen Mittelschicht im Allgemeinen, die Frida an den Rand der Verzweiflung getrieben haben. Sie, eine sensible, exaltierte Klangkünstlerin, findet den größten Sinn in einer perfekt erstellten Hörkulisse. Die Umgebung würdigt dies nur selten und macht es ihr auch anderweitig nicht leicht. Längst ist sie unzufrieden mit dem Alltäglichen, mit dem erschreckend Absehbaren und Unästhetischen, mit Alterungsprozessen und paralysierenden Routinen.

Lebensbilanz „Liebe“: Partner Robert denkt rational, gibt Halt, wartet geduldig auf ihren Heiratsantrag, zeichnet sich allerdings auch dadurch aus, dass er mit Schürze im Küchendunst steht und vor dem Zubettgehen Hose samt Gürtel auf den Boden wirft – ein schlaffes Ensemble, das Zweifel aufkommen lässt. Freunde: Der Bekanntenkreis verkörpert Spießigkeit, Kontrollwahn und das neopuritanische Askese-Ideal der postbildungsbürgerlichen Nichtproletarier, deren notorische Freudlosigkeit nur von Heuchelei und Feigheit übertroffen wird. Kollegen und Mitarbeiter sind also entweder „Arschlöcher“, schmerzbefreite Opportunisten oder Schleimer. Beruf: Manch pekuniär dürftig dotierte Arbeitsaufträge kann man ablehnen, manch besser bezahlte sollten aus finanziellen Gründen übernommen werden. Low Budget heißt das Prinzip der Kulturproduktion, Kunst gilt derzeit nicht viel im Land der Dichter und Denker. Kaum jemand widersteht deshalb dem Rattern von Scheinen aus einem Geldautomaten. Dem Aufrechten bleibt nur die Rolle des Zynikers, was langfristig aufs Gemüt schlägt. Frida sieht sich als „depressives Miststück“, braucht Geld und hofft auf eine Katastrophe, die sie vom eigenen Elend befreit.

In Japan

Die angekündigte großzügige Entlohnung und die Neugier auf ein unbekanntes Land bewirken, dass die Heldin sich einem ungewöhnlichen Auftrag widmet: der kompletten Rekonstruktion des O-Tons für einen seltsamen dystopischen Film über ein „verwesendes“ Land, in dem die Menschen Schutz-Kuppeln bewohnen. Frida erlebt ihr eigenes „Lost in Translation“ – zunächst in Kyôto – während sie die Geräuscheliste des Regisseurs und reichen Diplomatensohns Jonas abarbeitet: Shinkansen, Waten durch Reisfelder, Glücksspielmaschinen, der Kamogawa-Fluss an einem Regentag, Gesang im Tempel oder einen in westjapanischem Dialekt sprechenden Getränkeautomaten.

Frida versucht, sich an die Fremde anzupassen. Auch ihr Präzisionsgerät scheint Schwierigkeiten zu haben – eine Störfrequenz verhindert die perfekte Tonqualität. Der mobile Recorder weist eine „Unheimlichkeit“ auf, er hört offenbar das „Land“, wie ein alter Concierge (Takeshis Vater) meint. Ein Freund erscheint: der schöne Takeshi. Frida und der Text nehmen Fahrt auf. Selbstverständlich kommt es bald zu sexuellen Handlungen. Takeshi, einst Geiger, ist hauptberuflich Punksänger (was will man mehr!). Japan soll voll und ganz erspürt werden. Während die Kontinente und ihre imaginierten Humanexponenten allegorisch aufeinanderprallen, das gehetzte Europa und das ästhetisch-fatalistische Asien, bekommt man östliche Weisheiten als Zugabe: „Die Dinge passieren […], mit Angst, ohne Angst. Angst ändert nichts“. Der Rausch durch Sake und Sex bringt temporäre Erlösung von der Traurigkeit, der Tod ist „egal“. Dann geschieht die Dreifachkatastrophe im Norden, die Erde hebt sich aus ihren Angeln, das Wasser räumt sich seinen Weg frei, die radioaktiven Elemente erzeugen die Kernschmelze und gebären ein ewiges Feuer, welches die persönliche Not auf Stecknadelkopfgröße verkleinert. Die Apokalypse nimmt Gestalt an als „Collage eines Alptraums“, der sich als Wirklichkeit erweist.

Fukushima fordert viele Seelen, in Japan wartet man still auf Opferlisten – 10.000 Menschen gelten als vermisst. In Deutschland wiederum Hektik, Panik und dringende Aufforderungen, sich in Sicherheit zu bringen. Frida betet mit den Fröschen. Takeshi singt auf einem Konzert in Osaka, multipliziert sich im Sangesrausch, der alles umfasst. Am nächsten Morgen fliegt die Tonspezialistin zurück nach Deutschland.

Am Anfang

Bei der Einreise in Frankfurt behandelt man Frida wie Sondermüll, während der Beamte in Japan wenigstens nur ihrem Koffer misstraut hatte. Zuhause fühlt sich die Protagonistin nicht, auch nicht, als die Tage vergehen, in Sorge um Takeshi und zunehmend entfremdet von Robert, den Freunden und ihrer schwierigen Mutter. Jonas offenbart, er liebe Takeshi ebenfalls. Fricke notiert, dass deutsche TV-Korrespondenten Tokio verlassen und Robert Frida verlässt, die ihre nervliche Kritikalität erreicht hat. Sie steigt in ein Flugzeug, um bei Takeshi zu sein. Der berichtet, er habe den Arm seines Vaters begraben, er sagt auch, er könne sich vorstellen, an einem anderen Ort zu leben, doch es sei keine schöne Vorstellung. Er entscheidet sich für ein japanisches Leben, für die Heirat mit seiner alten Schülerliebe, für ein festes Fundament. Die Heldin steht wieder am Anfang, vor sich eine Tüte mit Tomatenbier.

Sample-Kunst

Es ist im wahrsten Sinn des Wortes ein fulminantes Stück, das die Sample-Schriftstellerin zusammensetzt. Der Hauptrhythmus hat viel von Haruki Murakami, das Gerüst besitzt Streben aus Manga-Material und zahlreiche Anspielungen lassen Motive der japanischen Literatur aufscheinen: das Telefon ins Nirgendwo, Kochen und Biertrinken, verschwundene Personen, Frauen mit seelischen Verletzungen (Murakami), ein isolierter Arm (Yasunari Kawabata), ein über sämtliche Höllen hin explodierender (nackter) Punker (Gen’yû Sôkyûs „Das Fest des Abraxas“), eine bisexuelle Leidenschaft (Hitomi Kanehara), ein geheimnisvoller Alter, der elektronische Utensilien behütet (Hiromi Kawakami). Die titelgebende zarte Haut des Japaners korrespondiert als Leitmotiv ebenso wie die Figur einer traumatisierten Frau und der verschränkte Mediamix-Ansatz (geplanter Film über Hiroshima, Stimme der Heldin als Voice-Over) mit den Beschreibungen von Marguerite Duras’ Meister-Drehbuch „Hiroshima, mon amour“ (1959).

Als gängiges Klischee wird auch ein Japan zitiert, das rätselhaft bleibt, und einen ratlos zurücklässt. Japan als Korrektur eigener Unzulänglichkeiten, als Erziehungslager für unreife Charaktere, als temporärer Rausch mit herbem Erwachen, als Schicksalsmacht, die selbst oft genug einer schlimmen Fügung anheimfällt. Erklärt man sich überhaupt damit einverstanden, „Fukushima“ als Kulisse für eine Identitäts-, Liebes- und Glückssuche zu wählen, besitzt „Takeshis Haut“ in der Tat eine feine Struktur, eine gut klingende Sprache. Nur selten stimmt ein Element vielleicht nicht ganz mit dem beabsichtigt hyperrealistisch-treibenden Gesamtklang überein, was aber bei der Fukushima-Thematik kaum erstaunt. Sein Geld ist das Buch – das seinen Warencharakter durchaus ironisiert – jedenfalls wert, auch wenn die Verlagswerbung den Satz bringt: „Ein Buch, das bebt.“

Titelbild

Lucy Fricke: Takeshis Haut. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
192 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783498020163

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