Herz-Solo

Deutsch-deutsches Liebespuzzle: Gregor Sanders zweiter Roman „Was gewesen wäre“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sammelt jemand dämliche Wessi-Sätze? In Gregor Sanders neuem Roman würde er fündig werden. „Meine Freundin ist aus Ostdeutschland, und ich wollte mit ihr mal nach Osteuropa fahren“ – so erklärt Paul an der Bar zwei anderen deutschen Gästen seinen Aufenthalt im Budapester Hotel Gellért. Unerwähnt bleibt der Extra-Kick, weil in der berühmten Therme dieses Hotels deutsche Versicherungsfritzen gern bunte Bändchen verteilen. Doch erweisen sich Pauls Reise-Motive schnell als genauso ironisch wie das „unrenovierte Zimmer“, das er extra für sich und seine Astrid ausgesucht hat: „Das ist wenigstens immer noch ordentlich ostig“.

„Ordentlich ostig“, nur ganz anders als erwartet, ist dann auch das, was diese Reise, ein Geburtstagsgeschenk („Du kennst dich doch dort aus“), über die Vergangenheit seiner neuen Freundin enthüllt: Wie es der Zufall will, ist einer der Männer an der Bar Julius, Astrids verflossene Liebe aus DDR-Zeiten. Ein Wiedersehen, über zwanzig Jahre nachdem sie und Julius selbst einmal, im Sommer 1987, in diesem Hotel ein Zimmer genommen haben. Schlagartig reißt die Begegnung die geschiedene Ärztin und zweifache Mutter in einen Strudel aus Schuldgefühlen, längst „amputiert“ geglaubter Zuneigung und den Gespenstern der Vergangenheit. Er zeigt auf eindringliche Weise, wie die deutsch-deutsche Geschichte bis heute Gefühlsleben beeinflusst und Biografien verbiegt.

Eben davon handeln praktisch alle Werke von Gregor Sander. Mittlerweile liegen von dem in Berlin lebenden Autor zwei Romane und zwei Erzählbände vor, die mit ihrer reduzierten, lakonisch-spröden Sprache an den Schweizer Peter Stamm erinnern. Sanders Figuren sind, wie der 1968 in Schwerin geborene Autor selbst, Vertreter der „Generation Wende“: in der DDR geborene Mittvierziger, die beim Mauerfall gerade erwachsen wurden. Weshalb man sagen könnte, Sanders Werk ist eine Art literarische Parallelaktion zur „Sächsischen Langschnittstudie“, die seit Jahrzehnten die Lebenssituation, Zukunftsvorstellungen und politischen Einstellungen dieser Generation verfolgt.

Wie schon Sanders erster Roman „abwesend“ (2007) gleicht auch „Was gewesen wäre“ einem Puzzle, das der Leser nach und nach zusammensetzen muss. Im kapitelweisen Wechsel wird zum einen von Pauls und Astrids Budapest-Reise erzählt, im Präsens und mal aus seiner, mal aus ihrer Sicht. Und zum anderen von Astrids Vergangenheit: beginnend mit einem Sommerfest Anfang der 1980er-Jahre an einem See in Neubrandenburg, auf dem sich die damals 16-jährige „Assi“ in Julius Herne verliebt.

Dieser will Musiker werden – als Astrid ihn in Budapest wiedersieht, hat er längst keinen Sexy-Zopf mehr, sondern (zu Pauls Befriedigung) eine beginnende Glatze. Mit seinem Halbbruder Sascha betreibt er in einem Hamburger Nobelvorort eine Galerie für osteuropäische Kunst. Unnötig plakativ hat Sander seinen familiären Hintergrund ausgestattet: Julius hat nicht nur eine oppositionelle Künstlerin als Mutter, die in der DDR nicht mehr ausstellen darf. Sondern auch einen Raubtier-Kapitalisten als West-Vater, von dem es einmal heißt: „Das war einer, dem du dein Herz gibst, und du weißt, da macht der Hackfleisch draus, und du gibst es ihm trotzdem.“ So wie sich die Beziehung zwischen Julius und ihr entwickelt, fragt sich Astrid irgendwann, ob man dies nicht auch über seinen Sohn sagen muss.

Die Rückblenden sind aus Astrids Ich-Perspektive erzählt – warum, wird erst später klar: In einem Budapester Café holt Astrid das Versäumte nach und offenbart ihrem neuen Freund Paul ihr Vorleben. Stück für Stück bewegen sich die Rückblenden auf die Gegenwart zu und erzeugen dabei den veritablen Erzählsog des schmalen Romans. Werfen sie doch mit jeder weiteren Windung ein neues, unerwartetes Licht auf Astrids Gefühle und Gedanken.

In der Gegenwart weitet sie die Verengungen fremder Herzen als spröde Kardiologin so souverän, dass sich Paul unter ihren Händen prompt in sie verliebt hat. Astrid ist die erste Frau in seinem Leben, die „bleiben soll“. Lange denkt der Leser, der DDR-Hintergrund wäre für ihre Geschichte mit Julius gar nicht substanziell; das schon oft gelesene, von „Vielleicht“ und „Ich liebe dich nicht genug“ geprägte Hin und Her zweier Menschen, die auch dann nicht voneinander lassen können, als sie längst anderweitig gebunden sind, könnte ebenso gut im Westen spielen – bis die Beteiligten plötzlich, wie sie freilich erst nach der Wende erfahren, zum Spielball von Verrat und Stasi-Machenschaften werden.

Astrid trifft eine Entscheidung. Die fällt aber ganz anders aus, als ihre Freunde oder der Leser erwarten: Als sie 1988 ihre Tante im Westen besuchen darf, nutzt sie die Gelegenheit nicht, um zu bleiben, sondern kehrt in die DDR zurück – obwohl sie weiß, dass Julius zeitgleich über die ungarischen Grenze flieht, zu ihr, und sich damit endlich zu ihr bekennt. Niemand im Roman will das verstehen – weder damals, noch heute. In den Worten von Astrids Freundin Vera: „Der ist für dich damals über diese Wahnsinnsgrenze geflohen. Vorbei an Maschinengewehren und Minen und was weiß ich alles. Das ist das Romantischste, was ich je gehört habe … Und was macht Madame? Fährt einfach zurück in die Ostzone, als wäre nichts gewesen.“

Womit die Frage des Romantitels schon beantwortet zu sein scheint. Übersetzt bedeutet Astrids Entscheidung wohl so viel wie: Ob hüben oder drüben, diese Beziehung würde so oder so nicht funktionieren. Und was die Romantik angeht: „Dein Herz schlägt für dich … nur für dich“, erklärt sich Sanders erfrischend unromantische Heldin später selbst. Dass aber ihre Entscheidung für ein selbstbestimmtes Leben gleichbedeutend mit der Rückkehr in die DDR ist, macht gerade die leise Provokation von Sanders Roman aus. Freilich wird im Budapest Viktor Orbáns, wo sich auch für ungarische Intellektuelle die Frage „Bleiben oder gehen?“ stellt, Astrids Wahl noch einmal auf den Prüfstand gestellt, und auch der noch mächtig an Profil und Sympathie gewinnende Paul muss sich entscheiden.

Titelbild

Gregor Sander: Was gewesen wäre. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313590

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