Jenseits der offiziellen Historiografie

Irmela von der Lühe und Janusz Golec haben einen Band über Literatur und Zeitgeschichte herausgegeben

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Sammelband ist aus der langjährigen Zusammenarbeit zwischen FU Berlin und polnischen Universitäten entstanden, allen voran Lublin, dann Krakau und Lódz sowie zuletzt mit den ukrainischen Hochschulen in Kiew und Czernowitz. Thema aller Beiträge ist, kurz gesagt, die Bedeutung der Historie in literarischen Texten und für diese. Genauer formulieren die beiden Herausgeber in der Einleitung ihre Intentionen: „Welche Bedeutung der Literatur und literarischen Texten im Prozess der diskurspolitischen Umdeutung der Vergangenheit zukommt, welchen Anteil Autoren und Autorinnen an der ‚Zurichtung’ und Herstellung von Vergangenheit haben und wie sie mit der Produktion zeitlich geordneter, linearer und auch diskontinuierlich erzählter Geschichten Zeitgeschichte selbst gestalten, danach fragen mit unterschiedlichen Akzenten die Beiträge dieses Bandes. Dabei kann es um die Transformation von Geschichte in nationale Mythen oder es kann um große Ereignisse oder um alltagsgeschichtliche Phänomene gehen; nach Wunschbildern oder nach einer spezifisch poetischen Erfahrung von Geschichte lässt sich fragen. Die ethisch, ästhetisch und politisch jeweils neu zu beantwortende Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Wahrheit, nach der Konstruiertheit des für die Zeugnisliteratur so wichtigen Prinzips der Authentizität wird […] zum Thema.“

So weit, so gut aber doch so schwierig. Die angekündigte Vielfalt nämlich zeigt bereits in der an sich begrüßenswert große Auswahl von behandelten Texten ihre problematische Seite, steht dabei doch weniger ihre Qualität als vielmehr deren Nähe zum Thema der Historie im Vordergrund. So bietet der Band unter anderem Untersuchungen zu Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“, Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, Hermann Brochs Trilogie „Die Schlafwandler“, aber eben auch zu Arno Surminskis „Vaterland ohne Väter“ oder Jana Hensels „Zonenkinder“, was insgesamt wirkt, als stelle man „Krieg und Frieden“ mit dem „Kampf um Rom“ auf eine Stufe. Man fragt sich natürlich, welche Aufmerksamkeit mancher (N)ostalgie-Klassiker verdient und ob man nicht gleichsam offene Türen einrennt, wenn man dem heute bei der Leserschaft Gott sei Dank vergessenen DDR-Schriftsteller und IM Kurt David in seiner Novelle „Die Überlebende“ das Mitwirken am „antifaschistischen Gründungsmythos“ nachweist.

Bisweilen bleiben die Aufsätze eher deskriptiv, gehen kaum über eine Inhaltsangabe hinaus. Dies mag für den Leser hierzulande sinnvoll sein, liegen doch viele der behandelten polnischen Texte nicht in deutscher Übersetzung vor, ein Derivat, das angesichts der engen Nachbarschaft und der gemeinsamen Geschichte natürlich besonders schmerzlich ist.

Nicht ganz neu dürfte auch die Erkenntnis sein, die aus einigen Texten von Herta Müller gezogen wird: Dass das Wirken der totalitären Diktatur in besonderem Maße für das Werk der Nobelpreisträgerin prägend geworden ist. Deshalb erstaunt kaum die eher banale Feststellung, dass „scharfe Wirklichkeitsbeobachtungen ihr gesamtes Werk durchziehen“.

Vielfach erledigen die Autoren, allesamt Philologen, auch die Arbeit von Historikern, etwa Irmela von der Lühe in ihrem Beitrag über den historischen Hintergrund von Günter Grass’ „Im Krebsgang“. Impulsgebend ist bei ihrer verdienstvollen Recherche für von der Lühe die Tatsache, dass zwar im kollektiven Gedächtnis der Name der NS-Größe „Wilhelm Gustloff“ dank eifriger und nachwirkender Nazi-Propaganda noch einigermaßen verankert ist, aber kaum jemand den Namen des Mannes kennt, der durch sein Attentat auf Gustloff diesem erst zur Popularität verhalf. Eine didaktische Absicht wird auch in anderen Beiträgen spürbar, wenn etwa Renata Behrendt dafür plädiert, literarische Zeugnisse, zum Beispiel das lediglich im Archiv der Gedenkstätte Dachau niedergelegte nachgezeichnete Tagebuch von Anton Jez über seine Begegnung mit dem Architekten Boris Kobe im KZ-Stollen von Überlingen am Bodensee als historische Quelle anzuerkennen. Etwas bemüht und irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt allerdings der Versuch, einige Theoreme von Wilhelm Dilthey an den Endzeitromanen von Blochs „Die Schlafwandler“, Célines „Nord“ und Jáchym Topols „Die Schwester“ zu verifizieren.

Ein Dilemma des Unternehmens, das wohl der notwendigen Kürze der Beiträge geschuldet ist, wird immer dann deutlich, wenn zu Beginn eines Artikels brav das methodologische Vorgehen skizziert wird („in dem vorliegenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden“), dann aber etwa den oben genannten drei Monumentalwerken lediglich neun Seiten gewidmet werden. So können ebenfalls nur knapp zehn Seiten dem doch inzwischen sehr umfangreichen „Schaffen“ Uwe Timms gewidmet werden sowie der für dessen Werk konstitutiven Verbindung von „Zeitgeschichte und Alltag“.

Am überzeugendsten sind die Beiträge immer dort, wo sie festgefügte Deutungsmuster hinterfragen, etwa den Begriff der „Wendeliteratur“, und dessen Vielgestaltigkeit nachweisen, oder wenn sie Literatur als Spurensuche vorstellen, die einen eigenen Wahrheitsanspruch jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung vertritt.

Insgesamt erweist sich die Germanistik in Osteuropa, das belegt der vorliegende Sammelband trotz einiger Vorbehalte auch, als an der Gegenwartsliteratur interessiert und äußerst belesen, was sich nicht zuletzt in den überaus zahlreichen Fußnoten ausdrückt, vor allem natürlich dort, wo im literarischen Schaffen eine gemeinsame europäische Vergangenheit erkennbar und wirksam wird.

Titelbild

Janusz Golec / Irmela von der Lühe (Hg.): Literatur und Zeitgeschichte. Zwischen Historisierung und Musealisierung.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
242 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783631629550

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