Es hapert

Steffen Höhne und Ludger Udolph haben einen Band über Wirkung und Wirkungsverhinderung Franz Kafkas vorgelegt

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band beschäftige sich „vorwiegend mit den in der Regel vergeblichen Versuchen einer Wirkungsverhinderung bzw. den Versuchen einer Steuerung von Wirkung, fragt also danach, ob und auf welche Weise bestimmte Texte bzw. Äußerungen Kafkas zugänglich waren und welche damit verbundenen Sinn- und Bedeutungskomplexe in übergreifende literatur- und kulturpolitische Diskurse integriert worden sind“, schreiben die Herausgeber. Tatsächlich sind alle Beitragenden bestrebt, die verhandelten Kafka-Rezeptionen kulturpolitisch oder zumindest kulturell einzuordnen, wobei, für mich völlig unverständlich und vom Titel her auch nicht abzulesen, die Rezeptionen der damaligen Ostblockstaaten sowie die Interpretationen Kafkas als jüdischer Autor im Vordergrund stehen.

Natürlich, die Rezeption Kafkas in der UdSSR ist ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand, kann doch kaum besser gezeigt werden, wie „Kulturpolitik, Ästhetikdebatten und politische Auseinandersetzung ineinanderfließen und sich überdecken“. Doch ein derart dankbares Thema zieht eben auch die Horden an. So beschäftigen sich neben dem zitierten Michael Rohrwasser gleich sechs (!) weitere Beiträge des Bandes mehr oder weniger detailliert mit diesem Thema, insbesondere der sagenumwobenen Konferenz in Liblice: 1963 gehalten und Franz Kafka aus Prager Sicht in den Fokus stellend, ging es damals nach Manfred Weinberg vor allem darum, zu diskutieren, „wie eine Lektüre Kafkas zu den Bedingungen einer marxistischen Literaturwissenschaft aussehen könnte“. Eine Auseinandersetzung also, die bereits längst historisch geworden ist und die zudem, wie ein Blick in die langen Listen der ausgewiesenen Sekundärliteratur erahnen lässt, gebührend erforscht scheint; weshalb Manfred Weinberg ja auch seinen Beitrag mit der quasi-ironischen Beichte einzuleiten gezwungen ist, dieser sei „denkbar unoriginell“, was zuerst einmal recht erfrischend wirkt, aber letztlich rasch ranzig zu werden droht, da in der weiteren Argumentation ominös bleibt, welche Quellenerschließung oder innovative Großtat nun eine abermalige Analyse rechtfertigen könnte.

Was keinesfalls bedeuten soll, dass die einzelnen Beiträge nicht lesenswert, informativ und gut recherchiert sind. Allein, was hilft es, wenn zumeist sattsam abgeschlossene und/oder obsolet gewordene Diskussionen nochmals abgehandelt werden? Dies betrifft auch den jüdischen Diskurs: So zeigt etwa der verdiente Kafka-Veteran Richard T. Gray auf, wie die Emigranten Heinz Politzer und Walter Sokel nach dem Zweiten Weltkrieg das Kafka-Bild in Amerika maßgeblich prägten und sich „trotz ihrer bitteren persönlichen Erlebnisse als vertriebene deutsch-österreichische Juden dagegen gewehrt haben, Kafka und seine Kunst auf die Thematik des verfolgten Juden zu reduzieren“. Sander Gilman wiederum habe mit seinem 1995 erschienen Werk Franz Kafka, the Jewish Patient die Rezeption wieder auf den antisemitischen Aspekt verschoben und damit eine „frappante Wende“ eingeleitet, die Gray nicht unbedingt positiv beurteilt.

Das ist an sich alles richtig, aber nun auch schon, time flies!, zwei Jahrzehnte her und die amerikanische Literaturwissenschaft alles andere als untätig. Gray argumentiert jedoch, als habe sich seit 1995 nichts mehr getan. Was sich auch mit einer Darstellung der Kafka-Rezeptionen in den Ostblockstaaten deckt, die notgedrungen allerspätestens Mitte der 1990er-Jahre endigten, da den Rezipierenden der spezifische politisch-kulturelle Hintergrund bekanntlich verlustig ging. Da wäre es sicherlich weitaus interessanter, eben hier anzusetzen und die Auseinandersetzungen mit Kafka während dieser Umbruchs- und Transformationszeiten zu untersuchen: Wie Kafka also von den ehemaligen DDR-Literaten nach der Wende rezipiert wird; oder von den Russen – Vladimir Sorokin drängt sich hier auf, dessen Schneesturm sicherlich (auch) Kafka-Referenzen verhandelt.

Stattdessen schließt Klaus Schenk, der Kafka-Rezeptionen als intertextuelle Bezugnahmen diachron behandelt, auch seine Darstellung im Jahre 1997 ab, nämlich mit Libuše Moníková. Auch zuvor hat er wenig Neues zu vermelden: Peter Handke, Martin Walser, Eckhard Henscheid und so weiter, dieses recht willkürlich sortierte Kaliber als Primärliteratur, dazu Julia Kristeva und Renate Lachmann zur theoretischen Grundierung, also makellose ‚Intertextualität‘, hier Hypertextualität genannt – und letztlich ist das alles doch derart 90er Jahre, was denn auch die Literaturliste bezeugt.

Dabei ist gerade zur Jahrtausendwende eine aufschlussreiche Wende in den literarischen Kafka-Rezeptionen zu beobachten, welche die Hauptthese Schenks, es nämlich mit Hypertextualität und eben nicht produktionsästhetischen Diskursen zu tun zu haben, zumindest herausfordert. Der Artikel firmiert nun unter dem Großkapitel „Frühe Rezeption und Wirkung“, doch, diese Frage sei erlaubt, warum eigentlich? Warum also geht es nicht aktueller? Die Kafka-Rezeption Handkes beispielsweise ist ja bereits ausführlicher und besser an anderer Stelle vermittelt, auch Martin Walsers Umgang mit Kafka scheint genügend abgearbeitet, weshalb es allein bei der Wiederholung bleibt, die auch theoretisch mit eher altbackenem Werkzeug verortet werden soll.

Nun, liest man den Band eben wohlwollend als Sammlung von historischen Wirkungsverhinderungen bis hin zur Jahrtausendwende mit Schwerpunkt Ostblock sowie Kalter Krieg und stellt sich außerdem vor, er wäre nicht 2014, sondern 2002 veröffentlicht worden – wobei wirklich zu fragen ist, ob selbst zu jenem Zeitpunkt eine nochmalige Darstellung dieser Komplexe tatsächlich nötig gewesen wäre. Doch auch dann erschließt sich die weitere Auswahl nicht: Warum, recht unvermittelt, zwei Texte über die japanische Rezeption? Und Frankreich, zweimal eingestreut und mit übrigens wunderbaren Thesen gespickt, wobei vor allem die Abrechnung Marie-Odile Thirouins herausragt, die endlich einmal diese unsägliche These der kleinen Literaturen von Gilles Deleuze und Félix Guattari dorthin schreibt, wohin sie gehört, ins Land der „Ignoranz und Manipulation“ nämlich. Also doch eine das Umfassende anstrebende Übersicht mit unglücklich gewählten Schwerpunkten und seltsam rückständigen Themen? – Es hapert.

Was fehlt? Erstens der hochinteressante und quicklebendige asiatische Raum. Ja, ans Ende des Bandes sind die beiden erwähnten knappen Darstellungen japanischer Rezeptionen geklebt, sich auf die Zeit um den Zweiten Weltkrieg und die 1960er-Jahre fokussierend, doch ist dies zu oberflächlich[1] und zudem willkürlich mit der Rezeption des Ostblocks verknüpft, ohne dies zu motivieren und im Verlauf zu stützen. Wo also ist China? Natürlich, jeder vermisst immer etwas, aber angesichts der nun einmal vorherrschenden thematischen Ausgangslage des Bandes mit dem Schwerpunkt UdSSR drängt sich ein Vergleich dieser Rezeptionsbewegungen mit denjenigen Chinas notwendigerweise auf und wird geradezu schmerzlich ersehnt – man bedenke die dringend zu untersuchenden chinesischen Kafka-Bezüge vor, während und nach der Kulturrevolution; oder, man möchte mit der Zunge schnalzen, wie Zhu Wen in I Love Dollars mit Kafka’scher Brille den kommunistischen Turbokapitalismus chinesischer Prägung eindrücklich-witzig bannt. Hier ist eine deutliche Lücke.

Wie auch angesichts der zweiten, ungleich komplexeren Ebene der Prämisse einer Wirkungsverhinderung Kafka’schen Denkens und Schreibens: Spricht man nämlich von Wirkungsverhinderung, sollte man sich selbstverständlich darüber Gedanken machen, von welcher Wirkung überhaupt die Rede ist. Sartre geht bereits 1962, wie in gleich mehreren Texten des Bandes erwähnt wird, anlässlich des Weltfriedenskongresses auf die These ein, Kafka sei eine Waffe des Westens und müsse infolgedessen von westlicher Ideologie befreit werden. Natürlich ist dies ideologisch aufgeladene Kriegsmetaphorik, gleichwohl nicht ganz aus der Luft gegriffen: Natürlich hat sich auch der Westen ‚seinen‘ Kafka zusammengebastelt, damit Wirkungen manipuliert und verhindert, dies teilweise auch unter dem Einfluss des Kalten Krieges – ein kaum bearbeitetes, ein weites Feld. Abseits der historischen Verortung weist Bernd Neumann in seiner ebenfalls 2014 erschienen Darstellung Franz Kafka und der Große Krieg allgemein darauf hin, dass auch wir als Vertreter mitteleuropäischer Deutungstradition einer Wirkungsmanipulation ausgesetzt sind: „Denken wir einmal so“, fordert er, „wie wir schon als Studenten […] verlernt haben zu denken, nämlich räumlich-konkret statt metaphysisch-abstrakt.“[2] Und es hebt ja bereits in der Schule an, in welcher nach Maßgabe des Lehrplans ein spezifisches Kafka-Bild vermittelt wird, welches dann natürlich die Rezeption und auch das Schreiben über andere Rezeptionen bedingt – unbewusst zumeist. Dies ist sicherlich ein vertrackter Sachverhalt, der aber von der allgemein anerkannten Deutungsoffenheit Kafka’scher Prosa geradezu bedingt wird: Nämlich den eigenen Standpunkt zu reflektieren.

So wäre es wünschenswert und dringend angezeigt, würde ein Band über Wirkung und Wirkungsverhinderung, welcher 2014 auf den Markt kommt, diese Problematik zumindest andeuten. Auch könnte auf diese Weise eine Transformation der, wie gesagt, recht altbackenen Thesen ins Originelle erreicht und der Band insgesamt weitaus nachhaltiger legitimiert werden. Eine Angelegenheit sicherlich vor allem der Herausgeber, deren vordringliche Aufgabe es gewesen wäre, die Beiträge in einen Gesamtzusammenhang zu bringen und diesen gescheit zu motivieren. Das nur dreiseitige Vorwort aber überlässt es den Beiträgern, jeweils für sich einen Ausschnitt des komplexen Phänomens der Kafka-Rezeption anzureißen – und lässt den Leser dann mit dem Konvolut allein, was, nun ja, wiederum auch eine Wirkungsverhinderung markiert.

Anmerkungen:

[1] Es ist und bleibt übrigens ein Rätsel, aus welchem Grund in jeder Darstellung einer (japanischen) Kafka-Rezeption auf Haruki Murakamis Kafka am Strand hingewiesen wird – so auch in Takashiro Arimuras Artikel: So sei der Roman eine deutliche Kafka-Rezeption, vor allem des Verschollenen. Und ist es eben nicht – da bin ich mir so sicher, dass ich getrost 100 Euro ausloben kann, die ich an denjenigen bar aushändige, der mir eine schlüssige Darstellung einer derart gestalteten Kafka-Rezeption zuzusenden vermag.  

[2] Neumann, Bernd: Franz Kafka und der Große Krieg. Eine kulturhistorische Chronik seines Schreibens. Würzburg 2014, S. 377.

Titelbild

Steffen Höhne / Ludger Udolph (Hg.): Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2014.
440 Seiten, 54,90 EUR.
ISBN-13: 9783412223366

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