Surreal? Aber klar!

Marie NDiayes meisterlicher neuer Roman „Ladivine“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein bemerkenswerter Roman, den Marie NDiaye mit „Ladivine“ vorgelegt hat. Die Kritik ist voll des Lobes, für den Roman, aber auch für die im Sommer erschienene Übersetzung Claudia Kalscheuers. Dieses Lob kann man nur teilen, doch es bleibt etwas an diesem Roman und mehr noch an dessen Kritik, das der Diskussion bedarf. Dieses „Diskussionswürdige“ betrifft die bereits auf dem Klappentext der französischen Ausgabe erwähnten „fantastischen“ Elemente des Romans, deren Betrachtung in den Rezensionen durchaus variiert: So zeigt sich Lena Bopp von der FAZ, die stellenweise begeistert von NDiaye und „Ladivine“ spricht, nicht eben angetan von den surrealen Elementen des Romans, die ihr ein „Trick“ scheinen, „auf den man hätte verzichten können“. Ulrike Baureithel gibt im Tagesspiegel zu bedenken: „Man kann das auf den schwarzen Kontinent transferierte ‚Nichttatsächliche‘ problematisch finden und den Schluss kitschig.“ Und Ina Hartwig in der Süddeutschen formuliert: „Nicht jeder ist mit diesen magischen Anteilen im Erzählen der Marie NDiaye einverstanden, aber sie gehören zu ihr wie der Klassizismus ihrer Sprache.“

Merkwürdig, da wird ein Roman mitunter vehement gelobt, von dem nicht unwesentliche Elemente als problematisch, entbehrlich oder jedenfalls keiner näheren Begründung zugänglich empfunden werden. Nun sollte man die Vorstellung einer ästhetischen Geschlossenheit literarischer Werke sicher nicht überbewerten, aber NDiayes Roman ist von einer derart bestechenden erzählerischen Souveränität, dass es schlicht schwer nachvollziehbar scheint, einen ganzen Motivstrang des Romans als verzichtbar zu betrachten. Worin die ästhetische Funktion besagter „fantastischer“ Elemente liegt, ist gleichwohl alles andere als einfach zu beschreiben.

Ohne Zweifel lässt sich sagen, dass NDiaye das Irreale nicht dazu nutzt, um eine geschlossene Gegenwelt aufzubauen. Anders als im Märchen, wo das Irreale von allen Figuren akzeptiert wird, bricht es in „Ladivine“ in eine eigentlich völlig rational nachvollziehbare Ordnung ein. Und so ist den von fantastischen Momenten betroffenen Figuren durchaus bewusst, dass sie diesen Einbruch des Irrationalen nicht mit ihrer Umwelt teilen können. Oder etwa doch?

Die Frage, wie viel Anstrengung Menschen zuzumuten ist, um ihre Mitmenschen zu verstehen, ist eine wichtige Frage, die der Roman stellt, sie führt geradezu in sein Zentrum. In diesem Zentrum steht zunächst eine Mutter-Tochter-Beziehung, nämlich die zwischen Ladivine Sylla und ihrer Tochter Malinka, die sich in Clarisse umbenennt und ihre Mutter verleugnet. Warum sie dies tut, warum sie sich für ihre Mutter schämt und die Stigmatisierungen, denen Ladivine als mittellose, alleinstehende schwarze Frau ausgesetzt ist, im Grunde übernimmt, wird bis zuletzt nicht ganz klar. Eine wichtige Rolle dürfte aber Ladivines Unantastbarkeit spielen, eine Unantastbarkeit, die nicht aus Selbstbezogenheit resultiert, sondern eine Möglichkeit der Würde darstellt, für eine Frau, die für ihre Umwelt nicht existiert, es sei denn in ihrer Eigenschaft als „Dienerin“, ein Wort, das Malinka benutzt, wenn es auch der Tätigkeit ihrer Mutter als Reinigungskraft nicht entspricht. Doch sei es auch aus der Not und aus Selbstschutz, dass Ladivine Sylla nur einen „vorsichtigen Kontakt mit der Wirklichkeit“ pflegt, „gedämpft von Zerstreutheit und einer ständigen leichten Entrückung“, ihre Tochter kann ihr in diesem Leben nicht mehr folgen. Sie verlässt ihre Mutter und beginnt eine neue Existenz, als Kellnerin mit dem Namen Clarisse. Sie verliebt sich in Richard, der Malinka immer nur als Clarisse kennen wird, deren Eltern angeblich gestorben seien. Die beiden heiraten und bekommen ein Kind, das sie Ladivine nennen.

Diese Wiederaufnahme des Namens der Mutter könnte allzu konstruiert wirken, wenn nicht zugleich offensichtlich wäre, dass Clarisse der Verleugnung ihrer Mutter nicht gewachsen ist. Sie weiß und spürt zu genau, dass sie ihrer Mutter, die nichts anderes im Leben hat als eine unendlich geliebte Tochter, durch ihren radikalen Rückzug alles genommen hat. Ihr Versuch, ihre Schuld durch eine grenzenlose, bis zur Selbstaufgabe reichende Hingabe an Richard und ihre Tochter zu kompensieren, scheitert. Sie erscheint ihrer Familie, die die Beweggründe für Clarisses Verhalten nicht kennt, zunehmend als eine „Frau ohne Eigenschaften“, eigenartig identitätslos. Als Richard Clarisse verlässt, ist es fast so, als verließe er einen Schatten, eine Art Phantom. Gar nicht phantomhaft, sondern sehr real erscheint jedoch das Leid, das dieser „Schatten“ verspürt. In beeindruckenden Schilderungen vermittelt NDiaye diese Momente des Schmerzes, in dem ein Mensch der Tatsache gewahr wird, dass ihm gerade der Boden unter den Füßen entzogen wird. Clarisse überlebt die Trennung, doch ihre tiefe Erschütterung macht sie schutzlos. Schutzlos gegenüber einem gewissen Freddy Moliger, einer gescheiterten und geschundenen Person, deren lauernde Aggressivität Clarisse nicht verborgen bleibt, die sie aber ignoriert. Zu sehr hilft es ihr, in Freddy einen Menschen gefunden zu haben, vor dem sie jede Scham ablegen kann. Freddys Makel befreien sie von der Anstrengung, das, was sie als Makel empfindet, zu verbergen. Sie nennt ihm ihren wahren Vornamen, Malinka, und stellt ihm ihre Mutter vor. Doch wie befreiend auch Freddys Schwäche für Clarisse sein mag, sie bleibt Schwäche und Freddy nicht zu retten. In einer Affekthandlung, so schließt der Leser, ersticht er die Frau, die ihn bei sich aufgenommen hat. Mit diesem Mord ist der erste Teil des Romans, der sich vor allem mit Clarisse beschäftigt, abgeschlossen. Fortan steht Ladivine, Clarisses Tochter im Mittelpunkt. Diese hat einen Deutschen geheiratet – worüber sie selbst am meisten verwundert ist – und lebt mit ihren zwei Kindern in Berlin.

Dass Marie NDiaye ebenfalls in Berlin lebt und die Wahl des Ortes daher kein reiner Zufall ist, lässt sich wohl sagen. Es ist aber für den Roman nicht von entscheidender Bedeutung, wo Ladivine lebt. Entscheidend ist, dass kein Ort sie weit genug vom Schicksal ihrer Mutter entfernen kann. Mit dem Mord an Clarisse ist auch das Leben Ladivines beschädigt. Nicht etwa, weil sie maßlos trauern würde, nicht wegen des Verlusts an sich, sondern wegen des Gefühls, nicht alles getan zu haben, um den Mord zu verhindern.

Es ist faszinierend, wie NDiaye, nachdem sie völlig überzeugend Clarisses Sicht auf Freddy geschildert hat, eine Sicht, die Freddy als Opfer wahrnimmt und von Mitleid und Verständnis geprägt ist, nun auf einmal mit der gleichen Überzeugungskraft Ladivines Blick beschreibt, der in dem neuen „Lebensgefährten“ ihrer Mutter nichts als eine abstoßende Kreatur zu erkennen vermag. Dass sie nichts unternommen habe, um ihre Mutter vor dieser Kreatur zu bewahren, nagt an Ladivine. Und auch ihrem Vater, Richard, macht sie Vorwürfe. Wie konnte er Clarisse so ausliefern? Dass er sie nicht ausgeliefert hat und dass sie seinen Entschluss sogar nachvollziehbar fand, ist Ladivine durchaus bewusst. Aber sie verzeiht ihm nicht, dass er scheinbar kein schlechtes Gewissen hat.

Wie sehr sie sich damit täuscht, wird erst nach einem erneuten Perspektivwechsel deutlich, wenn nämlich Richards Leben im Mittelpunkt der Handlung steht. Dieser hat sich nach seiner Trennung von Clarisse in Annecy niedergelassen, wo er seinem Beruf als Autohändler nachgeht und mit seiner neuen Lebensgefährtin und deren Sohn zusammenlebt. Seine neue Lebensgefährtin trägt den Namen Clarisse, was abermals unerträglich konstruiert wirken müsste, wäre da nicht Richards Eingeständnis, dass er sich nicht zuletzt wegen ihres Namens von ihr angezogen gefühlt habe. Er sucht in ihr eine Antwort auf eine Frage, die zunehmend Besitz von ihm ergreift, nämlich die Frage nach dem „wahren Gesicht“ seiner ersten Frau Clarisse. Nun wäre es einer Meisterpsychologin wie Marie NDiaye unwürdig, so etwas wie das „wahre Gesicht“ eines Menschen anzunehmen, geschweige denn es für beschreibbar zu halten. Viel wichtiger ist die mit Richards Wahrheitssuche einhergehende Frage, ob er es hätte versuchen müssen, seine Frau zu verstehen. Ist man es geliebten Menschen schuldig, auch das an ihnen begreifen zu wollen, was sie selbst nicht recht verstehen?

Der Roman lässt diese Frage offen, er urteilt nicht über Richard und Ladivine, die sich diese Mühe erst machen, als es zu spät ist. Aber er stellt sie unterschwellig immer wieder, auch und gerade in besagten „fantastischen“ Momenten. Als Clarisses Tochter Ladivine während eines schicksalhaften Urlaubs in einem nicht näher bezeichneten Land, das früher eine Kolonie gewesen sein muss, in die Seele eines Hundes zu blicken glaubt, zögert sie einen Moment, ihrem Mann davon zu berichten. Sie unterlässt es am Ende, weil sie weiß, dass er sie von der Unmöglichkeit eines solchen Vorgangs überzeugen wollen würde. Ist ihm das vorzuwerfen? Müsste er nicht versuchen, ihren Blick zu akzeptieren, ihn zu verstehen? Auch hier bleibt der Text unentschieden, zwar wünscht sich Ladivine ein solches Verständnis, aber sie weiß, dass sie keinen Anspruch darauf hat.

Dem Leser bleibt nur, all dies Ungesagte und Unsagbare zwischen den Figuren hinzunehmen und darin liegt die verstörende Kraft dieses Romans – eine Kraft, die die Mischung der Realitätsebenen braucht. Denn gewiss ist es schwer genug psychologisch plausibel darzustellen, wie Menschen in moralische Zwickmühlen geraten können, nicht etwa, weil sie offensichtlich gegen ein Gesetz verstoßen haben, sondern weil sie einen Menschen nicht so zu behandeln in der Lage sind, wie es dieser Mensch vielleicht verdiente. Aber nur gute Psychologie könnte nicht erklären, warum „Ladivine“ eine derartige Wucht entwickelt. Diese Wucht kommt daher, dass die Autorin die psychologischen Grenzsituationen ihrer Figuren nicht in einer geschlossen rationalen Weltsicht einfängt, sondern sie durch Schwellensituationen zwischen Realität und Irrealität ergänzt und so ins Bodenlose führt. Der Allgemeinplatz von den Untiefen zwischenmenschlicher Beziehungen erfährt so in „Ladivine“ eine ästhetisch überzeugende Umsetzung. Und wie es ästhetisch überzeugende Umsetzungen so an sich haben: sie wirken, noch lange nach der Lektüre.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marie NDiaye: Ladivine. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
444 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424261

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