Nicht für uns

Runar Schildts Erzählungen reflektieren feinfühlig die Gespaltenheit Finnlands am Beginn des 20. Jahrhunderts

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zur Buchmesse hat der Manesse Verlag einen Erzählband des finnischen Autors Runar Schildt neu aufgelegt. Es sind kleine Meisterstücke, in denen melancholische oder naive, manchmal ein wenig lächerliche Figuren im Mittelpunkt stehen, mit denen Schildts impressionistischer Sprachstil in perfektem Einklang steht. Wenn von Mähdreschern, Telefonen und Fotoapparaten die Rede ist, tun sich dagegen Spannungen auf. Mit der Modernisierung können diese Protagonisten nicht mithalten. Zugleich spiegelt ihr Außenseitertum das Lebensgefühl ihres Autors, der als Finnlandschwede zu jenem Bevölkerungsteil gehört, der im Zuge eines erstarkenden Nationalbewusstseins der Finnen zunehmend in eine Minderheitenrolle gerät.

Bis Finnland im Jahr 1917 vollständig unabhängig wird, kämpft die Bevölkerung um ihre Identität an zwei Fronten zugleich: zum einen gegen den schwedischen Anteil der Kultur, der sich in der jahrhundertelangen Zugehörigkeit zu Schweden herausgebildet hat und vor allem das Bildungsbürgertum immer noch prägt. Zum anderen ist Finnland zwar autonom regiert, aber noch bis 1917 als Großbürgertum Russland unterstellt. Immer wieder müssen die Bemühungen der Großmacht abgewehrt werden, Finnland zu russifizieren. Dementsprechend ist das politische Klima zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg aufgeheizt. Auf Finnlands Straßen sind Sprachen aus aller Welt zu hören.

Schildts Figuren ringen um ihren Platz im kulturellen Gewimmel meist ohne Erfolg. So ist beispielsweise Armas Fager, der Held der ersten Erzählung, ein kleiner Schauspieler, der sich meist mit Statistenparts begnügen muss. Eigentlich möchte er eine bedeutende Rolle spielen – im Theater wie auch in der Gesellschaft. Die Sprache wird bei ihm zur künstlichen Pose, zur übergestülpten Kostümierung, mit der er sich Geltung verschafft:

„Er befleißigte sich eines guten Schwedisch und litt, wenn er den vulgären Helsingforsdialekt seiner Frau und der anderen Menschen um sich herum hören mußte, der dazu noch mit bäuerlichen Mundartwörtern vermischt sein konnte. Eigentlich war Finnisch seine Muttersprache, die er immer noch sehr gut beherrschte, aber die Verhältnisse, die Familienbande, die Arbeit am Theater, das alles hatte dazu beigetragen, daß Schwedisch zu seiner Umgangssprache geworden war. Ja, es konnte sogar vorkommen, daß sich ein unverkennbar reichsschwedischer Tonfall in seine Rede mischte, besonders wenn sich ihr Inhalt über die Alltagsebene erhob.“

Armas ist ein sympathischer Träumer, der lieber ausgelassen Saufgelage begeht und „leckeren“ Schauspielerinnen nachstellt, als sich bei seiner fürsorglichen Ehefrau zuhause zu langweilen („Nach Hause gehen…? Nein, nicht das. Nein“). Seine zum Teil derben, naiven Ausrufe, sein Anbiedern bei erfolgreichen Schauspielerkollegen und die Eitelkeit, mit der auf seine Bühnenkostüme wie auch die „zivile Maske“ bedacht ist, lassen ihn für den Leser zur traurigen Lachnummer werden. Der bemühte Versuch, die große Rolle zu ergattern, kann nicht gelingen, weil er von lukrativen Geschäften oder Börsenspekulationen rein gar nichts versteht – und von diesen Dingen ist jetzt die Rede. Die Zeit, in der Eleganz und guter Ton soziale Güte bedingen konnte, ist vorbei; den Anforderungen des aufkommenden Kapitalismus jedoch ist Armas Fager nicht gewachsen.

In einer ganz anderen, aber ebenso zeittypischen Situation befindet sich Zoja, die Hauptfigur der titelgebenden Erzählung. Sie ist die Tochter eines ehemaligen russischen Staatsrats und befindet sich im finnischen Exil. Nach dem Verlassen der Heimatstadt Petrograd (heute St. Petersburg) lebte die Familie zunächst in Helsingfors (Helsinki), das nun von der russischen Roten Armee eingenommen ist. Jetzt findet sich Zoja in einem Provinznest wieder. Wieder stellt Schildt eine Figur in den Mittelpunkt, die an der Isolation, Eintönigkeit und Perspektivlosigkeit ihres Lebens leidet. In ihrem Schicksal ist auch das des Autors eingeschrieben: Runar Schildt war der Sohn eines Adeligen und einer Schneiderstochter, die nach dem frühen Tod des Vaters in bescheidene Verhältnisse einheiratete. In Schildts Leben blieb der Konflikt zwischen kulturellen Überlegenheitsgefühlen des Finnlandschweden und Adeligen auf der einen und dem Bewusstsein von Außenseitertum und bescheidener Herkunft auf der anderen Seite immer bestehen. Wie Zoja am Ende der Erzählung hat auch Schildt Selbstmord begangen, mit nur siebenunddreißig Jahren.

Das wunderbare an Schildts Erzählungen ist, dass er die Seelenlagen seiner Charaktere und den politischen Zustand des Landes poetisch zu nutzen weiß. Letztendlich scheint gerade das Weltfremde seiner Figuren ihren Kunstsinn zu bedingen. Armas Fagers Suche nach Unterhaltung endet zwar auf einer Parkbank, aber er hat so manches erlebt und ist im Besitz einer Sektflasche, mit der er auf die Vergänglichkeit des Lebens anstoßen kann: „Aus dem Rohmaterial dieses Tags hatte er ein Kunstwerk nach seinem Sinn geformt.“

Herausragend ist in dieser Hinsicht die Erzählung „Der Hexenwald“, in der ein Schriftsteller von einer Schreibblockade heimgesucht wird. Selten ist das Berufsbild des Autors so vielschichtig durchleuchtet worden wie hier: das Leiden an der Geringschätzung der Umwelt, die Freude, die fiktive Welt kontrollieren zu können, der Kampf mit Isolation, Selbstzweifeln und das Warten auf Inspiration. Am Schluss dieser Erzählung ist die Euphorie des Kreativen, seine Abgetrenntheit von der Welt auf wunderschöne Weise verdichtet, die noch einmal das historische Lebensgefühl der Zeit transportiert:
„‚Für mich und meinesgleichen läuten keine Glocken zur Sammlung. Für uns gibt es keinen Platz in den weißen und roten Garden des Lebens, kein brausendes Kriegsgeschrei, keine Nummer in einer Reihe, keine Ruhe, keine dauerhafte Stätte. Nicht für uns.‘
Mit geschlossenen Augen lag er da und starrte in jenen kranken Punkt der Seele, an dem die Perle sich im Gedicht härtet.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Runar Schildt: Zoja. Erzählungen aus Finnland.
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gisbert Jänicke.
Manesse Verlag, München 2014.
397 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783717523468

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