Ich und Genji

Leopold Federmair gestaltet eine japanische Don Juaneske

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Japan auserzählt?

Ob die Japanerfahrung eines erzählenden Subjekts auch heute noch genug trägt, um mit ihr einen dreihundertseitigen „Roman“ zu schreiben, ist eine Überlegung, die sich zu Beginn der Lektüre von Leopold Federmairs „Wandlungen des Prinzen Genji“ aufdrängt. Man könnte die These wagen, das Land sei bis zu einem gewissen Grad „auserzählt“. Was an substantiellen Gedanken oder an ausgefallenen Ästhetisierungen wäre der reichhaltigen Literatur zum „Land der aufgehenden Sonne“ noch hinzuzufügen? Fernöstliche Exotik wurde bereits in vielen bekannten Bildern eingefangen. Die „Rätsel“ der Insel, ihre Kultur, ihre Menschen und ihre Widersprüchlichkeiten erfuhren plausible Deutungen, und ebenso gibt es bereits etliche Texte, die sich der Geschichte sogenannter Japanliteratur annehmen, um diese einer literarischen Meta-Analyse zu unterziehen. Insofern ist es sehr schwierig, ein erzählerisch-intellektuelles Experiment aufzubauen, das neue Einblicke erbringt. Aktuellere Arbeiten japanischer Schriftsteller liefern außerdem – in deutscher und englischer Übersetzung – seit einigen Jahren Erkenntnisse über die Gesellschaft Japans, die den westlichen Horizont erweitert haben dürften.

Wenn also Federmair im Jahr 2014 eine auf der Idee einer „Imitatio Genji“ basierende Konstruktion vorlegt, die er selbst „als Sammlung von Geschichten, Beobachtungen und Essays“ versteht, das heißt wenn er den Ich-Erzähler Theo in die Rolle des berühmten „Leuchtenden Prinzen“ aus dem ersten Roman der Weltliteratur versetzt und das von seiner Verfasserin Murasaki Shikibu geschilderte höfische Leben der Heian-Zeit ins Kinderspielplatzmilieu von Hiroshima projiziert, ist dies einerseits originell, andererseits entbehrt es – drei Jahre nach „Fukushima“ – doch etwas der eingangs erwähnten Frische. Sein „Genji“ wurde wahrscheinlich schon früher begonnen, um den Episodenreigen erst nach der Zäsur 3/11 abzuschließen. Federmairs Essays aus dem bereits 2013 publizierten Band „Japanische Betrachtungen“ stammen aus jüngerer zeitlicher Perspektive und wirken in ihrer Unmittelbarkeit überzeugender, zumal man auch daran zweifelt, ob es sich von dem durch die Dreifachkatastrophe versehrten Land ganz im Duktus des Erotischen berichten lässt.

Date mit der Dame Murasaki

Obwohl Japan von landeseigenen Schriftstellern wie Ryû Murakami und Natsuo Kirino einigermaßen entzaubert wurde, setzt sich der Verfasser – nicht ohne Selbstironie − das Ziel, mittels intensiver Genji-Lektüre gewisse Erwartungen, die man als Europäer an die ostasiatische Insel sogar im 21. Jahrhundert noch herantragen mag, in der Lebensrealität zu bestätigen. Der Protagonist, offenbar ein Dozent und Literaturadept, sucht als alter ego des Autors „hinter den Wohnblockfassaden ein ästhetisches Land“, wie es im Klappentext heißt. Und man kann nicht behaupten, der Held des vorliegenden „falschen Genji“ bemühte sich nicht voller Elan, ein Japan als Land geballter Erotik und geheimnisvoller Sinnlichkeit wiederzuentdecken. Der Vater einer Tochter ist jedenfalls gewillt, keine Enttäuschungen aufkommen zu lassen; selbst den spröden Alltag der Kleinkinderbetreuung – seine Arbeitssituation erlaubt ihm, die Vaterrolle aktiv zu übernehmen – nutzt er, um das ersehnte Liebesabenteuer anzubahnen.

Als das alter ego nach langen Ehejahren endlich einer geeigneten Frau begegnet, fangen beide Feuer. Die Mutter der kleinen Tomoko, im Genji-Modus „Dame Murasaki“ genannt, wird zunächst – hier wittert man eine zusätzliche Anspielung auf Süskinds Held Grenouille – olfaktorisch aufgespürt: „Faulschlamm und Bergamotte“ sind die genannten Duftnoten. Dann dauert es nicht mehr allzu lange, und der ersehnte Sex ereignet sich. Einmal am Shintô-Schrein in der Natur und einmal in der künstlichen Umgebung eines Love-Hotels: „Was mich an ihr am meisten erregt, ist die harte Spannung, zu der ihr Körper findet, wenn er seinerseits erregt wird. Es sind die mächtigen Brustspitzen, die von der sachten Wölbung abstehen wie kleine Penisse“. Der Protagonist freut sich stolz der eigenen Potenz, und man fühlt sich an Haruki Murakamis Held erinnert, wenn Theo via Murasaki auch ein wenig Eigenlob verlautbaren lässt: „Gewaltig. Sugoi“.

Sexualisierung als Strategie

Mit seiner Ethnografie des Sexuellen, für die die Geliebte als frisches Studienobjekt dient, folgt der Text den Konventionen der Reiseliteratur oder der üblichen Literarisierung von Kulturbegegnungen. Sexualität bleibt hier jedoch nicht auf die außerehelichen Erlebnisse des Ich beschränkt, sondern bildet die Basis der Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen von Mann und Frau, von Japan und der übrigen Welt, Genji und den Geliebten des Prinzen sowie von Vätern und Töchtern.

Das Reich des Sinnlichen erscheint als Zentrum der Weltwahrnehmung und wird als intensivste Erfahrungsmöglichkeit beschworen. Innerhalb dieser Denkfigur ermöglicht das Sexuelle die Transzendierung des Alltäglichen. Der Geschlechtsverkehr zwischen dem „kleinen Mann“ und der „kleinen Frau“ ist zunächst als „Sex-Theater“ zu sehen; er muss durch die Zuschreibung des Besonderen, in diesem Fall des Exotischen, erhöht werden. Sexuell motivierte Interaktionen erreichen beinahe eine philosophische, mystische oder semi-religiöse Qualität und sind sozusagen durch verschiedene Brechungen auf der literarischen Ebene mittels der Technik des Palimpsests auf Sicherheitsabstand gehalten.

Das gilt in erster Linie für das Leitmotiv der Vater-Tochter-Beziehung, das der historisch-japanische Roman vorgibt. Genji, der galante Jäger, beschäftigt sich mit sehr jungen Frauen, schart eine Gruppe weiblicher Wesen um sich, nur um auf seinen Streifgängen wieder neue „Mädchenblüten“ zu entdecken. Der Verfasser diagnostiziert beim Prinzen einen Lolita-Komplex und spürt diesem Jungmädchenfieber nach. Die jungen Mädchen, so betont er, suchten ihrerseits die Nähe des schönen Höflings, „klammern sich“ an seinen Gewändern fest, um ihn am Fortgehen zu hindern – auch die Psychologie der eigenen kleinen Tochter, die oft Eifersucht gegenüber der Mutter und anderen weiblichen Kindern in der Nähe ihres Vaters zeigt, fesselt Federmair als Beobachter der menschlichen Natur.

Es geht ihm um das Tabu des Inzests als „poetisches Geheimnis“, um die „nicht gemachte Liebe“, um die „Liebe abseits des Sexuellen“, die „körperliches Wohlbehagen“ und Erotik miteinschließt, die jedoch durch keine Begehrlichkeit angetrieben wird. Zitiert wird die legendäre Videoaufnahme, die Serge Gainsbourg mit seiner zwölfjährigen Tochter Charlotte zeigt, „beide halbnackt, auf einem großen Bett“, für manche die Vision einer „reinen Liebe“, verbunden mit der Vorstellung, von der Frau „gerettet“ zu werden. Ob derlei männliche Verschmelzungsfantasien für die psychische Entwicklung eines Mädchens gut sein mögen? Vielleicht – dieser Zweifel steht im Raum – muss es dann zeitlebens die Prägung mit sich tragen, melancholische Alkoholiker vor ihrer Destruktivität und Lebensunfähigkeit bewahren zu wollen. Und steckt nicht hinter den väterlichen Anwandlungen, der zwangsläufig mitfühlenden Tochter den lädierten Leib zusammen mit viel Seelenmüll aufzudrängen, auch eine Art von egozentrischer „Machtgeilheit“, eine männliche Attitüde, die der Autor in folgenden Episoden kritisiert? Eine andere Frage ist die, ob man wirklich so viel über die Fantasien des Ich-Erzählers erfahren möchte, selbst wenn die Sexualisierung des Texts schriftstellerische Strategie ist.

Literarische Perversion und die Mohntherapie

Literatur, so sagt Theo, führe den, der ihr anhängt, ins Unerlaubte, ja Perverse, und „Literaturmachen“ bedeute, jede Erklärung zu vermeiden. Der Dichter als Pfadfinder in tabuisierte Bereiche ist in der Tat eine ebenso alte wie doch auch wünschenswerte Vorstellung – gerade in der Ära des neoliberalen Puritanismus und seiner aggressiv in alle Fantasielandschaften betonierten Denkmauern. Der Ich-Erzähler erlaubt sich also manch gefährlichen Exkurs.

Das Lob auf die außereheliche sexuelle Erfüllung interpretiert der Protagonist am Ende seiner über sechzig kleinen Erzähleinheiten als Heilungsprozess, einen nötigen Ausgleich der Kräfte, als quasi-magisches Geschehnis, das das Gleichgewicht wieder herstellt. M., die angehende Aromatherapeutin mit ihrem reichen Düftereservoir, hatte keine enge innere Bindung mehr zu ihrem Mann und war deshalb isoliert. „Ich“ leidet an bestimmten Dingen, deren dunkle Schatten seine Gesundheit beeinträchtigen. Erwähnt wird eine kardiologische Untersuchung, die offenbar einen psychosomatischen Befund erbringt. Theos und Murasakis Begegnung war, wie es der Text erklärt, eine „Zusammenfügung“. Mit M. hat er eine intensive Sinnlichkeit und ihre Heilkraft neu entdeckt, eine Initiation vollzogen in jene nicht durch die paternalistische Logik des Buddhismus regulierte, sondern durch die Shintô-Schreine angedeutete Anderswelt, in die die Geliebte zuweilen hinüberwechselt − so als wäre sie zu wesentlichen Teilen ein Wesen dieser leicht realitätsverschobenen, für den westlichen Körper nicht immer verträglichen Sphäre. Theo wird zum kryptobiologischen Feldforscher auf der Spur des energetischen „Fluidums“, das über verbergendes Schweigen, Düfte und Körperflüssigkeiten auf eine kaum erschlossene Ebene von Kommunikation verweist. Ob diese eine indigene Geisterwelt oder eine paranormale Inselbegabung meint, lässt der Ethnograf offen.

Der Schriftsteller und Lenker der Theo-Puppe kann sich letztlich bei allen herbeizitierten Absonderlichkeiten darauf berufen, dass der „falsche Genji“ nur ein Produkt des Fiktiven ist. Damit wäre die Dame M. keine Alltagsrealität, sondern ein Kind, das mit der japanischen Literaturgeschichte in der Fantasie des Autors gezeugt wurde, ein geistiges „Weltenkind“. Durch ein solches Textverständnis kann auch der hartnäckig schwelende Inzestwunsch nachvollzogen werden. „M.“ wie Murasaki spielt eventuell auf das japanische Wort monogatari (= „Dinge erzählen“, Roman) an, der Buchstabe signalisiert, dass die Literatur die große Mohntherapie des Lebens darstellt und es ihr Reich ist, in dem alle Seelen ihren Frieden finden, an jedem Ort der Welt.

Titelbild

Leopold Federmair: Wandlungen des Prinzen Genji. Roman.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2014.
316 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783701312221

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