Law and Literature – revisited

Achim Geisenhanslüke untersucht die „Sprache der Infamie“

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahrzehnten steht der Themenkomplex „Literatur und Recht“ im Zentrum zahlreicher Studien. Die Analyse rechtlicher Motive in der Literatur (law in literature) und die Entdeckung literarischer Modelle in der Jurisprudenz (law as literature) haben sich als besonders ertragreiche Methoden für beide Disziplinen erwiesen. Achim Geisenhanslüke legt nun einen Band vor, der sich in diese Forschungslinie einreiht und eine produktive Reflexion über den Rechtsbegriff der Infamie und seine ästhetische Entfaltung von Friedrich Schiller bis zur Gegenwartsliteratur bietet.

Wie der Autor einleitend bemerkt, steckt im Begriff der Ehrlosigkeit eine interessante Dialektik zwischen infamia (dem rechtlichen Grund für den Ehrverlust) und fama (dem Ruhm, der den Ehrlosen zu einer Legende macht).
Diese Dialektik findet in der Literatur ihren ästhetischen Ausdruck: Geisenhanslüke spricht von einer „Sprache der Infamie“, die sich vom Recht herschreibt und sich zugleich gegen das Recht wendet. Sie ist eine Sprache der Souveränität und der Selbstbehauptung, der dichterische Akt eines Individuums, das sich über das Gesetz erhebt und dadurch sein „Ich“ behauptet.

Die Untersuchung beginnt mit einer gründlichen Lektüre der Schriften von Michel Foucault, die dem Thema Recht, Strafe und Infamie gewidmet sind und in jeder Studie zur Verschränkung von Literatur und Recht einen unverzichtbaren Bezugspunkt darstellen. Dabei muss Geisenhanslüke jedoch kritisch feststellen, dass Foucault literarische Texte aus dem Gegenstandsbereich seiner Analyse ausschließt: Während die Literatur dazu tendiert, sich mit großen Verbrecher-Helden zu beschäftigen, sind die „infamen Menschen“, für welche sich Foucault interessiert, marginale Delinquenten, die die Höhen des Ruhms nie erlangt haben und eher der „Nonfamie“ zuzuschreiben sind.

Um die Mechanismen der literarischen Darstellung von Ehrlosigkeit zu beleuchten, widmet sich Geisenhanslüke der Analyse ausgewählter Novellen von Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist und Franz Kafka. Die Novelle, die sich gattungspoetologisch für die Darstellung rechtlicher Fälle aus dem Alltag besonders gut eignet, entwickelt sich in der Sattelzeit um 1800, parallel zur Entstehung eines neuen anthropologischen und psychologischen Bewusstseins, das zur Geburt einer modernen Subjektivität entscheidend beiträgt.

Friedrich Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“ ist das beste Beispiel einer literarischen Psychologisierung des Verbrechers: Die Seele des Protagonisten Christian Wolf wird in den Vordergrund der Erzählung gerückt und seine Beweggründe werden als verständlich, wenn auch als nicht rechtfertigbar präsentiert. Von der Lektüre Immanuel Kants geprägt, bezieht Schiller den Prozess der Subjektbildung auf Fragen der Moral: Indem sich sein Held am Ende der Erzählung in die Hände der Justiz begibt, akzentuiert er das aufklärerische Versprechen auf die Freiheit des Individuums durch die Unterwerfung unter das Sittengesetz und wird somit zum moralischen Subjekt.

Bei Kleist hingegen ist die Konstellation Recht-Individuum problematischer, weil der Rechtszusammenhang keine Form der Gerechtigkeit mehr garantieren kann. Wie in der Novelle „Michael Kohlhaas“ deutlich wird, bedeutet die Unterwerfung des Subjekts unter das Gesetz die Auflösung desselben: Kohlhaas wird paradoxerweise als ein rechtschaffener Mensch, nicht als Verbrecher hingerichtet.

Das Kleist’sche Modell, das die Aporien des Rechts zum Ausdruck bringt, findet bei Kafka weitere Entfaltung. Die groteske Darstellung der Strafe in Erzählungen wie „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ und „In der Strafkolonie“ verbindet sich nach Geisenhanslüke mit einer Erotisierung der Strafe, die in mancher Hinsicht an den literarischen Kosmos Marquis De Sades denken lässt. Durch das Groteske und das Erotische erfolgt bei Kafka eine Subversion des Rechts: Die von höheren Instanzen ausgebübte Macht, die vollkommen willkürlich erscheint, stellt das Subjekt in einen Kontext pathologischer Erfahrungen, in deren Rahmen das Selbst nur noch die Scham der verlorenen Ehre empfinden kann.

Nach der detaillierten Analyse dieser drei für das Thema der Infamie kanonischen Autoren richtet Geisenhanslüke seine Aufmerksamkeit auf die Frage nach den Möglichkeiten der Subjektbildung in autobiografischen Texten aus dem 20. Jahrhundert. Die Auswahl der herangezogenen Werke in diesem letzten Segment der Untersuchung wirkt zunächst befremdlich: Neben den Memoires des berüchtigten Verbrechers Jacques Mesrine und der Autobiografie Louis Althussers, in welcher der Philosoph vom Mord an seiner Frau berichtet, analysiert Geisenhanslüke die autobiografischen Erinnerungen der KZ-Überlebenden Primo Levi und Imre Kertész, die sicherlich keine Verbrecher aus Infamie sind, sondern Opfer monströser Verbrechen.

Das unvermutete trait d’union findet Geisenhanslüke in Hannah Arendts Definition der „infamen Geburt“: Die Geschichte der Erniedrigung des Subjekts in den Konzentrationslagern ist die Geschichte jener Ehrlosen, die nicht aufgrund der von ihnen begangenen Verbrechen verurteilt worden sind, sondern durch die schlichte Tatsache ihrer Geburt als Juden. Der Begriff der Entehrung des Subjekts entfernt sich in diesem Kontext von der Definition Foucaults und nähert sich der Philosophie Hannah Arendts und Giorgio Agambens an. Nicht die Heroisierung (oder Selbstverteidigung) des infamen Verbrechers wird in den Texten von Levi und Kertész thematisiert, sondern die gewaltige Zerstörung des Subjekts in der Infamie (das heißt, in seiner Entwürdigung als Mensch).

Insgesamt bietet die Studie Geisenhanslükes eine kenntnisreiche Analyse der literarischen Darstellung von Ehrlosigkeit in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten. Aus dem Textkorpus bleiben wichtige Werke wie Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ oder Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ausgeschlossen. Allerdings ist der Versuch, die kanonische Literatur zur Infamie mit Werken zu verbinden, die in diesem Rahmen noch nie beleuchtet wurden, besonders anregend. Die Monografie schafft somit einen soliden Grund für weitere Auseinandersetzungen mit der „Sprache der Infamie“ und fordert zugleich zu einer konzeptuellen Erweiterung und Problematisierung des Forschungsfeldes „Literatur und Recht“ auf.

Titelbild

Achim Geisenhanslüke: Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
296 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556717

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