Der helle Kopf und das scharfe Auge einer „intellektuellen Vagabundin“

Siri Hustvedts Essaysammlung „Leben, Denken, Schauen“ in deutscher Erstübersetzung

Von Ksenia GorbunovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ksenia Gorbunova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Anbetracht der Fülle an brillanten Gedanken scheint es angebracht, die Rezension des sie enthaltenden Buches mit einem aussagekräftigen Zitat zu beginnen. Doch es sind zu viele, um sich für eines entscheiden zu können. Zu viel, was sprachlich verblüfft, zu viel, das einen zum Denken anregt, enthält die bunte Mischung aus 31 Essays, gesammelt im Zeitraum von 2005 bis 2011, eingeteilt in drei Abschnitte: „Leben“, „Denken“ und „Schauen.“ Nun ist der Überschuss an Scharfsinn gewöhnlich kein Grund für Beschwerden an Essayisten, Anlass zum Wehmut bietet es trotzdem: Wenn man manisch fünf Essays verschlungen hat, schon auf den Titel des nächsten linst, und plötzlich merkt, dass man sich nicht mehr daran erinnert, was man soeben gelesen hat. Dem Leser Unaufmerksamkeit, ein miserables Kurzzeitgedächtnis oder unvernünftigen Heißhunger auf Lektüre vorzuwerfen, wäre hier zu voreilig – die Hauptschuld liegt klar bei Siri Hustvedt, an der schieren Menge geistiger Nahrung und dem literarischen Ansatz, den die Autorin in einem Vorwort erläutert:

Hustvedt ist Literatin und hegt leidenschaftliches Interesse an den Wissenschaften der Psychologie und Neurologie. In ihren Argumentationspfaden fließen Geistes- und Naturforschung in einander über. Ihr Anliegen sei das Fördern der Kommunikation zwischen den Disziplinen, deren Gebiete wegen der Grenzen des Fachchinesisch streng isoliert sind, also wählt Hustvedt bewusst die Alltagssprache, um zwischen Philosophen und Biologen, zwischen schmökernden Lesern und Akademikern zu vermitteln. Dank Hustvedts leicht zugängiger Sprache und ihrem Feingefühl für den Wortrhythmus tänzelt der Leser von Hustvedts Empfindungen bei der Geburt ihrer Tochter zu neurologischen Erkenntnissen über Gehirnfunktionen, die mit dem Gedächtnis verbunden werden, von literaturtheoretischer Analyse von Proust zu philosophischen Beobachtungen des Erinnerns seit Aristoteles; und all das innerhalb eines Absatzes.

Hustvedts Argumentationen nehmen ihren Anfang stets im persönlichen Erleben der Essayistin. Vor allem in dem ersten Teil des Bandes, der mit „Leben“ betitelt ist, kommt es zu intimen Einblicken, die allerdings nicht unangenehm werden. Die Autorin denkt daran zurück, wie eine ihrer vier Schwestern als Kleinkind mit ihrem brennenden Verlangen nach einem Micky-Maus-Telefon die ganze Familie angesteckt hatte. Von der konkreten Situation der vorweihnachtlichen Sehnsüchte spannt sich ein Bogen zu den kognitiven Voraussetzungen, die dem Wunschdenken zu Grunde liegen, etwa die Fähigkeit, sich glücklich in Besitz des ersehnten Objekts in die Zukunft zu imaginieren. Die Vorstellungskraft hat für Hustvedt eine hohe Bedeutung: Erinnerungen, Wünsche, literarisches Schreiben und das Denken wären für sie nicht möglich ohne Imagination. Ihre bodenständige Verwurzelung ist allerdings ebenso wichtig: Und so erzählt Hustvedt selbstironisch davon, dass die Geburtswehen ihr nicht gefallen hätten, aber das Pressen habe ihr Spaß gemacht, dass sie bei qualvollen Migräneanfällen grüne Cartoonmännchen halluziniert hätte, dass ihre Tochter das Cowboyspielen auf den väterlichen Knien aufregend fand – Lebenssituationen, in denen man Siri Hustvedt und Ehemann Paul Auster als bedeutende amerikanische Intellektuelle sich kaum vorstellen kann, wenn man sie über das eine oder andere hochtrabende Thema in Interviews sprechen sieht. Nicht umsonst nennt sie sich eine „intellektuelle Vagabundin.“

Außer dem reichen Bestand an emotionalen Erfahrungen verfügt Hustvedt über einen bewundernswert breitgefächerten Wissensschatz an westlichem Gedankengut. Die Belesenheit und vielseitige Reflektiertheit Hustvedts entfaltet sich besonders im zweiten Teil der Essaysammlung: „Denken.“ Die Beschreibung persönlicher Erlebnisse nimmt darin ab, im Gegensatz zur Dichte an eingestreuten Verweisen auf Philosophen und Psychologieforschern. Am häufigsten fallen die Namen Kierkegaard, Freud und Henry James. In diesem Abschnitt tummeln sich Essays, die ihr Dasein als Kongressreden und Vorlesungsmitschriften begannen und einiges an Vorwissen des Gegenübers implizieren. Wer sich hier dennoch verirrt, kann auf die erklärenden und weiter verweisenden Kommentare und Quellenangaben zurückgreifen. Die Grundthesen jeden Denkers werden prägnant wiedergegeben, die Anzahl der Fachbegriffe folgt dem Prinzip: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Das zeugt von Hustvedts tiefgreifendem Verständnis ihres Materials und hat zur Folge, dass der Lesefluss sogar für den unbewanderten Leser nicht abbricht. Gleiches gilt für den dritten Abschnitt „Schauen“, in dem die bedeutenden Philosophen und Forscher den Künstlern und Kunstthoeretikern weichen. In ihm sind Zeitschriftenartikel und Ausstellungsrezensionen versammelt. Die Essays sind wieder persönlich gefärbt, Hustvedt pflegt eine subjektive Annäherung an moderne Kunst, und beim einzigen erwähnten Alten Meister Goya wird der Ton euphorisch.

Alle drei Teile der Essaysammlung vereint die Brisanz der behandelten Themen: Gedächtnis, Bewusstsein, Kulturrezeption, Imagination, Träume und zwischenmenschliche Beziehungen waren und bleiben schlichtwegs spannend. Diese Themen haben sich unzertrennbar in Hustvedts Gedankenwelt verflochten, in jedem Essay klingen sie mit unterschiedlicher Gewichtung an, so kommt es unweigerlich zu Wiederholungen, die stellenweise überflüssig sind. Hustvedt wirft Bush im emotionalesten Essay des Bandes, in dem sie keinen heilen Fleck an Bush lässt, vor, er benutze „die abgedroschene Propagandatechnik, Unwahrheiten immer und immer zu wiederholen“, um „einzureden, dass diese Tatsachenverdrehungen wahr wären.“ Hustvedt propagiert nicht, doch bei ihrer Zusammenstellung der Essays kommt einem beizeiten die Frage, ob man etwa zum fünften Mal erklärt bekommen muss, was Spiegelneuronen sind. Ob es sich bei Hustvedts Gedankengängen um „Tatsachenverdrehungen“ und „Unwahrheiten“ handelt, sei dahin gestellt – ihre Fixierung auf strikte, konventionelle Frauen- und Männerrollen könnte kontrovers aufgefasst werden, ebenso die Vergötterung der Mutterschaft oder ihre Interpretationen von Objekten, die manche moderne-Kunst-Banausen erst gar nicht als Kunst anerkennen und als widerlich empfinden würden. Diskussionsstoff bietet es allemal. Hustvedt meint, dass sich das Lesen nur dann lohnt, wenn man bereit ist, sich von der Lektüreerfahrung verändern zu lassen, und nicht nach bloßer Bestätigung der eigenen Meinung sucht. Wenn man sich Hustvedts Perspektive öffnet, wird sich die Essaylektüre lohnen.

Was den Zugang erschwert, ist die Übersetzung. Zum Teil ist es der Beschaffenheit der deutschen Sprache, zum Teil der herausragenden Leichtigkeit von Hustvedts Ausdrucksweise zu verschulden, die sich kaum in andere Worte übertragen lässt, dass die Sätze im Deutschen sich in die Länge ziehen, sich verschachteln und schwerer klingen. Einige Passagen wurden aus keinem ersichtlichen Grund weggelassen, etwa eine kleine, wehmütige Reflexion über die Altersgrenze, ab der einem Mädchen die Bezeichnung „Frau“ zugeschrieben wird, und die Warnung, diese Grenze nicht weiter herabzusetzen. Ein weiterer Stolperstein sind solche Sinnänderungen wie im Essay „Anmerkungen zum Sehen“, in dem Hustvedt aphorismusartige Beobachtungen ihrer visuellen Wahrnehmung zusammenträgt. Die knappe, ich-bezoge und völlig für sich stehende Anmerkung „‘I see’ can also mean ‘I understand’‘“ wird umformuliert als Fragen an ein Gegenüber: „‘Sehen Sie?’ kann auch bedeuten: ‘Verstehen Sie?’“ Das Verhältnis von Du und Ich hat Hustvedt seit ihrer Kindheit beschäftigt und innerhalb der von ihr ausgebreiteten Annahmen dazu ist eine solche Umdeutung bei der Übersetzung verheerend.

Wer sich also auf Entdeckungstour durch die Interessensgebiete von Siri Hustvedt und ihrer Überlegungen dazu machen möchte, sollte lieber zum englischen Original greifen. Treue Hustvedt-Leser werden sich über die hier und da verwendeten, unveröffentlichten Ausschnitte freuen, die das Lektorat aus den bereits erschienen Romane gestrichen hat. Wer die Autorin Siri Hustvedt kennt, wird hier die Person Siri Hustvedt kennen lernen, und wer erst durch diesen Essayband auf ihren Namen aufmerksam geworden ist, wird mehr aus ihrer Feder lesen wollen, denn was nach dem Durchlesen der Essays bleibt, ist der brennende Wunsch, mehr zu lesen, mehr zu leben, mehr zu denken, und der nächstbesten Kunstgalerie einen Besuch abzustatten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Siri Hustvedt: Leben, Denken, Schauen. Essays.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Erica Fischer.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.
490 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498030223

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch