Marinetti am Strand

Siri Hustvedt meditiert in „The Blazing World“ über die Dynamik ästhetischer Wahrnehmung – und über ein oder zwei andere Themen

Von Roxane DännerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roxane Dänner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn im Klappentext eines Romans die Rede von einem „ambitionierten“ Werk ist, kommt der Verdacht auf, dass hier kein leichtes Lesevergnügen für die Zeit kurz vor dem Einschlafen zu erwarten ist. Bei Siri Hustvedts „The Blazing World“ bestätigt sich dieser Verdacht bereits nach den ersten zehn Seiten, auf denen ein doppelter Fiktionsrahmen aufgemacht und nicht weniger als 17 Bezugnahmen auf diverse intellektuelle Größen der westlichen Zivilisation fallen. Die Geschichte, um die es hier geht, ist schnell erzählt, aber dennoch auf unbestimmte Weise kompliziert. Die bildende Künstlerin Harriet Burden hat über Jahrzehnte hinweg versucht, in der New Yorker Kunstszene Fuß zu fassen, blieb jedoch stets und sogar über dessen Tod hinaus im Schatten ihres Mannes, des einflussreichen Kunsthändlers Felix Lord (man beachte die Subtilität bei der Namengebung). Jahre später plant sie einen spektakulären Rachefeldzug, der die Oberflächlichkeit und Willkür der Kunstszene sowie die manifeste Frauenfeindlichkeit der gesamten Gesellschaft offenlegen soll: Drei ihrer Ausstellungen werden unter dem Namen männlicher Künstler gezeigt, die vor dem Publikum als Urheber der Installationen auftreten, und stoßen auf tosenden Applaus der Menschen, die Burden so lange missachtet haben. Die anschließende Enthüllung des Betrugs, die dazu führen soll, dass die Leistung der Künstlerin als solche gebilligt wird, schlägt fehl, weil sich niemand für ihre postfeministischen Theorien interessiert. Noch schlimmer sogar: der dritte „falsche Burden“, der arrivierte Kunststar Rune, usurpiert Harriets unter seinem Namen veröffentlichtes Werk als sein eigenes und erklärt sie kurzerhand für verrückt. Eine Richtigstellung der Tatsachen und Rehabilitierung von Burdens Ruf soll durch das (vorliegende) Buch des Ästhetikprofessors Hess stattfinden, der in einem Vorwort in sein Anliegen einführt.

Der Roman ist also experimentell. Kein klassischer Handlungsroman, sondern ein Potpourri aus verschiedenen „Zeugenaussagen“ von Angehörigen, Bekannten und Kunstkennern sowie Ausschnitten aus Burdens Notizbüchern, deren sie übrigens 26 parallel geführt hat. Davon abgesehen, dass das unter jeder Kapitelüberschrift abgebildete Puzzleteil ein Layout-technischer Fehlgriff ist, der nicht ganz zur gepriesenen Ambitioniertheit dieses Romans passen mag, wirkt sich die fehlende Konstante des Erzählers störend auf die Glaubwürdigkeit der Figuren aus. So versucht Hustvedt beständig, ein Gefühl der Unmittelbarkeit zu erzeugen, indem beispielsweise Sinneseindrücke detailliert beschrieben werden und Alltagssprache benutzt wird. Dies dient dazu, die verschiedenen Figuren ausreichend zu charakterisieren und dem Leser einen affektiven Zugang zu ermöglichen. Was dabei vergessen wird, ist allerdings, dass das Werk sich als Sammlung von Berichten ausgibt, die zu Informationszwecken veröffentlicht werden sollen. Dass beispielsweise der Künstler Phineas Q. Eldridge, als er nach seiner Arbeit mit Burden befragt wird, zunächst einen ausführlichen Bericht über seine schwere Kindheit und die Suche nach seiner sexuellen Identität abgibt, ist schlichtweg unglaubwürdig und erschwert es dem Leser, sich auf das Spiel mit der Fiktion des Herausgebers Hess einzulassen und die Autorin Siri Hustvedt auszublenden. Auch ist es wenig geschmackvoll, wie an dieser wie an anderen Stellen mit gesellschaftlichen Minderheiten geliebäugelt wird, sodass der Afroamerikaner Eldridge, der zufällig auch noch schwul ist, der einzig sensible Mann in der Kunstszene ist, mit dem sich Harriet Burden beständig identifiziert. Zudem soll Harriets eigenes Außenseiterdasein scheinbar durch ihre Zugehörigkeit zum Judentum illustriert werden, auf die dann auch bis zum Romanende immer wieder hingewiesen wird.

Die Figur Burden ist zunächst nicht uninteressant, und über die Charakterisierung durch ihre Tagebucheinträge wird klar, dass sie zugunsten ihres Mannes stets hinter ihrem Potential zurückgeblieben und aufgrund ihres einschüchternden Äußeren, das so gar nicht Kindfrau-mäßig ist („They used to call her the Amazon“, heißt es in einem Interview), von ihrer Umwelt abgewertet worden ist. Muss man gutaussehend, männlich und unter 50 sein, um als Künstler Fuß zu fassen? Diese Frage wird hier mehrfach aufgeworfen.

Doch die Auszüge aus den Notizbüchern der Protagonistin sind keine leichte Kost, da sie wie ein Mosaik aus Texten aus der Geschichte der westlichen Philosophie, Literatur und Psychologie wirken – hier ein Stichwort, da ein Zitat, dort ein beiläufig fallengelassener Name – und schließlich maßgebliche Fragestellungen der aktuellen Bewusstseinsforschung thematisieren. Sofern der Leser nicht, wie Burden, eine Koryphäe auf all diesen Fachgebieten ist, kommt schnell das Gefühl auf, er habe sich in Siri Hustvedts Bibliothek verirrt, wo er nun endlich erlöst werde von seinem Unwissen. Das wirklich Ärgerliche ist, dass sich zu diesem Eindruck Fußnoten mit wissenschaftlichen Literaturangaben gesellen, die vom fiktionalen Herausgeber Hess hinzugefügt wurden.

Alles in „The Blazing World“ ist irgendwie einzuordnen, eine Bezugnahme, die der Leser zur Kenntnis zu nehmen hat. So ist denn auch der Titel ein Zitat. „The Blazing World“ ist ebenfalls Titel eines 1666 erschienenen Romans der englischen Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Margaret Cavendish, deren Werke aufgrund ihres Geschlechts zu Lebzeiten diffamiert und anschließend vergessen wurden. Cavendish fungiert als eine Art Alter Ego Harriets und zieht sich, an manchen Stellen mehr, an einigen weniger passend, wie ein Leitmotiv durch den Roman – die unterhaltsamere Seite von dessen Facettenreichtum, der leider wuchernde Züge annimmt. So kennen sich beinahe alle Figuren blendend mit Künstlicher Intelligenz, Philosophie und Kunstgeschichte aus. Anfangs findet man es noch rührend, dass Hustvedt eine Welt erdacht hat, in der beiläufig Klassiker der englischen Literatur, aber auch poststrukturalistische Theoretiker zitiert werden und jeder sofort weiß, worum es sich handelt. Über den erhobenen Zeigefinger in sperrigen Weisheiten wie „the scene made me think that the Frenchman Honoré de Balzac had it right: the grubby human comedy“ könnte man ebenfalls mit einem Lächeln hinwegsehen. Schließlich jedoch schreibt Rune, der nicht nur blendend aussieht, sondern auch noch ein genialer Konzeptkünstler ist, mit einer Muschel ein Marinetti-Zitat in den Sand und zieht die hustvedt’sche Figurenkonzeption endgültig ins Lächerliche.

In diesen Details äußert sich ein schriftstellerischer Elitarismus, der die speziell auf die intellektuelle Welt gemünzte Sozialkritik absurd wirken lässt. Pure Satire, mag mancher einwerfen, doch Tatsache ist: wer weder mit Husserls Phänomenologie, der Geschichte der Psychoanalyse, noch der zeitgenössischen Philosophie des Geistes vertraut ist, wird an „The Blazing World“ keine Freude haben.

Als Konstanten im Werk der Autorin seit „The Blindfold“ werden auch hier wieder die Themen Geschlechtertausch, Epilepsie und die Malerei Goyas aufgegriffen. Ob dies nicht der Langeweile der treuen Hustvedt-Leser Vorschub leiste, ist die eine Frage; vor allem aber gesellen sich diese Aspekte zu grundsätzlichen Fragen wie dem Wesen von Wahrnehmung, von Ästhetik und der Rolle von sexueller und kultureller Identität für das Gelingen des persönlichen Lebensentwurfs. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, wie schade es ist, dass die Protagonistin zum Ende des Romans bei aller intellektuellen Größe auf einen Vaterkomplex reduziert wird, denn Burdens traumatische Beziehung zu ihrem emotional erkalteten Vater sowie jene zu ihrem Ehemann nehmen zum Ende des Romans unangemessen viel Raum ein, ohne, dass dies der Handlung (die hier zeitweilig erstaunlich spannend wird) zuträglich wäre.

Der Roman gelangt jedenfalls zu einer Vielfalt der Themen und Interpretationsansätze, die zwar für sich so anspruchsvoll wie faszinierend, leider jedoch für knapp 360 Seiten viel zu breit gestreut sind.Trotz all dieser Störfaktoren ist es Hustvedt anzurechnen, dass sie es schafft, innerhalb der Schnipsel, aus denen das Buch zusammengesetzt ist, einen Spannungsbogen zu konstruieren. Hier zeigt sich, dass sie nicht nur über einen scharfen Verstand und eine vielseitige Bildung verfügt, sondern auch eine großartige Schriftstellerin ist. Bei ihrem nächsten Experiment sollte die Autorin jedoch das Mischungsverhältnis von Ambition und Seitenzahl überdenken – ihre Leser werden es ihr danken.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Siri Hustvedt: The Blazing World. A Novel.
Simon & Schuster US, New York 2014.
357 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9781476769981

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