Wo das Grauen wohnt

In seinem Roman „Der Angestellte“ entwirft Guillermo Saccomanno gekonnt eine verstörende Dystopie

Von Hanna KoppRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hanna Kopp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Großraumbüro in Buenos Aires erhebt sich der Angestellte von seinem Schreibtisch. Bis auf die Scharen der Fledermäuse im Nachthimmel und den Ratten, die zwischen seinen Füßen umherhuschen, ist er allein. Allein in einer Welt in der Tag und Nacht miteinander verschmolzen sind, in der Armut, Krankheit und Tod sich stetig fortpflanzen und die Stadt beherrschen. Allein in einer Welt, die im Chaos und der Hässlichkeit versinkt, in der der Beobachtete zum Beobachter wird, der Denunziant zum Denunzierten.

Mit dem in Argentinien unter dem Titel „El oficinista“ erschienenen Roman, wird Guillermo Saccomanno im März 2014 nun erstmals auf Deutsch vorgestellt. Saccomanno zählt zu den bedeutenden Schriftstellern Argentiniens und erhielt für „El oficinista“ 2010 den Premio Biblioteca Breve, einen Preis für spanischsprachige Literatur.

Die in der nahen Zukunft angelegte Stadt, die der Argentinier entwirft, gleicht einem Alptraum: Ein von der Militärregierung kontrolliertes System, die Straßen von Plünderern, Bettlern und Klonhunden bevölkert, Bombenanschläge verübt von Guerilla-Banden und Terroristen, Massaker in Schulen und Altersheimen, saurer Regen und Stürme aufgrund der Erderwärmung. In dieser Stadt lebt der Angestellte. Er ist einer unter vielen. Einer, der nicht auffällt, der sich klein macht und unterordnet. Seine Arbeit am Schreibtisch bestimmt sein Leben. Seine Familie ist ihm verhasst, immer wieder spielt er mit dem Gedanken sie umzubringen. Der einzige Hoffnungsschimmer, der sich ihm bietet, ist die Affäre mit der Sekretärin seines Chefs. Zufällig begegnen sich die beiden nach Feierabend und sie lässt sich bereitwillig vom Angestellten nach Hause begleiten. Die gemeinsam verbrachte Nacht wird zum Ausgangspunkt für sein Hoffen auf Glück: „Das Herz will im übergehen vor Freude.“ Die Figuren des Romans verharren in ihrer Namen- und Individualitätslosigkeit: Der Angestellte, die Sekretärin, der Chef, der Kollege – sie alle werden auf ihre Funktionen reduziert und erinnern so unwillkürlich an Figuren Kafkas, denen in all ihrer Anonymität immerhin noch das Kürzel „K.“ zugesprochen wurde.

Geschickt konstruiert Saccomanno die Figur des Angestellten, der einerseits versucht alle Regeln des Systems zu brechen, diese andererseits jedoch fügsam befolgt. Dabei wirft der Autor die Frage auf, welche Rolle dem Individuum in einer Dystopie zufällt: Gelingt eine Flucht aus dem System oder bleibt das Glück unerreichbar? Saccomannos klare, scharfe und genau beobachtende Prosa dokumentiert geduldig jede Grausamkeit ohne diese zu werten. Die Kapitel des Romans sind knapp gefasst, umfassen manchmal nur wenige Sätze, schaffen jedoch mittels grausamer Bilder eine dichte Atmosphäre des Horrors und Entsetzens. Es sind Bilder, die der Leser am Liebsten so schnell wie möglich vergessen möchte, die sich aber ins Gedächtnis eingraben: Eine Frau, die ihr Kind auf der Straße gebärt, beobachtet von einer Gruppe von Voyeuren, Sechsjährige Jungen und Mädchen, die sich prostituieren, zwei Jugendliche die einen alten Mann ausrauben und vor den Zug stoßen.

Wie eine Flucht erscheinen die ständigen Gedankenexperimente des Angestellten: „Wenn die Umstände es ergeben, könnte er ein anderer sein. Niemand ist, wie er scheint, denkt er. Es brauchte bloß eine Gelegenheit, dann würde er zeigen, wozu er fähig ist.“ Was er will: „Eine beherzte Tat vollbringen, die den anderen die eigene Freiheit zweifelsfrei vor Augen führte. Vorsicht, sagt er sich. Vorsicht vor mir. Ich bin nämlich ein anderer.“ Das Bild des anderen, das der Angestellte immer wieder aufwirft, wird zum Symbol seines ungelebten Ichs und steht für all das, was der Angestellte nicht erreicht zu sein. Denn er verharrt in seiner Funktion, bleibt bis zum Schluss ein perfekt funktionierendes Zahnrad in einer perfiden Maschine des Grauens. So stellt der andere nur eine Projektion seiner Träume und Sehnsüchte dar, der Versuch sein passives Ich abzustreifen und aus dem System auszubrechen.

Wie zu vermuten, endet der Roman pessimistisch: Emotionslos vergast der Angestellte seine Frau und seine Kinder, sein Traum von einer gemeinsamen Zukunft mit der Sekretärin wird zerschlagen. Die völlige Negation jeglicher Empfindung am Ende des Romans, beschreibt das totale Scheitern des Angestellten. Allein wandert er schließlich durch die Straßen, denn: „Nicht einmal der Tod will ihn haben.“ Dass der Leser sich während dieses apokalyptischen Rausches in Hochgeschwindkeit ab und an mal ein Fünkchen Glück oder den Ansatz einer zwischenmenschlichen Beziehung wünscht, bleibt verständlich. Doch Saccomanno kennt kein Erbarmen: Jegliche zwischenmenschlichen Beziehungen werden zu einem entemotionalisierten Akten, jedes Individuum ist in seinem persönlichen Kampf um Machtverhältnisse gefangen. Durch diesen demonstrativen Pessimismus erscheint der Roman in seiner Gesellschaftskritik leider oft zu plakativ. Doch dass es der Leser hierbei mit einem Meister der Handwerkskunst des Gräuels und Schreckens zu tun hat, muss man nicht diskutieren. Der deutsche Leser profitiert dabei von der Übersetzung Svenja Beckers, die Saccomannos trockenen und knappen Sprachstil und die atmosphärische Dichte seiner Bilder treffend übersetzt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Guillermo Saccomanno: Der Angestellte. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
190 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462045987

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