Kein John Wayne der Literatur

Philipp Meyers „Der erste Sohn“ ist ein dokumentarischer Western

Von Duygu MausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Duygu Maus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Über das Cowboyleben wurde geschrieben, als wäre es der Inbegriff von Freiheit, doch in Wahrheit war es eine fast unvorstellbare Plackerei – fünf Monate lang als Sklave einer Horde blöder Rindviecher ­–, und wäre ich nicht für mein eigenes Brandzeichen geritten, hätte ich keinen Tag durchgehalten.“ So beschreibt Eli McCullough, einer der Protagonisten Meyers, kurz vor Ende des Romans, das Leben eines Cowboys. Das entspricht nicht dem romantisierten Ideal, das in zahlreichen Erzählungen und Filmen lange Zeit vorherrschte. Philipp Meyer schreibt in seinem Roman, der den Originaltitel „The Son“ trägt, gegen die Klischees.

Was sich auf 608 Seiten abzeichnet, ist das minutiös gestaltete Bild einer Familie aus Texas von der Gründung der texanischen Republik im Jahr 1836 bis zum Jahr 2012. Ein Familienepos, das über Generationen hinweg das Schicksal der McCulloughs aus verschiedenen Perspektiven schildert.

Einmal aus der Sicht des Colonels, Eli McCullough, der mit dreizehn Jahren miterleben muss, wie die Mitglieder seiner Familie von den Comanchen geschändet und getötet werden, und der selbst von ihnen entführt wird. Der in seinen Entführern eine neue Familie findet und sich ihre Lebensweise aneignet. Tiehtei, so nennen sie ihn, wird anschließend nie wieder der Gleiche sein. Sein Leben führt ihn von den Indianern zum Bürgerkrieg, von der Rinderzucht zum Ölgeschäft. Dann wieder wird die Handlung aus der Perspektive seines sensiblen Sohnes Peter, der mit seiner poetischen Persönlichkeit deplatziert wirkt auf der Farm seines Vaters, und der mit diesem nur allzu wenig gemeinsam hat, erläutert. Während sein Vater sich um Ölbohrlizenzen kümmert, wird Peter von der Mitschuld am Tod der Familie Garcia verfolgt. Und dann gibt es noch die Perspektive von J.A. McCullough, der Urenkelin des Colonels. Sie hat sich ihren Urgroßvater, den Patriarchen, zum Vorbild genommen und schafft es zu nicht unbeträchtlichem Erfolg in der Ölindustrie. Schon als Kind ist sie geleitet von dem Gedanken, als Frau in einer männerdominierten Welt zu bestehen. Doch der Versuch, den Namen der Familie und vor allem den des Großvaters zu neuem Glanz zu verhelfen, führt dazu, dass sie den Kontakt zu den Menschen in ihrer Umgebung verliert. Einschließlich ihrer Kinder.

Die Motive sind nicht neu: Der übermächtige Vater, der sensible Sohn, die erfolgssüchtige Frau. Doch ihre Gestaltung ist gut gelungen, sodass dies dem Roman nicht schadet.  

Durch den ständigen Perspektivenwechsel erhält der Leser ein umfangreiches Bild der Figuren. Die Differenz von Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung erklärt zwischen den Zeilen, wie es zu emotionaler Entfremdung unter den Familienmitgliedern kommt. Die Episoden enden meist mit einem Cliffhanger, sodass die Spannung trotz fragmentarischer Erzählweise auf einem konstanten Niveau gehalten wird. Die zum Teil großen Zeitsprünge werden am Anfang eines jeden Kapitels deutlich gemacht.

Auch die Sprache vermag zu überzeugen. Vor allem der Ton von Eli McCullough beansprucht das emotionale Repertoire des Lesers vielseitig. Er löst zu Zeiten Abneigung, dann wiederum Belustigung, oder auch Sympathie und Mitleid aus. Schon auf den ersten Seiten nimmt der Roman seine Perspektive ein. Der Patron ist hier bereits über hundert Jahre alt, liegt im Sterben und ist sich darüber im Klaren, dass sein Tod ein tragischer Verlust für die Welt sein wird. Er erzählt die Geschichte von Alexander dem Großen, der vor seinem Tod in den Euphrat steigen wollte, damit sein Leichnam nicht gefunden wird und seine Untertanen glaubten, er sei als Gott gen Himmel gefahren. Stattdessen hätte ihn seine Frau gefunden, ihn zurück in sein Bett getragen und ihn so davon abgehalten ewig zu leben. „Und da fragen mich die Leute, warum ich nicht wieder geheiratet habe.“, ist Elis Fazit dieser Geschichte. Auch in Momenten, wo die Figur am Rande des Unsympathischen entlang balanciert, weiß Meyer den Leser bei der Stange zu halten. Zwar entdeckt man zu keinem Zeitpunkt erzählerische Distanz, trotzdem bleibt eine gewisse Ironie in den Aussagen des Colonels nicht aus. Seine Überheblichkeit und seine patriarchalischen Ansichten müssen zwingend komisch wirken.

Die detailreiche Prosa zeigt in manchen Passagen auf dokumentarische Art die Lebens-und Sterbensweise der Menschen im 19. und 20. Jahrhunderts in den Südstaaten. Die Gewalt zwischen „Weißen“ und „Indianern“, zwischen „Weißen“ und „Weißen“, zwischen „Indianern“ und „Indianern“ wird so plastisch geschildert, dass das Lesen zur Überwindung wird. Doch auch dies trägt zur Authentizität des Romans bei. Denn die Geschichte des „Wilden Westens“ ohne die Abgründe der menschlichen Seele zu erzählen würde wohl wieder zu dem Klischee führen, das Meyer hier nicht bedient.

Trotz aller Dunkelheit gibt es dann noch helle Momente, in denen die Protagonisten menschliche Nähe und Liebe finden. Auch wenn es zum Teil auf groteske Weise geschieht. Peter McCollough verliebt sich in Maria Garcia, deren Familie durch seine und die Schuld seiner Familie auf die brutalste Weise ermordet wird. Eine Liebe zwischen Täter und Opfer, zwischen Weißem und Mexikanerin, Schuldigem und Unschuldiger. Sie zeugen ein Kind, dessen Nachfahre dann kurz vor Ende des Romans auch zu Wort kommt. Ulises Garcia schleicht sich auf die Farm der McColloughs in der Hoffnung auf Reichtum. Womit er schließlich geht, ist die Erkenntnis: „Er war nicht irgendein Opfer. Eine Hälfte seiner Familie hatte die andere umgebracht. Beide Anteile steckten in ihm.“ Die Rollenverteilung ist selten so klar wie bei Peter und Maria. Am Ende sind alle Figuren Schuldtragende, Schuldgebende, Opfer, manchmal Opfer ihrer selbst, Täter und Machtbesessene.

Mit seinen psychologisierten Figuren, seinen interessanten Handlungssträngen und seiner überzeugenden Sprache trägt Philipp Meyer dazu bei, dass das Westerngenre auch heute noch eine Fortschreibung erfährt. „Der erste Sohn“ ist ein dokumentarischer Western und ein erstklassiger Epos.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Philipp Meyer: Der erste Sohn. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog.
Knaus Verlag, München 2014.
608 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504798

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch