Im Schreiben sich selbst erfinden

Inka Kording untersucht in „(V)erschriebenes Ich“ die Entstehung von Individualitätsmustern in Briefwechseln des 18. Jahrhunderts

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Briefkultur des 18. Jahrhunderts wird in den letzten 20 Jahren in immer neuen Studien durch unterschiedliche methodische Zugriffe fortwährend besser erforscht. In kaum einem anderen Phänomen wie dem weit verzweigten Briefverkehr spiegeln sich wesentliche sozial-, literatur-, kultur- und geistesgeschichtliche Prozesse. Zugleich gilt die Briefkultur, einsetzend im frühen 18. Jahrhundert bis zur vollen Blüte in der zweiten Hälfte des Säkulums, auch als eine der Triebfedern zur Förderung eben dieser Prozesse.

In den Briefwechseln wird, im Sinne der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft, Gemeinschaft organisiert; es wird das gemeinsame bürgerliche Wertesystem, der aufklärerische Tugendkanon, thematisiert und verinnerlicht. Zugleich tauschen sich die Korrespondenzpartner über Literatur und Lektüreerfahrungen aus, wobei die Artikulierung ‚empfindsamer‘ Gefühlsregungen einen breiten Raum einnimmt. Ebenso werden literarische Gestaltungsmöglichkeiten von den Briefschreibern genutzt, potenziell kann jeder zum Autor und jeder Brief zum literarischen Text werden. Organisiert werden die epistolaren Netzwerke von einer Schicht wissenschaftlich gebildeter und literarisch aktiver Prominenz wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Christian Fürchtegott Gellert, Friedrich Gottlieb Klopstock oder Gotthold Ephraim Lessing, später dann auch Friedrich von Schiller oder Johann Wolfgang von Goethe. In diesen Netzwerken sind nicht nur bürgerliche männliche Teilnehmer integriert, sondern ebenso Frauen – freilich immer im Rahmen der zeitgenössischen Rollenzuschreibung – oder Adlige, was zugleich die Kanäle zur Verbreitung bürgerlich-aufklärerischer Ideen beschreibt.

Soziohistorisch gesehen, weist die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft dem Individuum eine hohe Bedeutung für die Funktionstüchtigkeit des Gesellschaftswesens zu; im Sinne des Autonomiegebots muss sich der Einzelne im sich mehr und mehr ausdifferenzierenden Sozialgefüge selbst organisieren. Wurde zuvor in der höfisch-klerikalen Gesellschaft dem Subjekt sein Platz in der Gesellschaftsordnung quasi gottgegeben zugewiesen, spielen fortan Selbst-Bewusstseinsprozesse, kognitive Eigenleistungen oder im Einzelnen angelegtes, aber auf die Gemeinschaft gerichtetes ethisch-moralisches Verhalten eine wesentliche Rolle. In dem Maße, wie das Individuum gesellschaftlich, kulturell oder auch politisch gefordert wird, kommt es aber ebenso zu einer Einschränkung individualer Emanzipation: Der verbindliche Tugendkanon mit seinen Handlungsanweisungen und moralischen Verhaltensnormen torpediert diese Emanzipation, zwängt die Entwicklung des Individuums in ein Korsett und erzeugt ein letztlich nicht auflösbares Spannungsverhältnis.

Auf dieses Spannungsverhältnis legt Inka Kording den Fokus ihrer Untersuchung. Sie arbeitet heraus, wie Individualität von den Briefschreibern dreier ausgesuchter Briefwechsel – von Louise Adelgunde Gottsched, Anna Louisa Karsch und Heinrich von Kleist – zum Ausdruck gebracht wird, wie aber auch gleichzeitig das Medium ‚Brief‘ Individualitätsprozesse durch seine gattungsspezifischen Eigenheiten befördert: Abwesenheit des Kommunikationspartners, zeitlicher Versatz zwischen Schreib- und Leseprozess, literarische Gestaltungsmöglichkeiten. Kording definiert Individualität als Ausdruck dafür, dass sich eine Person „als kategorial unterschieden von anderen Personen und von der Welt, also als ‚anders‘ erfährt und kritisch die Welt, deren Normen, andere Personen und auch sich selbst in seiner Subjektivität reflektiert.“

Dabei entsteht Individualität in einem Spannungsfeld, das dadurch bestimmt wird, wie der Briefschreiber tatsächlich als Individuum denkt, fühlt und reflektiert, wie er als Individuum wahrgenommen werden möchte und wie er andererseits aber auch durch den Korrespondenzpartner und seine Umwelt generell konditioniert wird. Kording spricht hier von einer „triadischen Entwicklung“ von Individualität. Diese Individualität, die ‚Erschreibung‘ des Ich, entsteht somit auf unterschiedlichen Ebenen, bei denen mannigfaltige Ich-Entwürfe durch die genannten Konstitutionsfaktoren erzeugt werden und nicht immer auf Kohärenz zustreben. Kording hält Individualität in der untersuchten Briefliteratur denn auch für durch die Briefschreiber konstruiert, weil sie grundsätzlich zwischen den Polen Authentizität und Inszenierung, einem stetigen Abgleich mit allen innewohnenden Konfliktpotenzialen zwischen Selbstentwurf und der von außen diktierten Erwartungshaltung changiert.

Als Basis für ihre akribische Untersuchung entwickelt Kording das brieftheoretische Modell einer „achtfachen Relationalität“, also kommunikative Bezugspunkte, zwischen denen sich der briefliche Austausch entfalten kann, die aber auch die kommunikative Struktur und Inhalte bestimmen können. In einer Verknüpfung von brieftheoretischen, soziokulturellen, anthropologischen und kommunikationstheoretischen Fragestellungen zeigt Kording, dass das konstituierende Element von Individualität bei Louise Gottsched die Akzeptanz des Tugendkanons und die Ausrichtung ihrer Lebenswelt danach ausmacht, biografisch etwa nachzuvollziehen in der Unterstützung ihres Mannes Johann Christoph Gottsched bei literarischen, übersetzerischen oder korrektiven Tätigkeiten, wobei sie selbst aber, gemäß dem patriarchalisch vorgegebenen weiblichen Handlungsrahmen, im Hintergrund bleibt. Später, in der Korrespondenz mit der Freundin Dorothea von Runckel, zeigt sich, dass individuelles Selbstverständnis und gesellschaftliche Handlungs- und Verhaltensgebote zunehmend divergieren. Der Briefwechsel mit der Freundin füllt dieses Vakuum, indem er einen virtuellen, kommunikativen Raum schafft, in dem Selbstaussagen in Abgrenzung zum Wertesystem möglich sind.

Bei Anna Louisa Karsch dagegen ist die bestimmende Komponente von Individualität das eigene Bewusstsein über die dichterische Schaffenskraft, die genial-ästhetisch orientiert ist und einen Authentizitätsanspruch hat, den Karsch auch gegenüber sich selbst als Person hat. Sie muss, als einfache Frau aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, dazu noch geschieden, zunächst eine fast pariahafte Existenz führen und wird als dichterisches Naturwunder durch die Gesellschaft gereicht. Sie stellt fest, dass ihr Authentizitätsanspruch durch Erwartungshaltungen des Korrespondenzpartners Johann Wilhelm Ludwig Gleim sowie gesellschaftliche Normen unterminiert wird. Ihre Liebe zu Gleim wird in einem brieflichen Rollenspiel ausgelebt, bei dem sie, nach der antiken griechischen Dichterin, als „Sappho“ auftritt. Ihrem Authentizitätsanspruch korrespondierend ist sie Sappho und spielt sie nicht, so wird sie demzufolge von Gleim zurückgewiesen, als sie das literarisch-fiktive Liebesverhältnis als reales ins Leben übertragen möchte. „Erst in der Pluralisierung der Rollenfiktionen, in der Personifikation der ‚Muse‘ und in der Legitimation des ‚wahrhaften Herzens‘ durch ein vielfältiges, in sich gebrochenes Vexierspiel von authentifizierenden Inszenierungen und scheinhafter Faktizität und schließlich in der Diversifikation des ICH legitimiert Anna Louisa Karsch für sich selbst den Nukleus ihres individualen Lebens.“

Während Karsch und Gottsched grundsätzlich Individualitätsmuster entwerfen, die auf einen Platz in der Gesellschaft zielen, nimmt Heinrich von Kleist in seinen Briefen eine Haltung ein, die mit den vorgegebenen gesellschaftlichen Handlungsmustern des späten 18. Jahrhunderts insofern nicht mehr im Einklang steht, als Kleist einem selbstbezogenen neigungsorientierten Leben zustrebt. Damit „stellt sich das Ich einer bewusst exkludierenden Individuation.“ Zugleich empfindet Kleist die (Brief-)Sprache zunehmend als zu schwach, um eine wahrhaft authentische Selbstaussage im Sinne eines individualen Ich zu ermöglichen. Bei Kleist wird somit die „Unaussprechlichkeit des ICH“ zum „eigentlichen, gleichzeitig bestimmten und entgrenzten, wirklichkeitsfernen und wahren Nukleus der Individuation“, was Kording als Ausdruck einer sich in den Briefen manifestierenden psychischen Entwicklung deutet, die nur folgerichtig im Freitod Kleists ihren Endpunkt findet.

Die Untersuchung bewegt sich texthermeneutisch, argumentativ und methodisch auf hohem Niveau. Überzeugend kann Kording darlegen, wie Ich-Entwürfe in der Gattung Brief entstehen und wie diese an den aufklärerischen Tugendkanon rückgebunden sind, jedoch zugleich die Brüchigkeit dieser Rückgebundenheit zeigen. Die Ich-Entwürfe werden im und durch den Schreibprozess entwickelt, sie werden „erschrieben“, es kommt zu einer Konstruktion und Manifestation des Individuums in der brieflichen Kommunikation. So wird auch deutlich, dass der Brief weit mehr ist, als sich im antiken Topos des „sermo absentis ad absentem“, des Gesprächs zwischen Abwesenden, ausdrückt.

Das erschriebene Ich trägt jedoch immanent seine eigene Konterkarierung immer in sich: Es kommt potenziell immer auch zum „verschriebenen“ Ich, im doppelten Sinne des Wortes: Zum einen verschreiben sich die Briefschreiber einem durchaus diffusen Selbstentwurf, der eine schwer steuerbare Dynamik entwickeln kann, zum anderen mag der Selbstentwurf als „falsch“ – verschrieben eben – erscheinen, weil er ein Konstrukt ist, in dem individuelle Charakterzüge, Erwartungshaltung des Briefpartners und gesellschaftliches Wertesystem um ihren Platz kämpfen.

Titelbild

Inka Kording: »(V)Erschriebenes Ich«. Individualität in der Briefliteratur des 18. Jahrhunderts – Louise Gottsched, Anna Louisa Karsch, Heinrich von Kleist.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
430 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826049309

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