Der Zola Finnlands

Karl August Tavaststjerna porträtiert in „Harte Zeiten“ ein gespaltenes Land in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind besonders die sozialen Gegensätze und die gesellschaftliche Umbrüche, die Tavaststjerna in den Blickpunkt seines Romans stellt. Das Finnland der Jahre 1867/1868, in dem die Handlung angesiedelt ist, zeichnet sich durch eine extreme Kluft zwischen den – meist schwedisch sprechenden – Gutsbesitzern und der abhängigen, ländlichen Bevölkerung aus. Eine wichtige Rolle spielt der Bau der Eisenbahn, der vor allem von den Begüterten vorangetrieben wird und das Industriezeitalter einläutet. Sie ist das Sinnbild des Fortschritts, der auf dem Rücken der Armen ausgetragen wird, die aufgrund der Missernte gezwungen sind, sich im Eisenbahnbau zu verdingen und dort unter den erbärmlichsten Bedingungen und zu den niedrigsten Löhnen schuften müssen. So wütet die sich dem Hungerwinter anschließende Typhusepidemie besonders in den Massenunterkünften der Bahnarbeiter und macht sie zu Opfern der neuen Zeit. „Noch heute sieht der Reisende dort ein dichtes Wäldchen, das aus der pestverseuchten Erde hervorgewachsen ist und unter sich Hunderte von armen Opfern einer neuen finnischen Kultur bedeckt, deren Namen niemand mehr kennt, deren Werk jedoch als ein Wendepunkt in den Geschicken des von Frost heimgesuchten, armen Landes unstreitig feststeht.“

Diese neue finnische Kultur, von der hier die Rede ist steht für ein neues Zeitbewusstsein, den Übergang von landwirtschaftlich geprägter zu industrieller Wirtschaft. Sie steht auch für den Widerstreit zwischen einem neu entstehenden Sozialdarwinismus und dem Prinzip sozialer und gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Als Sinnbild und Manifestation dieser Prinzipien fungieren die beiden benachbarten Gutshöfe Kotkais und Herrö, auf deren Land sich die Handlung des Romans abspielt. Denn während Frau von Blume, Tochter des altehrwürdigen Oberhauptes von Kotkais, das Gut ihres Vaters in Bescheidenheit führt und dort nicht nur in den Hungermonaten eine Armenspeisung, sondern während der Typhusepidemie auch ein Lazarett einrichtet, gibt sich Generalhauptmann Thoreld, Besitzer des prächtigen Gutes Herrö, einem erlesenen und stilvollen Luxus hin, der sich an der städtischen Kultur orientiert und veranstaltet auf dem Höhepunkt der Epidemie ein Gesellschaftsessen für Senatoren, Bahngesellschafter und Ingenieure, um sich in diesen Kreisen nachhaltigen Einfluss zu sichern. Bezeichnend für diesen Gegensatz ist die Rede, die Hauptmann Thoreld am Grab von Frau von Blume hält, die Opfer ihrer Barmherzigkeit wird und selbst am Typhus zu Grunde geht: „Jetzt ertönt dort drüben schon das Dampfsignal, die Stimme der Zukunft! Ihr haben wir einen Weg errichtet mit der Armut unseres Volkes, auf seinen gefallenen Körpern. Mögen diese Heerscharen von Arbeitern, die in ehrlichem Streit gefallen sind, bessere Früchte tragen als alle Bataillone, die auf dem Schlachtfeld gegen gedungene Mörder fielen! Dies ist eine seltsame Rede an einem Grab […] aber sie, über deren Leichnam wir jetzt Blumen streuen, ist für mich auch ein Opfer der neuen Kultur, das im Kampf für jene Zukunft gefallen ist, in der wir endlich das Fest des Erlösers wirklich feiern dürfen.“

Zwar wird die Rede des Hauptmanns von seinem Publikum als eine Lobpreisung der noblen Gesinnung der Toten missverstanden, vielmehr liegt ihm jedoch daran, die vermeintliche Überkommenheit ihres Lebensprinzips seinem fortschrittlichen gegenüberzustellen. Diesem Prinzip folgend ergibt sich auch die Kultivierung eines modernen Pragmatismus und Opportunismus, für den die Hauptperson aus dem Bereich der niederen Schichten, der Österbottnier Kalle Phil, stellvertretend steht. Ihn führt der strenge Winter auf der Suche nach Lohnarbeit in das südlichere Tavastland, wo er es durch eigennütziges Kalkül und eine mit erschlichenen Dokumenten geschlossene Doppelehe zu einer Kate auf dem Hof Kotkais bringt, wo er durch einige glückliche Fügungen die Hungerzeit in relativem Wohlstand verlebt. Als der um seine Papiere gebrachte Landarbeiter, dem Kalle Phil sein Glück verdankt, schließlich auf sein Anrecht pocht wird deutlich, dass in diesem harten Zeiten Gerechtigkeitsempfinden und Solidarität vor einem Prinzip klein beigeben müssen, das das Recht des Stärkeren vorsieht. Denn der betrogene Österbottnier richtet sich durch seine Versuche, sein Recht durchzusetzen und Kalle Phil als Betrüger zu entlarven nur selbst zu Grunde, so dass er am Ende als sozial Geächteter sein Dasein fristet und zu einer Verzweiflungstat getrieben wird, die ihn schließlich in die Verbannung führt.

Die Charaktere werden mit ihren sämtlichen Schwächen und niederen Beweggründen präsentiert, wobei sozial benachteiligte Figuren im Zentrum des Interesses stehen und ihre Lebensbedingungen werden in all ihrer Banalität und all ihrem Elend dargestellt. Das alltägliche, ländliche Leben wird nicht mehr wie in der Romantik idealisiert, sondern in all seiner Härte und all seinem Elend dargestellt und steht in krassem Gegensatz zu dem luxuriösen Leben auf den Gutshöfen und auch deren Vorstellung vom Landleben als „Pastoralidyll“, dem besonders Generalhauptmann Thoreld in realitätsblinder Verklärung anhängt.

Der Roman lässt sich demzufolge im Kontext des Naturalismus verorten und übt wie dieser nicht nur Kritik an der modernen Gesellschaft, sondern auch an der niederen Natur des Menschen, deren verdrängte und unbewusste Beweggründe er hervorkehrt. Auch und besonders die Angehörigen der oberen Schichten bleiben davon nicht verschont, sondern ihre Blasiertheit und ihr Überlegenheitsdünkel werden ironisiert und als das entlarvt was es ist: eine Farce, die sie nur scheinbar von der tierischen Natur des Menschen abhebt. Die auffallende Pflanzenmetaphorik lässt es zu, Verbindungen zu einem der großen Romane des Naturalismus zu ziehen, nämlich Emile Zolas Germinal. Hier wie dort kann der wiederkehrende Verweis auf die aufblühende Natur als Hinweis auf die Entstehung eines neuen Bewusstseins der arbeitenden Schichten aber auch als Hinweis auf den Gegensatz zwischen Natur und Kultur im Moment der Zeitenwende beim Übergang von landwirtschaftlich geprägter zu industrieller Wirtschaft gelesen werden. Tavaststjerna gelingt eine überzeugende finnische Version des Naturalismus. Seine Charakterdarstellungen legen gekonnt die inneren Widersprüche der Herrschaftsschicht offen und sein Porträt der Landbevölkerung verursacht in seiner Drastik Schockeffekte, die seinerzeit sicherlich als skandalös gelten mussten und einen klaren Impetus zur Sozialreform nicht verhehlen.

Harte Zeiten ist aus diesem Grund auch in unserer heutigen Zeit und nicht nur für literaturgeschichtlich Interessierte ein lesenswerter Roman.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Karl August Tavaststjerna: Harte Zeiten. Roman.
Aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke.
dtv Verlag, München 2014.
272 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783423143509

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