Die Erlösung

Mit dem Roman „Die Flügel“ beschließt Mircea Cartarescu seine Trilogie

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In wenigen Wochen jähren sich jene Ereignisse zum 25. Mal, welche nach Polen, Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei schließlich auch in Rumänien das kommunistische Regime innerhalb kürzester Zeit hinweggefegt haben. In Rumänien verlief die „unvollendete Revolution“, wie man sie später oft bezeichnete, ungleich dramatischer als in den bis dahin sozialistischen „Bruderländern“. Nach ersten Demonstrationen in Temeschwar Mitte Dezember 1989 folgten Unruhen in Bukarest, die zur Flucht von Nicolae Ceauşescu und seiner Frau Elena im Helikopter führten. Bald darauf wurden die beiden gefasst und durch ein Tribunal, dessen Legitimität bis heute Fragen aufwirft, zum Tod verurteilt und auf der Stelle hingerichtet. Die Bilder jener „Telerevolution“ haben sich der Öffentlichkeit damals tief eingeprägt.

Im Roman „Die Flügel“, mit dem er seine „Orbitor-Trilogie“ beendet, erinnert Mircea Cartarescu noch einmal an jenen denkwürdigen Winter in Bukarest. Dabei stellt der Umsturz nur den geschichtlichen Hintergrund dar, vor dem sich die weit ausgreifende Romanhandlung entfaltet. Das Ende von Ceauşescus Regime wird als eine eigentliche Zeitenwende geschildert, die über den nationalen Rahmen hinausweist. Cartarescu stilisiert die revolutionären Tage zu einer Art Erlösungsgeschichte – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dem Roman ist ein Motto aus dem Ersten Brief des Paulus an die Kortinther vorangestellt: „Unser Herr ist gekommen!“ Cartarescus „Die Flügel“ – und mit ihm im Grunde genommen die ganze Romantrilogie – strebt auf diesen entscheidenden Moment zu, der alles verändert. Als der Nachrichtensprecher am 25. Dezember 1989 die Information von der Hinrichtung Nicolae Ceauşescus und seiner Frau verkündete, fügte er einen Kommentar hinzu, in welchem er der nationalen eine heilsgeschichtliche Dimension beifügt: „Welch ein Weihnachten – der Antichrist ist tot!“

Doch geht es im Roman nicht allein um die Erlösung Rumäniens vom kommunistischen Joch oder um die religiöse Dimension. Noch einmal erleben wir nämlich in „Die Flügel“ das alter Ego des Schriftstellers, „Mircea“, auf seinen Streifzügen durch Bukarest, durch Wohnungen und Gänge, Hinterräume, Estriche und Keller. Mircea ist inzwischen 33 Jahre alt (und damit im Übrigen genauso alt wie – den Überlieferungen gemäß – Jesus im Moment seines Todes), er schreibt immer noch an seinem allumfassenden Manuskript, er erinnert sich an Kindheit und frühe Jugend. Cartarescu führt auch die Biografie seines Protagonisten eng an der nationalen Geschichte Rumäniens entlang, und wohl noch deutlicher als in den vorangegangenen beiden Bänden schreibt der Autor sich damit selbst in die Geschichte ein. Der Schriftsteller, der an seinem monumentalen Werk auch zweifelt, verzweifelt und leidet, findet in dessen Abschluss schließlich so etwas wie seine eigene Erlösung.

Wie in den bisherigen Bänden der Trilogie („Die Wissenden“, 2007; „Der Körper“, 2009) ist auch in „Die Flügel“ wiederum Bukarest die eigentliche Hauptgestalt mit seinen Wohnungen, Straßen, Geheimnissen, mit seiner Geschichte. Auch die handelnden Figuren sind dieselben geblieben, „Mircea“, seine Eltern, die Verwandten, Nachbarn und so weiter. Dabei können Wiederholungen natürlich nicht ganz vermieden werden. Cartarescu schildert eine Fülle von Episoden und schwankt dabei immer wieder zwischen verschiedenen Modi der Darstellung, zwischen der „Wirklichkeit“ und einer Vielfalt von Parallelwelten, die traumhafte bis fantastische Züge aufweisen. Bisweilen geht der Autor in der Zeit weit zurück und trägt etwa die Geschichte eines polnischen Vorfahren väterlicherseits nach. Dann wiederum rückt er die bedrückende spätkommunistische Atmosphäre ins Blickfeld: das darbende rumänische Volk – die Lebensmittel wurden exportiert, um die Staatschulden zu begleichen – , das Abtreibungsverbot, der Bau eines gigantischen „Palasts des Volkes“, oder Ceauşescus Plan einer groß angelegten „Dorfsystematisierung“, welche die Schleifung ganzer Dörfer vorsah, nur um die Bauern dann in Wohnblöcke umzusiedeln. Diese konkreten Verdichtungen in einem realistischen Stil sind freilich oft greifbarer und wirken nachhaltiger als die zahlreichen fantastischen Abschweifungen und traktatartigen Einschübe. Letztere lassen einen dann doch mitunter etwas ratlos zurück. Die Romanhandlung insgesamt lässt sich jedenfalls auch dieses Mal nicht auf einen alles verbindenden Nenner bringen.

Dass „Die Flügel“ kein eindimensionaler Roman ist, zeigt sich alleine schon in der breiten Symbolik des Titelmotivs. Dieses verweist zunächst auf das dreiteilige Fenster, durch das Mircea Bukarest betrachtet. Es besteht neben dem Mittelteil aus einem linken und einem rechten Flügel: „Die Flügel stellen die Welt dar“, sie können aber auch als die Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft gedeutet werden, während der Mittelteil, der Körper, entsprechend für die Gegenwart stünde. Das Triptychon des Fensters funktioniert auch auf einer religiösen Ebene, es entspricht dann der Ikonenwand in der orthodoxen Kirche. Nicht zuletzt aber geht es bei den Flügeln immer auch wieder um den Schmetterling, quasi ein Leitmotiv in Cartarescus Romantrilogie: „Wir sind Raupen und werden zu Schmetterlingen, dies ist unsere ganze Geschichte, unser ganzer Sinn in der Welt […].“

In diesem Zusammenhang sollte allerdings auch erwähnt werden, dass zumindest auf einen ersten Blick die Wahl der deutschen Titel nur teilweise nachvollziehbar ist. Im rumänischen Original sind die drei Bände mit „Orbitor. Linker Flügel“, „Orbitor. Körper“ sowie „Orbitor. Rechter Flügel“ überschrieben. Diese Symmetrie ist in der Übersetzung („Die Wissenden“, „Der Körper“, „Die Flügel“) verloren gegangen. Ansonsten gibt es an der deutschen Übertragung, die diesmal von Ferdinand Leopold besorgt wurde, freilich nichts zu bemängeln.

Als sehr gelungen darf der Auftstand der Bukarester Statuen und Denkmäler bezeichnet werden, den sich Cartarescu in „Die Flügel“ ausgedacht hat: Die wahren „Märtyrer der Menscheit“, „von den Hunden bepisst, von Vögeln angekotet, vollkommen vergessen von den Lebenden“, erheben sich, setzen sich an die Spitze der Revolution, dringen schließlich in den Palast des Volkes ein und schreiben damit noch einmal Geschichte. In dieser Episode verknüpft Cartarescu seine überragende Fantasie mit Humor und Geschichtsphilosophie.

In „Die Flügel“ erschöpft sich Mircea Cartarescu großangelegtes Projekt: Es hat seine Vollendung gefunden. Mirceas Biografie und sein Traum vom großen Buch, die rumänische Revolution, die Menschheitsgeschichte, die Apokalypse – all dies mündet zuletzt ineinander. Doch muss man anfügen: Auch der Leser ist nun erschöpft und einigermaßen froh, dass Cartarescus Trilogie an ein Ende gelangt ist. Bei den zahlreichen fantastischen Einfällen, die der Autor präsentiert, ist einem ein wenig schwindlig geworden.

Aber hat die ganze Geschichte eine Moral? Der kleine Mircea lag früher seinen Eltern ständig mit der Frage in den Ohren: „Wie sind die Dinge, wenn sie niemand sieht?“ Im Wort „Orbitor“ steckt auch das rumänische „orb“, „blind“. Vielleicht ist es eben letztlich die Imagination, die Literatur, welche die Blindheit überwindet und die Welt damit überhaupt erst sichtbar macht.

Titelbild

Mircea Cartarescu: Die Flügel. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014.
672 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552056893

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