Unter Komplizen

Joshua Groß über den „Trost von Telefonzellen“ und „Magische Rosinen“

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Je unsicherer die Zukunft und je instabiler die Gesellschaft, desto ausgeprägter die Angst, weil vieles offen, aber kaum etwas von Bedeutung ist. Damit verbunden ist die Sehnsucht nach Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit. Diese „Gesellschaft versicherte sich immer neurotischer gegen jedes Risiko, gegen jedes unvorhersehbare Gefühl. Und diese diffuse Ablehnung der Irrationalität war überall, wir lebten nicht mehr, wir planten alles und eigentlich war es nur die Evolution der IKEA-Werbung“, schreibt Joshua Groß in seinem Debütroman „Der Trost von Telefonzellen“, der 2013 erschienen ist.

Ein im besten Sinne überraschendes Buch, das zugleich zeigt, wie sehr vor allem die junge Generation der Zwanzig- und Dreißigjährigen Überraschungen braucht, um sich selbst zu spüren: „Das ist wenigstens mal ein Tag, der nicht die elende Kopie eines anderen ist. Das ist wenigstens mal eine Konfrontation mit dem, was man manchmal Leben nennt. Das ist wenigstens mal eine warme Nacht, in der ein Dichter einen Tapeziertisch klaut, ein intellektueller Vagabund, ein bescheuerter Doktor, Seite an Seite mit einem bekloppten Maler, ein kaputtes Herz, ein zerstörter Verstand, und tagsüber sieht alles so normal aus […]“

Die „Generation Y“, die hier beschrieben ist und die der Autor selbst verkörpert, kann Umwege machen und Lebensschwerpunkte verschieben – aber es muss Sinn ergeben. Was ist relevant? Das ist die Leitfrage der „Generation WHY“, die zwischen 1980 und 1995 geboren ist, und die bisherige Verhältnisse und Vorstellungen infrage stellt. In der Fachliteratur werden mit ihr postmaterialistische Werte wie Freundschaft, Nachhaltigkeit, Selbstbestimmung und Ungebundenheit in Verbindung gebracht. Wie sie wirklich fühlt, denkt und handelt, wird hier allerdings kaum reflektiert. Auch vor diesem Hintergrund ist es eine innere Bereicherung, sich mit Joshua Groß zu beschäftigen und seine Bücher zu lesen, die alle wie ein roter Faden miteinander verbunden sind und doch immer auch für sich stehen. Es geht um die Frage, was eine Idee erreichen kann, aber auch um die Interessen des Einzelnen, um das, was er ist, wie er sich profiliert im Sinne inhaltlicher Erkennbarkeit: „deutlicher sein, zugespitzter und abgehobener“.

Schreiben ist für Joshua Groß ein Versuch, zur Erkenntnis vorzudringen. Während dieses Prozesses dreht, spiegelt und dehnt er das Anliegen zu einem signifikanten „Klumpen Ton“ und hofft, dass der Leser seine Texte wie Kaleidoskope betrachtet, sich an der psychedelischen Bewegung erfreut, beim Lesen aber auch Spaß hat und vielleicht dahinter sogar irgendwo die Wirklichkeit erahnt. Wenn er den Eindruck hat, beim Schreiben nicht vorwärts zu kommen, ist das für ihn keine Kreativitäts- oder Schreibblockade, sondern immer auch eine Form des Lernens, die ihn dazu führt, an der Gestaltung einer nachhaltigen Gesellschaft mitzuwirken: „Es geht doch um mehr als um mich.“ Das ist für ihn die Chance der Literatur: durchzuspielen, wie sich Leben und Gesellschaft, die sich häufig über das Materielle definieren, auch entwickeln könnten. So wird auch im Roman das Gefühl beschrieben, etwas (sichtbar) „machen zu müssen, weil man spürt, dass es nötig ist. Dahinter steht keine rationale Kalkulation“.

Angefangen mit dem Terroranschlag am 11. September 2011 über die Afghanistan-, Irak-, Wirtschafts- und Finanzkrise haben die Vertreter der Generation Y erfahren, dass es viele Probleme in ihrer Lebenswelt gibt. Sie sind vom Krisengefühl begleitet worden und haben dadurch ein ständiges Gefühl der Angst und Unsicherheit miterleben müssen. „Ich versuchte zumindest, nicht zu viel an die Zukunft zu denken, weil es passierte, dass ich in Angstzustände fiel, die jede Unsicherheit quadrierten“, heißt es in „Der Trost von Telefonzellen“.

Der 1989 in Altdorf im Landkreis Nürnberger Land geborene Franke Joshua Groß studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Politikwissenschaft und Ökonomie und machte seinen Master in Ethik der Textkulturen. Zu seinen Lieblingsautoren gehören die argentinischen Autoren Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, die Gedichte der Hippie-Ikone Richard Brautigan, die Repräsentanten der Beatnik-Szene und die Vertreter des magischen Realismus. Mit 17 Jahren begann Joshua Groß Gedichte zu schreiben. Es folgten Essays, Kurzgeschichten, Veröffentlichungen in Literaturmagazinen und Rezensionen. Lyrik schreibt er, weil er als „investigativer Poet“ mit einigen „Kumpanen und befreundeten Säbelzahntigern“ durch diese diffuse Epoche „schlurcht“. Sie dokumentieren, weil es nicht anders geht und haltensich die Tentakel, die aus dieser verworrenen Epoche hängt, fern. Als Detektive sind sie nicht zu vereinnahmen – „aber sie sezieren die Gegenwart mit unkonventionellem Scharfsinn“. Damit hängt auch das Bedürfnis zusammen, sich als Autor so präzise wie möglich zu erklären.

Sein Buch „Der Trost von Telefonzellen“, das er mit 21 Jahren schrieb, setzt ein Initium, einen Anfang, der wiederum nur gesetzt werden kann, wenn man sich vom Bisherigen distanziert: Zwei befreundete Studenten brechen aus der erstarrten Routine des Alltags aus und fahren in einem alten VW-Bus durch Franken. Der angehende Maler Luca Tasso, der wurde gerade von seiner Freundin verlassen, und der Erzähler Emil Mino, ein Szene-Lyriker, sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Sie führen ein „Doppelleben zwischen müder Ignoranz und dem Bewusstseinszustand eines Superhelden“. „Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, Kinder zu haben, in dieser abgefuckten und zerstörten Welt“, sagt Luca. Das Gefühl einer zeitweisen Ohnmacht in finsteren Zeiten ist berechtigt, denn die Wirklichkeit wird nicht ignoriert, sondern lediglich „seziert“. So heißt es auch in seinem Büchlein „Bewusstseinspfannkuchen“ (2014): „Wir fügen der Wirklichkeit einen Schnitt zu, den wir nicht umgehen können.“

Es bleibt nicht beim Gefühl, nichts tun zu können – Groß’ Protagonisten haben eine Wirkung in der Wirklichkeit. Sie wollen sie zum Besseren verändern. Denn die Chance, dass etwas gut ausgeht, besteht immer. „Daran zu glauben, ist unsere Aufgabe“, sagt Joshua Groß. Das vermittelt auch „Der Trost von Telefonzellen“: Auf einem abgelegenen Parkplatz bei Altdorf verkaufen die beiden Freunde auf gestohlenen Tapeziertischen antiquarische Bücher. Es gibt für sie keinen besseren Platz für die Literatur als diesen – und eine alte Telefonzelle, die Professor Luigi Fontano aus seinem Wagen zieht. „Diese lebensnotwendigen Kabinen menschlicher Einsamkeit und Zusammenkunft werden nach und nach abgerissen und dann ist alles aus – wir sollten so ein Teil auftreiben“, sagt Luca. Denn seine Generation weiß sehr genau, dass sie auch definierbare Beziehungen zu Orten braucht, Konstanten in der modernen vernetzten Gesellschaft, um Halt zu haben und sich nicht zu verlieren. So steht die Telefonzelle symbolisch für einen verlässlichen Schwerpunkt, an dem man sich innerhalb der Welt orientieren kann, aber auch für die Konkretisierung eines Gefühls und für Sinn, der dort beginnt, „wo die Sprache aufhört“.

Der Fotokünstler Philippe Gerlach, Jahrgang 1982, dokumentiert im Roman, der zahlreiche Anspielungen auf Pop-Kultur, B-Movies der 1970er-Jahre, die Literatur des Magischen Realismus sowie Richard Brautigan enthält, mit der Kamera das Lebensgefühl der jungen Generation. Während der Bildjournalismus häufig nach dem „spektakulären Schnappschuss“ jagt, spürt er mit luzider Lässigkeit jene nachhaltigen Momenten und Augenblicken auf, in denen Menschen, Räume oder Situationen ihr Wesen offenbaren. Dabei geht es um die Wahrheit des Augenblicks, wie sie häufig nur in Sekundenbruchteilen und an den Rändern des Geschehens aufscheint. Beide befragen und ergründen in diesem Buch das diffuse Chaos unserer Epoche, begleitet von mystischer Lakonie und eigenwilliger Ironie.

Im Roman entwickelt sich in erstaunlicher Eigendynamik ein spontanes Musikfestival namens „Woodstock11“, das die Protagonisten nicht mehr erleben, weil sie längst „abgefahren“ sind. Was (zurück-)bleibt, ist die alte Telefonzelle – und das Festival als erzählerische Leerstelle im Roman. Es geht Joshua Groß vor allem darum, den Leser einzubinden, der sich allerdings nicht voreilig dazu verleiten lassen soll, Texte sofort einzuordnen, zuzuordnen oder abzustempeln. Er ist davon überzeugt, dass sich Neues nicht erzählen lässt, wenn man sich nicht bemüht, neu zu erzählen. Dafür muss auch immer die Form überdacht, „ausgetrickst und gesprengt“ werden. Der Autor muss sich sogar selbst und die Leser austricksen, „damit nicht die immer selben mentalen Trampelpfade wieder und wieder (unbewusst) abgelaufen werden“.

Das, was im Roman ausgelassen wird, soll sich der Leser selbst hinzudenken. Damit folgt er dem Beispiel Julio Cortázars, einem argentinischen Autor, für den der komische Roman „durch Ironie, Auslassung, unablässige Selbstkritik und Phantasie in Niemandes Diensten erschaffen“ werden und so gestaltet sein soll, „dass man an seinen Rändern einen Gehalt von größerer Wichtigkeit erahnt“. In seinem Roman „Rayuela“ heißt es in Kapitel 79, dass der Leser dadurch zum Komplizen und Weggenossen gemacht wird, „dass man ihm unterm Deckmantel einer konventionellen Handlungsführung andere, mehr esoterische Richtungen suggeriert“. So ist der Leser Mitbeteiligter und Mitbetroffener der Erfahrung, „die der Romanautor durchgemacht hat, im gleichen Augenblick und der gleichen Weise“.

Für Joshua Groß sind Komplizen Menschen, denen es um Auseinandersetzung geht, und die keine Erklärung brauchen, die sich im Idealfall aufrichtig begegnen, zwischen denen Akzeptanz und Verständnis wächst und die sich im Prozess immer weiter kennenlernen. Komplizenschaft ist einer der wichtigsten Begriffe im Kontext der Generation Y, für die es keine ausgeprägte Trennung mehr von privat und öffentlich gibt. Komplizenschaft ist komplett entgrenzt und entfaltet sich in der Aktivität und der gemeinsamen Begeisterung für eine Sache. Aber sie ist auch temporär: Menschen treffen zusammen, sie haben eine Idee, gemeinsam etwas zu tun und sie beschließen wie die Romanfiguren von Joshua Groß, es auch umzusetzen. Komplizenschaften ergeben sich sehr schnell und sind zielorientiert. Doch nach der Umsetzung kann diese auch ebenso schnell wieder aufgelöst werden.

Gesa Ziemer, Professorin für Kulturtheorie und Vizepräsidentin für Forschung an der HafenCity Universität in Hamburg, hat das Konzept der Komplizenschaft als Form gemeinschaftlichen Handelns untersucht und den Begriff aus dem strafrechtlichen auf den kreativen Kontext übertragen und gefragt, ob wir dort nicht auch komplizitär agieren – ohne ein kriminelles Ziel zu verfolgen. Wir wollen niemanden umbringen, niemanden ausrauben, sondern eine neue Idee oder ein neues Produkt generieren. Komplizenschaft heißt Regelbruch und Mittäterschaft: Man handelt und schafft Resultate. Für Ziemer sind Komplizenschaften allerdings keine Freundschaften, sondern projektorientierte, sehr schnelle Gemeinschaften, die etwas zusammen tun, aber wieder auseinandergehen, wenn sie ihr Ziel erreicht haben.

Am Ende des Buches von Joshua Groß sind die beiden Hauptfiguren dann auch keine Komplizen mehr, sondern Freunde und Detektive. In „Bewusstseinspfannkuchen“ begegnet dieser Verweis ebenfalls: „Ich bin ein miserabler Detektiv. Aber ich bin ein Detektiv. Detektive finden. Detektive werden gefunden. Detektive suchen nicht.“

In „Magische Rosinen. Die Geschichte von Mascarpone und Sahra Wagenknecht. Novelle aus dem Spätkapitalismus“ bewegt sich das Geschehen ebenfalls im Dazwischen. Diesmal muss der Leser mehr Detektiv sein und weniger Komplize. Zeitkritische Fragestellungen sind im aktuellen Buch mit comichaftem Trash verbunden. Durch inhaltliche Überspitzung werden die Bedingungen gesellschaftlicher Veränderungen ebenfalls hinterfragt. Während der Autor in seiner „unerhörten Begebenheit“ auf Untergrundmythen und Verschwörungstheorien zurückgreift, auf William S. Burroughs, Surfmusik und Kapitalismuskritik, verbindet Philippe Gerlach die Geschichte erneut mit seinen Fotos – diesmal von sturmverwüsteten amerikanischen Städten, die auch für den Treibsand der Gegenwart stehen, in dem die magischen Rosinen verborgen sind.

Der kleinkriminelle Musikfetischist Mascarpone wehrt den Wunsch seines Freundes Sergio ab, mit dem Longboard „einfach komplizenhaft zu rollen“. Er verfällt der „schlau-biederen“ Sahra Wagenknecht, einer „aromatisierten Fee von Planwirtschafts Gnaden“ und Verfechterin einer radikalen gesellschaftlichen Sehnsucht. Beide erkennen, dass Utopien durchaus real werden können. Der Magnetismus, der beide verbindet, führt sie nach New York, wo es zum Showdown kommt zwischen unbeugsamen Surfmusikern, Revolutionären und haltlosen „Bösewichtern“. Sie machen sich auf die Suche nach den magischen Rosinen – einem Wundermittel zur Befreiung des menschlichen Bewusstseins. „Niemand glaubt an ihre Existenz, aber jeder will sie haben.“, sagt Sahra Wagenknecht, die Streitereien mit dem Geliebten als „Hegeleien“ bezeichnet, etwa wenn es um Phrasen in Politik und Gesellschaft geht. Aber am Ende zählt auch hier wie im Debütroman von Joshua Groß nur das, „was wir machen“. Beim Handeln gibt es keine Phrasen. Die Botschaft ist so einfach wie eindeutig. Es geht nicht allein um das Lebensgefühl der jungen Generation, sondern um uns alle. Der Trost der Telefonzellen erinnert daran.

Titelbild

Joshua Groß: Der Trost von Telefonzellen.
Herausgegeben von Manfred Rothenberger.
starfruit publications, Nürnberg 2013.
288 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783922895244

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Titelbild

Joshua Groß: Magische Rosinen. Die Geschichte von Mascarpone und Sahra Wagenknecht.
Novelle aus dem Spätkapitalismus.
starfruit publications, Fürth 2014.
96 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783922895251

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