Beobachtungen in den Vororten der Stadt am Tiber

Pasolinis frühe römische Geschichten

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der italienische Schriftsteller Pier Paolo Pasolini (1922–1975), der auch als Regisseur, Zeichner und Maler tätig war, gehörte zu den herausragendsten, schillerndsten und streitbarsten Persönlichkeiten des intellektuellen Europas der Nachkriegszeit. Im Friaul aufgewachsen, verlebte er eine glückliche Kindheit und Jugend auf dem Land. Es folgten erste poetische Versuche; ein begonnenes Kunststudium musste er wegen des Zweiten Weltkrieges abbrechen, sodass er in den Kriegsjahren die Kinder des Ortes privat unterrichtete. Hier entdeckte er auch zum ersten Mal seine Homosexualität. Nach dem Kriegsende war er dann als Volksschullehrer an einer staatlichen Schule tätig, wo er mit den Problemen und Ansichten der Jugendlichen konfrontiert wurde.

Nach dem Bekanntwerden und der öffentlichen Diskussion seiner Homosexualität wurde Pasolini aus dem Lehramt entlassen und ging mit seiner Mutter im Winter 1950 nach Rom, wo er in ärmlichen Verhältnissen lebte und dort das raue Leben in den Vorstädten kennenlernte. Mit gering bezahlter Unterrichtstätigkeit und mit ersten schriftstellerischen Arbeiten versuchte er, Fuß zu fassen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Im Verlag Klaus Wagenbach ist nun in der Reihe SALTO ein schmales Bändchen mit neun Geschichten über die ersten römischen Jahre Pasolinis erschienen, sie entstanden alle in den frühen 1950er-Jahren. Die kurzen, meist nur wenige Seiten langen Geschichten erzählen von flüchtigen Begegnungen mit Halbwüchsigen am Tiber („Der Junge und Trastevere“) oder in einer Badeanstalt („Das Getränk“).

In „Der Glatthai“ beobachtet Pasolini den jungen Romolé, der in der Fischabteilung der Markthalle zwei Dorsche und einen großen Glatthai stiehlt, die er dann später auf der Piazza Maranella verkauft, um ein paar Lire zu verdienen. „Blendendes Rom“ ist dagegen eine poetische Beschreibung einer Abendstunde am Tiberufer, wo der Autor mit einem Oberleitungsbus unterwegs ist. In der längeren Geschichte „Nacht über dem ES“ schildert Pasolini das schwere Schicksal von Rafele, der früh Vater und Mutter verloren hat. In der abschließenden „Bauerngeschichte“ lernt der Leser den sturen und schwerfälligen Romano, der im Schlachthof arbeitet, kennen – und dessen scheinbare Verwandlung. In Rom legt er sein bäuerliches Wesen ab, kauft sich eine Harley-Davidson und gibt sein Geld großzügig aus. Eine sonderbare Verwandlung: aus Romano dem Bauern wird Romano der Stutzer.

Realistisch und kontrastreich beschreibt Pasolini seine meist jugendlichen Protagonisten des römischen Subproletariats mit all ihrer Hoffnungslosigkeit und Armut. Ebenso sachlich und kühl schildern die soziologischen Beobachtungen auch den Alltag in den Vororten von Rom. Komplettiert wird der Erzählband durch eine kurze Biographie von Pier Paolo Pasolini und einigen Schwarz-Weiß-Fotos von Rom aus den 1950er-Jahren, die neben dem Autor auch einige Schauplätze der Geschichten zeigen.

Titelbild

Pier Paolo Pasolini: Rom, Rom. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Hans-Peter Glückler, Bettina Kienlechner und Annette Kopetzki.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
120 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783803113061

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