Untergangsgeschichten

Hans-Jürgen Schmelzer schreibt mit „Meines Vaters Felder. Biografie einer Landwirtsfamilie“ seine Familiengeschichte

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was fängt man mit diesem Buch an? Weglegen, Kopf schütteln, darin schwelgen? Die übliche Retourkutsche eines Heimatvertriebenen, der die Geschichte seiner Familie so aufpoliert, dass kein trüber Fleck mehr bleibt? Oder eine präzise Kritik an der Moderne, vor allem wenn sie sozialistisch eingefärbt ist? Zeigt das Buch vorbildliche Großgrundbesitzer, die sich um ihr Land und um ihre Leute sorgen und niemanden im Stich lassen? Auch dann nicht, wenn sie selbst unterzugehen drohen? Was fängt man an mit all den edlen Gestalten – edle Einfalt und Güte –, die sich selbst nicht schonen und von den anderen dasselbe verlangen? Die fehlerhaft sind, manchmal Dünkel haben, aber deren Beste stets das Beste getan und gewollt haben?

Hans-Jürgen Schmelzers Buch „Meines Vaters Feld“ erzählt die Geschichte einer Gutsbesitzerfamilie im Oderbruch, an der heutigen deutsch-polnischen Grenze, und hätte eine großartige, auch sehr persönliche Studie über die Durchsetzung der Moderne im ländlichen Raum sein können. Eine Studie über die Aussichtslosigkeit, sich gegen die historischen Kräfte durchzusetzen, die im politischen und ökonomischen Raum wirken, über die Einsicht, dass es keine Möglichkeit gibt, sich gegen Veränderung zu sperren, dass sie – ganz im Gegenteil – mit gestaltet werden muss. Soweit das einzelnen möglich ist. Das Zeug hatten Schmelzers Altvordere immerhin dazu.

Dafür gibt es großartige Vorbilder. Die beiden großen Bände des niederländischen Journalisten Geert Mak über „Das Jahrhundert meines Vaters“ (2005) und über den Ort Jorwert („Wie Gott verschwand aus Jorwert“, 1999) haben gezeigt, was von einer solchen Geschichtsschreibung zu halten ist, die ihrem Gegenstand so nahe steht: Sie ist selbstverständlich persönlich und auch eben parteiisch, aber sie weiß in ihren guten Fassungen auch genau diese Position und Haltung zu reflektieren und davon abzusehen. Individualgeschichte wird damit in Richtung Kollektivgeschichte eröffnet, was ja nicht zuletzt einer der Erträge der Mentalitätsgeschichtsschreibung war und ist.

Genau daran aber fehlt es Schmelzers Familiengeschichte – was ihren Wert deutlich mindert, und die Lektüre teilweise an den Rand des Peinlichen treibt. Der Sohn der vertriebenen alten Gutsbesitzer kehrt nach der Wende zurück, und alle Bewohner des Ortes begrüßen ihn auf das Herzlichste (ein paar alte Kader ausgeschlossen). Gerade die Jungen hängen an seinen Lippen, wenn er von den alten Zeiten, dem Gut und seiner Familie erzählt und wie schade es doch ist, dass alles nach dem Krieg so den Bach runter gegangen ist. Kommunistische Misswirtschaft, persönliche Unfähigkeit, Missgunst gegenüber dem alten Chef, die politische Vorgabe der Sowjets, dass der alte Gutsbesitzer in der späteren DDR keine Rolle mehr spielen sollte, auch wenn der sich noch knapp drei Jahre nach dem Krieg auf dem Areal mit niedersten Arbeiten abgerackert hat. Ein blühendes Anwesen, binnen kurzer Zeit sinnlos zugrunde gerichtet.

Dem wird man kaum widersprechen wollen, warum auch? Und dennoch hat das Buch eine gehörige Schlagseite. Die drei Generationen Schmelzer, die in Sachsendorf wirtschafteten, haben aus dem Krongut ein vorbildlich geführtes und profitables landwirtschaftliches Unternehmen gemacht. 1908 kaufte die Familie das, was sie bis dahin nur gepachtet hatte, für einen Preis, der zwischen 1,5 und 3 Millionen Mark gelegen hat. Damit krönte der eigentliche Gründervater der Familie (streng aber gerecht) sein Lebenswerk, was jede Anerkennung verdient.

Der aus dem Magdeburgischen stammende Adolph Schmelzer hatte das Krongut zu einem Mustergut entwickelt, nicht zuletzt, indem er die neuesten Erkenntnisse über die Bewirtschaftung und Organisation eines solchen Gutes erfolgreich umsetzte. Die zahlreichen Zuggespanne, die im Gut eingesetzt wurden, mögen den Amtsrat Schmelzer mit Stolz erfüllt haben, sie sind allerdings zugleich Ausdruck einer effizienten Organisation des Gutes – ganz auf der Höhe der Zeit, also noch vor der Maschinisierung der Landwirtschaft. Schmelzer ließ eigene Straßen pflastern und modernisierte die Anlagen seines Guts (wobei man von mehreren Gütern sprechen muss). Auch was die Mitarbeiterführung angeht, folgte er modernen (und zugleich traditionellen) Mustern: Jahrzehnte vor Henry Ford versuchte Schmelzer Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden, indem er sie förderte und forderte, sie gut behandelte (mindestens respektvoll) und für seine Zeit gut bezahlte. Sie dankten es ihm durch besondere Leistungen und eine hohe Identifikation mit dem Betrieb.

Das ging unter seinem Sohn und Nachfolger, der kein Interesse an dem Gut hatte und es verpachtete, verloren: Als der Vater des Autors, Hans Schmelzer, das Gut Sachsendorf 1927 wieder übernehmen konnte, weil der Pächter aufgab, kam ihm das teuer zu stehen. Hans Schmelzer musste den Hof zum Einstandspreis zurücknehmen, was das Gut massiv belastete (dass ihn dies verärgerte, mag man sich denken, dass er das aber nicht seinem Vater, sondern dem Pächter anlastete, der lediglich auf den vertraglichen Vereinbarungen bestand, ist schon bedenkenswert).

Problematischer war allerdings, dass unter der Verwaltung des Pächters die Bindung der Mitarbeiter an den Hof deutlich gesunken war. Die Landarbeiter wurden anscheinend als Arbeiter behandelt und agierten auch so – was für Schmelzer lediglich Ausdruck eines Zerfalls der vorherigen Hofgemeinschaft ist und nicht der geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse: Arbeiter hatten gelernt, dass sie nicht nur auf das Gutdünken ihrer Arbeitergeber angewiesen waren, sondern aus eigenem Recht handeln konnten. Und das ist grundsätzlich falsch? Immerhin gelingt es dem Vater binnen Kurzem, die Leute wieder fester an sich zu binden. Wobei ihm der Systemwechsel 1933 eingestandenermaßen geholfen hat. Auch die Wirtschaftlichkeit des Hofes konnte wiederhergestellt werden – immerhin eine Leistung, die zu honorieren ist. Die patriarchalischen Zeiten des alten Schmelzer waren 20 Jahre her. Modernisierung, Krieg und die politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegsjahre hatten Einfluss auf das Gut und seine Herrschaft.

Allerdings scheint der Preis, den die Familie Schmelzer dafür zahlten, doch arg hoch: Diese war nach wie vor 1914 national gesinnt, das heißt bis 1918 vor allem monarchistisch gestimmt. Die Weimarer Republik hat sie anscheinend ebenso über sich ergehen lassen wie das Dritte Reich, was Hans Schmelzer nach dem Krieg anscheinend sogar eingestanden hat. Dass sich in einer modernen Gesellschaft die Mitarbeiterführung deutlich hätte verändern müssen, kann man sich denken. In den 1920er- und 1930er-Jahren profitierte Schmelzer noch von den Restbeständen älterer Haltungen, und davon, dass er die Angestellten und Arbeiter am Erfolg des Gutes beteiligte. Das aber spielte nach 1945 am Ostrand der späteren DDR keine Rolle mehr. Das Gut Sachsendorf wurde noch von den Sowjets kollektiviert, Schmelzer ausgewiesen oder er kam seiner Ausweisung zuvor. Drei Jahre blieb er noch, diesmal als einfacher Landarbeiter ohne Aussicht auf Rehabilitation, da dies politisch nicht opportun war. Den Niedergang des Hofes hat er nicht verhindern können, selbstsüchtige und unfähige Parteikader, der SED hätten dies verhindert.

Nun steht es jedem frei, „die Kommunisten“ für alles Mögliche verantwortlich zu machen. Allerdings waren die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen nach 1945 in der späteren DDR nicht optimal. Die frühe politische Entscheidung Knowhow-Träger, die politisch vorbelastet waren, nicht wieder in Positionen zu bringen, mag zudem kurzsichtig und fatal gewesen sein. Dennoch ist sie nachvollziehbar. Das mag im Fall Schmelzer den Falschen getroffen haben, aber das hilft nicht. Zumal dessenVerhältnis zum NS-Regime eben doch unklarer ist, als es der Sohn gern hätte: Der Eintritt in die Partei 1938 mag auf den Druck der Außenwelt zurückzuführen sein. Selbst eine honorige Verlegergestalt wie Ernst Rowohlt hat diesen Schritt getan. Dennoch kommen Gut und Eigentümerfamilie merkwürdig unberührt durch das Tausendjährige Reich. Man hat anderes zu tun, so scheint es. Und das Regime sorgt für Ruhe, was einem nach den chaotischen Weimarer Jahren zupass kommt. Wo der Ärger mit den neuen Machthabern nach 1945 und die Missstände, die sie zu verantworten haben, ausführlich beschrieben werden, bleibt es in Sachen NS-Regime bei den allernotwendigsten Hinweisen: Wie standen die Schmelzers zu den Juden? Außerordentlich gut (trotz des Ärgers über die hohen Forderungen des alten Pächters und einer offensichtlich verrückten antisemitischen Seitenverwandten). Hatten sie etwas gegen den Nationalsozialismus: selbstverständlich, sie blieben auf Distanz. Wie behandelten sie ihre Fremdarbeiter (Franzosen oder Polen)? Außerordentlich gut, so gut, dass die sich noch nach 1945 gern an das Gut in Sachsendorf erinnerten. Was haben Sie von den Konzentrationslagern und dem Holocaust mitbekommen? Anscheinend nichts (was mit der Wiederholung nicht glaubwürdiger wird). Immerhin findet sich eine kleine Passage, in der einer Verwandten gedacht wird, die im Euthanasieprogramm des NS-Regimes ermordet wurde. Sie fehlte beim letzten Weihnachtsfest der Familie in Sachsendorf beim Schmücken der Rückseite des Weihnachtsbaumes, was ihre traditionelle Aufgabe gewesen war.

Insgesamt ist ein merkwürdiger Umstand festzuhalten, der im deutlichen Widerspruch zum Klappentext steht: Hier wird nicht die Geschichte einer ganzen Region am heutigen Ostrand der Republik geschildert, sondern die einer Gutsbesitzerfamilie. Diese Geschichte ist deshalb blind für alle sozialen Aspekte, die nicht im gutbürgerlichen Kosmos dieser Familie angesiedelt sind. Regionalgeschichte bleibt weitgehend außen vor. Die Brüche und Widersprüche auch innerhalb der Familie werden unter einer gehörigen, auch stilistischen Patina verdeckt. Und das ist schade, eben weil es eine vergebene Chance ist. Schmelzer hätte gut daran getan, dem Vorschlag jener Leipziger Doktorandin zu folgen, die ihn um seine Familienunterlagen gebeten hatte. Sie hätte vielleicht mehr daraus machen können, als zu betrauern, dass die Geschichte der Familie Schmelzer im Oderbruch nach drei Generationen zu Ende gegangen ist.

Titelbild

Hans-Jürgen Schmelzer: Meines Vaters Felder. Biografie einer Landwirtsfamilie im Oderbruch.
Bebra Verlag, Berlin 2013.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783861246794

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