Biographisches Rohmaterial

Über Ernst Jüngers „Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918“

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Jüngers achtzigjähriges Schreiben hat nicht nur ein umfassendes publiziertes Œuvre hervorgebracht, sondern auch einen nahezu unerschöpflichen Nachlass, aus dem fortlaufend veröffentlicht wird. Vor allem Briefwechsel und die Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg stellten die bislang wichtigsten Publikationen aus diesen Beständen dar. Die nun vorliegende Auswahl einiger Feldpostbriefe, die Jünger zwischen 1915 und 1918 an seine Eltern und den Bruder Friedrich Georg verfasst hat, verbindet diese zwei Bereiche der Nachlassaufbereitung. Zugleich eröffnet die Edition aber eine neue Perspektive, denn sowohl was die Schriften aus und über den Weltkrieg als auch die zahlreichen veröffentlichten Briefwechsel betrifft, gab es bislang eine auffällige Leerstelle – die Familie.

Zwischen einem sachdienlichen Vorwort des Herausgebers und einer abschließenden Zeittafel bietet der Band 72 Briefe, Postkarten und Telegramme Ernst Jüngers, aber auch einige an ihn gerichtete Antwortbriefe. Vor allem diesen ist es zu verdanken, dass das Spektrum der bisherigen Selbstzeugnisse Jüngers aus dem Krieg erweitert wird, und das Manisch-Monologische hier nicht so deutlich zu Tage tritt wie im Kriegstagebuch oder den späteren Stahlgewittern. Gegenüber den Eltern und vor allem dem Bruder wird manches angedeutet, manches auch explizit angesprochen, was später den Selbststilisierungen geopfert wurde und ungenannt blieb. Erstaunliche Details kommen so zur Sprache, etwa die Zukunftsfrage „Was werde ich?“, zu deren Beantwortung sich Jünger die Büchlein ‚Arzt‘ und ‚Jurist‘ aus der gleichnamigen Reihe erbittet. Besonders zu Beginn des Krieges gibt es noch zahlreiche Ausblicke auf die Zeit nach dem bald erwarteten und wiederholt berechneten Kriegsende. Durchaus überraschend wird sogar die Hoffnung auf Frieden formuliert.

Aber die Logik des Krieges und die schnelle Eingewöhnung verengen die Perspektive, und das Kriegshandeln gerät bald zum Selbstweck. „Im Krieg kann man eben nur durch den Krieg hochkommen“, schreibt Jünger, und formuliert damit seinen Ehrgeiz, in der Hierarchie voranzukommen, nicht ohne die großen Erlebnispotentiale der Kampfhandlungen zu suchen, sich dabei durch „kriegerische Taten“ zu beweisen – und ‚Spaß‘ zu haben. So wird auch den Eltern gegenüber mit der Nervenstärke und allgemeinen Abhärtungserscheinungen geprahlt, die einen Gasangriff „halb so wild“ erscheinen und einem „ganz neuen Krieg, der weniger langweilig ist“ euphorisch entgegensehen lassen. Bereits nach einem halben Jahr ist er zum „alten Krieger“ geworden, der sich mit jenem draufgängerischen Gestus geriert, der später auch die Stahlgewitter dominiert. Doch anders als dort halten sich hier noch das Militärische und das Persönliche die Waage. Bestellungen bei der Familie artikulieren Bedürfnisse nach Wurst, Schokolade, Tabak, besonders aber nach Büchern und entomologischen Fachzeitschriften. „Mein größter Wunsch“, schreibt er im Oktober 1915, ist „eine Wochenschrift über Käfer oder Insekten im Allgemeinen“.

Thematisch ist überhaupt vieles, was die späteren Schriften bestimmen wird, bereits in diesen frühen Briefen angelegt. So etwa die mit Friedrich Georg geteilten Reiseträume, dem Afrika oder die Karpaten als Auswege erscheinen, da „Deutschland zu eng geworden“ sei oder die eifrigen Sammlungstätigkeiten, die Ernst für sein „Kriegsmuseum“ betreibt. Neben Aufzeichnungen und Briefen finden auch Käfer und die Kampfbeute Eingang in die „Trophäensammlung“, die wie der Stahlhelm eines englischen Leutnants zum Fundament von Jüngers Sammlungen wurde und zum Teil noch heute in seinem Wilflinger Wohnhaus zu sehen ist. Gegenüber ungewohntem Vokabular wie „Freund“ oder „Heimweh“, überwiegen in den Briefen die bereits bekannten Elemente aus Jüngers späterem Werk. Diese skizzieren das Rohmaterial, dessen Kern schließlich auch auf die nach Kriegsende ‚in Form gebrachten‘ Tagebücher vorausweist, aus denen In Stahlgewittern und die weiteren Kriegsbücher hervorgingen. Zugleich zeigen die Briefe aber auch an, was später alles ausgeschnitten wurde: das Profane, die kleinen und größeren Beschwernisse des soldatischen Alltags – und vor allem auch – die Ausblicke. Im Vergleich erscheint die 1920 veröffentlichte erste Fassung von In Stahlgewittern frappierend kontextlos, geradezu historisch und biografisch isoliert, kennt sie kein Vorher und Nachher, und überhaupt wenig außer dem Krieg selbst. Der dabei bis ins Äußerste stilisierte Krieger hat nur noch wenig Menschliches im Vergleich zu dem Jünger, der sich in seinen Briefen mit seiner Familie austauscht. Besonders in den Episteln an seinen Bruder Friedrich Georg äußert sich eine Stimme, die ansonsten kaum von Jünger zu vernehmen war. Damit macht auch diese Edition letztlich vor allem wieder eines deutlich – dass eine der wichtigsten Veröffentlichungen aus den Nachlässen der Jünger-Brüder immer noch aussteht.

Titelbild

Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918.
Herausgegeben von Heimo Schwilk.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014.
180 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783608939507

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