Kein Krieg hört auf, nur weil die Waffen schweigen

Marica Brodrožić erinnert in ihrem Buch „Mein weißer Frieden“ an das Land ihrer Kindheit

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun liegt das zehnte Buch von Marica Bodrožić vor. In verschiedenen Verlagen hat sie bereits ihre Gedichte, Romane, Erzählungen sowie Texte über Sprache und Erinnerung veröffentlicht. Zudem arbeitet sie als Übersetzerin, unterrichtet in Schreibwerkstätten, gestaltet Arbeiten für das Radio und realisierte einen Dokumentarfilm. Sie wurde mit einer Vielzahl von Stipendien und literarischen Preisen ausgezeichnet. So bekam sie zum Beispiel für ihren Roman „Kirschholz und alte Gefühle“ im Jahr 2013 den „European Prize for Literature“ und den „LiteraTour-Nord-Preis“.

Die Autorin wurde 1973 in Dalmatien geboren, übersiedelte 1983 nach Hessen und lebt aktuell in Berlin. Dies sollen keine biografischen Angaben sein, wie sie oftmals den Texten vorangestellt werden, um die schreibende Person einzuführen. Die biografischen Stationen sind für die Autorin zentrale Ereignisse, die in ihrem Werk immer wieder neue Fragen aufwerfen. Fragen, die aus dem Gespräch mit Menschen vor Ort gefunden werden und auf der Reise die Wahrnehmung schärfen. Mit dem Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung verfasste sie nun das vorliegende Buch „Mein weißer Frieden“. Eine Arbeit also, die aus dem Reisen und durch die Dialoge mit anderen entstand.„Das Leben ist eine Reise, die sich selbst überschreibt, jeder Gedanke, jede Empfindung ist ein neuer Weg, der den eigenen Kern freilegt und die Sinne verfeinert.“ So beginnt Brodrožićs Text, der sich laufend selbst überschreibt, mit unterschiedlichen Erinnerungen, Gefühlen und Stimmungen erzählt und sich von einer Erinnerung befreit, die neben ihr keine andere zulässt.

In „Mein weißer Frieden“ reist Bodrožić nach Dalmatien, in die Landschaft der Geburt und Kindheit zurück, um Verwandte, Freundinnen und Menschen aufzusuchen, die von der Zeit während des Krieges berichten. Im Alter von neun Jahren verließ Bodrožić die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien; acht Jahre bevor der Krieg ausbrach; neun Jahre bevor neue Grenzen gezogen wurden. Dalmatien hat sie jedoch nie vergessen: „Jedes Mal, wenn ich mich, die Marmontstraße hinaufgehend, langsam dem Fischmarkt nähere und die Gespräche der hungrigen Möwen höre, fühle ich, dass ich von hier komme, meine Wurzeln in dieser Landschaft habe und dass die erste Luft, die meine Lunge an einem heißen Augustnachmittag, unter Schatten spendenden gütigen Bäumen, geatmet hat, diese dalmatinische Luft war.“

Durch die Dialoge und das Erzählen der verschiedenen Geschichten soll deutlich gemacht werden, dass hier die Erzählfigur nicht die Position einer Zeitzeugin oder eines Zeitzeugen einnehmen kann, schließlich war sie nicht dabei. Alles was sie nun verstehen oder sehen kann, ermögliche ihr der zeitliche und räumliche Abstand, der sich nun während der Reise mehr und mehr in den Vordergrund drängt. In ihren Gesprächen, die sich unterwegs nach und durch Dalmatien und Bosnien mit Verwandten, Freunden und Fremden ergeben, erfährt sie Natur und Kultur oftmals im Widerspruch. So fragt sie sich an der kroatischen Meeresküste: „Wie kann man Menschen erschießen, wenn der Wind in den Palmen singt? Ich war nicht dabei, ich werde es nie erfahren. Was ich sehen kann, ermöglicht mir nur der Abstand. Ich bin keine Zeitzeugin, es kann sich mir niemals das ganze Bild vermitteln. Aber kann es das jemals?“

So versucht Bodrožić gar nicht, ein vollständiges Bild des Krieges zu zeichnen. Sie geht auch keiner dualistischen Betrachtungsweise zwischen Opfern und Tätern nach, sondern versucht mittels einer ethnografischen Herangehensweise, eine empathische Beziehung zu den Menschen aufzubauen, die mit ihr in einen Dialog treten. Dabei bewegt sie sich zwischen Beschreibungen der mediterranen Welt und der hinterlassenen Verwüstungen des Krieges. Im Fokus behält sie dabei immer das Erzählen, das aus dem Herzen erfolgen soll, damit die biografischen Barrieren umgangen werden können.

Der Stil Bodrožićs ist essayistisch. Am Ende der Lektüre angekommen, ist man nicht nur um eine literarische Erfahrung reicher, sondern verfügt auch über eine feinere Wahrnehmung. Die Gedanken der Autorin sind immer nachvollziehbar beschrieben. So ist das Buch ein Plädoyer dafür, dass es nicht nur eine Wahrheit geben kann, sondern immer mehrere davon geben muss. Wir Menschen nehmen mit unseren Sinnen, Gedanken und Gefühlen vieles unterschiedlich auf und sind deshalb oftmals für die Empfindsamkeiten anderer unempfindlich. Dieses Bucg aber lädt dazu ein, die eigene Wahrnehmung zu prüfen: Woher kommen unsere Überzeugungen, Gedanken und Emotionen?

Die Autorin fragt sich schlussendlich, was ihre Aufgabe sein kann und demnach, was die Aufgabe eines jeden Menschen sein könnte. „Ich habe gelernt, dass man Gedächtnisse und Menschen gleichermaßen töten kann. Was ist die Aufgabe der Erinnerung hier? Sie ist das Gespräch mit einem inneren Selbst. In seinem Kern lebt mein weißer Frieden, den es ohne Bewusstsein nicht geben kann. Denn kein Krieg hört auf, nur weil die Waffen schweigen.“

Als Antun auf der Promenade in Split von der Autorin gefragt wird, warum er in den Krieg zog, antwortet er darauf, er hätte sich keine Gedanken darüber gemacht. Worüber hätte er nachdenken sollen? Wer nicht in den Krieg gegangen wäre, von dem habe es geheißen, er sei gegen das Vaterland gewesen. Allein diese Begegnung zeigt: Der Jugoslawienkrieg ist noch nicht zu Ende.

In 24 Kapiteln zeigt uns die Autorin, dass es trotzdem Hoffnung gibt. Die zahlreichen Stimmen, die sich im Text finden lassen, sind vielfältig und stellen die Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln dar. Bodrožić schafft es, denen eine Stimme zu verleihen, die sonst nicht gehört werden und bringt sie miteinander ins Gespräch. Als plötzlich nach dem 16. Kapitel ein 18. folgt, meint man kurz, dass der Dialog unterbrochen worden sei. Da die Protagonistin zu diesem Zeitpunkt in Imotski in einen Bus nach Zadar steigt, kann man sich fragen, ob in den ungefähr drei Stunden etwas passiert ist, das es nicht in das Buch geschafft hat. Vielleicht zeigt uns das fehlende Kapitel aber auch, dass es in Erinnerungen immer Lücken geben kann. Nun liegt es an uns, wie wir diese Lücke schließen möchten.

Titelbild

Marica Bodrožić: Mein weißer Frieden.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014.
335 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873947

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