Lawinen, Sturmwarnungen und Vertrauensverluste

Wilhelm Amann, Natalie Bloch und Georg Mein haben Aufsätze zum Verhältnis von Narration und Kontingenz im Kapitalismus versammelt

Von Kay ZiegenbalgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Ziegenbalg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viel Geld gibt es auf der Welt? Eine der interessanteren Antworten kommt von der Kinderredaktion des Berliner „Tagesspiegels“: „Ganz genau kann das natürlich keiner sagen. Es kommt darauf an, was man alles zum Geld dazurechnet.“ Die Antwort zeigt, dass Geld nichts Zählbares mehr ist. Der alte Witz – oder war es ein Sketch? – von dem Rentner, der sich einmal pro Woche auf der Bank sein Geld zeigen lässt, symbolisiert ein Klientel, das die obige Antwort schon gar nicht mehr verstehen würde. Die kindgerechte Antwort der Zeitungsredaktion deutet einen überraschend beweglichen Umgang mit dem Geld an.

Mehr noch: Geld bewegt! Vom britischen Soziologen Colin Crouch stammt das Stichwort der Postdemokratie. Seine These ist, dass die staatlichen Komponenten des demokratischen Gefüges zunehmend Kompetenzen an andere Bereiche ausgelagert haben und sich fachlich von äußeren Interessen leiten lassen. An den Stammtischen kursiert die Theorie vom fiktiven Geld, genährt von Medienberichten über den Heuschreckenkapitalismus der Glücksspieler und Risikoverwalter.

Dabei tut sich ein Graben auf, der gelegentlich übersehen wird. Einerseits gibt es zum Beispiel den durchschnittlichen deutschen Privathaushalt, der im Jahr 2011 über ein monatliches Bruttoeinkommen von 3.871 EUR verfügte. In Georgien lag das durchschnittliche Jahreseinkommen im gleichen Zeitraum bei 2.860 USD. In Usbekistan wurde nur noch die Hälfte davon verdient. Wirklich vergleichen lassen sich die Zahlen nicht. Das Preisniveau wirkt sich auf den Wert des zur Verfügung stehenden Geldes aus.

Der Vergleich von Jahreseinkommen ist trivial und nur eines von vielen ökonomischen Messinstrumenten. Selbst hinter so einfachen Auflistungen stecken komplexe Forschungstätigkeiten, und dabei geht es doch nur um einen kleinen ökonomischen Akteur, eben den Privathaushalt, dessen finanzieller Spielraum klar und deutlich von Kontoauszügen oder ihren digitalen Nachfolgern ablesbar ist. Auf der anderen Seite des Grabens stehen Wirtschaftssysteme, in denen sich Volkswirtschaften, Handelsunionen und transnationale Konzerne überlagern. Hierbei bestehen komplexe Abhängigkeiten, die weitreichende Konsequenzen haben. In The End of Poverty versieht Jeffrey D. Sachs, seinerseits Sonderberater der Millennium Development Goals, zum Beispiel einen Diagnosebogen für die allgemeine Verfassung von Volkswirtschaften mit nicht weniger als 57 Kriterien. Dazu gehören nicht nur materielle Bedingungen für die Landwirtschaft und Lebensqualität, sondern auch weniger greifbare Größen wie „Quasi-Fiskale Schulden und versteckte Schulden“. Beim Versuch, die möglichen gegenseitigen Abhängigkeiten solcher ökonomischen Indikatoren zu erklären, sind – wenn man den Inhalt beiseite lässt – ca. 4 x 1076 Kombinationen denkbar. Unterteilt man die Kriterien, wie Sachs das tut, in sieben Kategorien, bleiben auf dieser Ebene 5.040 Kombinationsmöglichkeiten. Und auch wenn diese Rechnung einer näheren Prüfung nicht standhalten dürfte, bleibt doch stehen: Es ist ausgesprochen viel, was zu berücksichtigen ist, um überhaupt über Ökonomie zu sprechen.

Die Orientierung der Konsumenten kennt zwei extreme Ausprägungen: den niedrigsten Preis oder die nachhaltigste Konsumtaktik. Dazwischen sucht sich das Kapital neue Wege zum Wachstum. Denn mit Waren allein ist dem Wachstums- und Innovationsdruck nicht mehr nachzukommen. Längst dominieren supranationale Gemischtwarenläden die Weltwirtschaft, in deren Bilanzen die Gewinne der einen Sparte die Verluste der anderen ausgleichen. Das Modell der Holding ist ein Konstrukt und lässt eher an die Verwaltung eines Potenzials denken, als an einen traditionellen Familienbetrieb, der sich auf Herstellung und Verkauf von Waren spezialisiert hat.

Wie gesagt, da prallen Welten aufeinander. Man versucht, über Wirtschaft nachzudenken und begegnet immer absurder wirkenden Geschäftsmodellen, die scheinbar nichts mit dem zu tun haben, was Karl Marx in England gesehen hat. Gleichzeitig aber haben sich die Konflikte dieser Zeit nicht aufgelöst. Die Perspektive der Tradition vermag nicht zu erfassen, warum der Dax nach oben oder unten geht. So hart ist auch der Zusammenprall einer eindimensionalen, sich abschottenden wissenschaftlichen Ökonomie mit den vielstimmigen, fragmentarischen Kultur- und Geisteswissenschaften.

In dem von Wilhelm Amann, Natalie Bloch und Georg Mein herausgegebenen Band Ökonomie. Narration. Kontingenz. Kulturelle Dimensionen des Marktes wird nun versucht, Brücken zu schlagen. Der ökonomische Diskurs bestehe nahezu aus abgeschottetem Geheimwissen und habe sich von den multiplen kulturellen Dimensionen seines eigentlichen Wirkfeldes immer mehr entfernt. Es gelinge in diesem Diskurs, so Wilhelm Amann im Einleitungsaufsatz, eine Zentralagentur zu errichten, die sich nicht mehr von außen beeinflussen lässt. Eine solche zentrierte Konstruktion wurde in den 1980er-Jahren nicht nur von Niklas Luhmann als überholte Vorstellung kritisiert. Nach der mit großem Aufwand betriebenen Kartografie der Moderne schien die Idee einer zentralen Machtinstanz als schwer haltbar. Die Generalthese des Bandes ist nun, dass Luhmann recht behält, denn die von der Ökonomie errichtete Zentralagentur zeigt immer mehr die Bereitschaft, sich in die Karten schauen zu lassen.

Nicht zuletzt ist ein Anlass der Publikation, die Öffnung der Ökonomie für kritische Fragen und das stärkere Interesse an einer „kulturellen Begründung und Verankerung des ökonomischen Wissens“. Diese kritischen Stimmen werden unter dem Etikett der heterodoxen Ökonomie zusammengefasst, wobei die so genannte post-autistische Ökonomie sich beispielhaft gegen die von den Beiträgern verhandelten Immunisierungen der Wirtschaft richtet. Der ausweglose Selbstbezug, die naturwissenschaftliche Ausrichtung und die Ignoranz gegenüber der sozialen Sphäre sind in der Lesart der post-autistischen Ökonomie die größten Fehler des ökonomischen Mainstreams.

Hier wird er schon erkennbar, der Wunsch nach einer versöhnlichen Mehrstimmigkeit. Medial existiert diese Mehrstimmigkeit bereits, wenn auch notgedrungen. Sie tut dies in den vielfältigen Erzählungen, in denen den Nicht-Experten die Wirtschaft zugänglich gemacht wird. Der spezifische Stil der Börsenberichterstattung im Ersten ist so ein Beispiel, das im Sammelband aufgegriffen wird. Sturmwarnungen, Talfahrten, hochinfektiöse Vertrauensverluste, Lawinen, Rettungsschirme, Therapien, Notbremsen und dergleichen finden plötzlich Verwendung auf einem Feld, in dem sie nichts zu suchen haben. Stattdessen werden Lawinen, Sturmwarnungen und Vertrauensverluste in die Risikospalten der Konzerne einsortiert und verrechnet.

Was in Kurvendiagrammen und Indizes dargestellt wird, wird erst mittels der Erzählung auf das Niveau einer romantischen Material- oder auch Realwirtschaft heruntergebrochen. Praktisch wird also die Ökonomie durch narrative Verarbeitung in den Medien auf ein Niveau übersetzt, das ablehnende oder zustimmende Äußerungen der Konsumenten ermöglicht. Das ist ein großer Mehrwert, wenn als Alternative nur diffuse Angst vor einem unklaren Kapitalismus zur Verfügung steht. Dass nun aber für die Mehrheit der Rezipienten die Erzählung als Ersatz für die ganze Bandbreite des spezialwissenschaftlichen Diskurses zur Verfügung steht, wird mit systemtheoretischer Anschauung zur Kenntnis genommen. Die Produktion von Fiktionen sei schließlich – wie es im Abstract heißt – das „gängige Verfahren der Kontingenzbeherrschung“. Und diese These beinhaltet, dass auch die Kritik des ökonomischen Systems nicht ohne diese Fiktionsbildung auskommt. Der Begriff der Fiktion wirkt an dieser Stelle fehlplatziert. Es ist ja gerade die desillusionierende Pointe der Moderne- und Postmodernedebatten, dass nicht einfach nur zwischen Fiktion und Wirklichkeit, sondern vielmehr zwischen diversen narrativen Praktiken zu vermitteln ist, wenn Wirklichkeitsdeutung betrieben wird. Sicherlich spielen fiktionale Narrative dabei eine Rolle. Aber in erster Linie ist nicht die Fiktionalisierung das primäre Verfahren der Komplexitätsreduktion, sondern das narrative Verfahren.

Alexander Preisinger beginnt seine narratologische Untersuchung der Kapitalismuskritik als mittlerer Erzählung zunächst mit einem historischen Abriss einiger Erfolgsgeschichten. Höhepunkte dieser Erfolgsgeschichten sind die Krisen des neoliberalen Wirtschaftssystems. Vor allem öffentliche Aktion (Battle of Seattle, Genua), „Insider-Reformisten“ (stellvertretend Helmut Schmidt) und das Bündnis attac! als „Vorzeigekind der Globalisierungskritik“ haben den kapitalismuskritischen Diskurs in die Mitte der Gesellschaft gebracht und damit den Rechtfertigungsdruck auf ökonomische Eliten erhöht.

Es stellte sich in Krisenzeiten nicht nur heraus, wie fragil die Weltwirtschaft ist, sondern dass die Fragilität mehr und mehr als gewinnsteigerndes Werkzeug eingesetzt worden war. Die Bindung der Produktivkraft an greifbare Produktionsmittel und die Vorstellung von einer traditionellen produzierenden Arbeit sind ausgehebelt worden. Gehandelt wurde mit Wahrscheinlichkeiten, Vertrauen, Expertisen.

Wolfgang Schmidt stellt die Frage, warum aber ausgerechnet eine demnach illusorische Urszene – wie die des einfachen Tauschhandels –, die vor dieser Entmaterialisierung der Wirtschaft verortet wird, zum Ausgangspunkt der Arbeiten von Adam Smith und David Ricardo werden konnte. Auch Marx war ja durch seine Konzentration auf die englischen Fabriken nur einer bestimmten Form des Wirtschaftens nachgegangen. Da finden sich Beispiele wie der Tausch von Wein gegen Getreide, der einem der beiden Händler nur Gewinn bringen kann, während der andere als Bestohlener zurückbleibt. Es ist der „Mythos des einfachen Warentauschs“. Diesem Mythos aber ist es zugleich zu verdanken, dass die Utopien der Minimalisten, Schenker und Selbstreparateure eine Stimme entwickeln können. Komplexitätsreduktion findet in diesen Ansätzen sogar physisch statt, wenn die Masse der Konsumgüter systematisch reduziert wird.

Preisinger zeigt in seinem Aufsatz, wie die Kritik am dominierenden Wirtschaftsgebaren vorgehen muss, um sich überhaupt als Kritik positionieren zu können. Die Kritik beanspruche 1. die Realität für sich, strebe Objektivität an, indem sie 2. auch die Handlungsmotivation der Kapitalisten nachvollziehend ausdrückt und 3. die wertenden Eigenschaften den Akteuren zuteile.

Zum Beispiel ist dabei der Neoliberalismus ein Konzept, das auf Totalität und Vollkommenheit ziele, während das kritische Denken die Grauzonen, Nischen und die Dimension des Wünschens betone. Preisinger weist nach, dass die kapitalismuskritische Erzählung dem Muster einer einfachen Binär-Struktur folgt und jeden Aspekt in einer neoliberalen und einer entsprechenden Gegenlesart kodiert, um anschlussfähig zu sein. Die Argumentationen der ideologiekritischen Diskurse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden hier noch einmal bemüht. Das System, seine Gefährdung, das falsche Bewusstsein, der Mainstream, das alles kommt von den anderen.

Preisingers Beitrag, und das gilt für den gesamten Band ist dabei erstaunlich voraussetzungsreich. Eine Wirkung außerhalb der narratologischen Disziplin wird abzuwarten sein. Zumal die mehrfach formulierte Spezifik des Ökonomischen nicht wirklich auf den Punkt gebracht wird. Inwiefern könnte diese Spezifik gegenüber der kulturwissenschaftlichen Rede charakterisiert sein? Rolf Parrs Versuch, dies zu beantworten, lädt dazu ein, seine Antworten aus ökonomischer Perspektive nachzustellen, ohne an Verständigungskraft zu verlieren.

Zu den spezifischen Teildisziplinen der Ökonomik (Mathematik, Stochastik, Betriebswirtschaft, Finanzbuchhaltung, Kommunikation und Psychologie) lassen sich strukturelle Entsprechungen in Linguistik, Rhetorik, Narratologie, Lexik, Editionswissenschaften angeben. Der spezifisch kulturwissenschaftliche Diskurs ist somit auch ein „Zwitter zwischen spezial- und interdiskursiver Ordnung“.

Eine Vereinfachung, wie die in den ökonomischen Diskursen attestierte, hätte nur manchem Abschnitt des Sammelbandes zu mehr Überzeugungskraft verhelfen können: „Der historische Diskurs zeichnet sich meist durch eine spatio-temporale Programmierung sowie durch spezifische Voraussetzungen aus, die mit Semen physischer Referenz besetzt werden.“ Die erklärende Fußnote lautet: „Vgl. der Sieg Thatchers über die englische Bergbaugewerkschaft.“ Könnte das bedeuten, dass – wie Wilfried Katz es 1984 in der ZEIT formulierte – die Iron Lady „durch Anrufung des Falkland-Geistes“ einen „Heiligen Krieg der Kräfte des Lichts gegen die Mächte der Finsternis“ innerhalb der britischen Bevölkerung zu schüren suchte? Dass also Margret Thatcher und die Gewerkschaften sich kämpferischer Narrative bedienten, um ihre Standpunkte durchzusetzen?

Es fehlt darüberhinaus den Aufsätzen der vertiefende Blick auf die Rolle der Schreibweise, auf das, was da letztlich behauptet wird und suggerieren soll: Der kulturwissenschaftliche Diskurs könne niemals so bedrohliche und entmachtende Tendenzen entwickeln wie die Fachsprache der Heuschrecken. Ökonomie. Narration. Kontingenz. will davon berichten, dass die Kulturwissenschaften zu lange übersehen haben, dass ein erweiterter Literaturbegriff auch die ökonomischen Diskurse umfasst und diese kritisch durchdringen könne. Dabei wird stillschweigend behauptet, die Kulturwissenschaften hätten darüberhinaus keinen Bezug zur Ökonomie oder wären nicht längst selbst in der Situation, ihre Funktion als Gegenpol rechtfertigen zu müssen und unter enormem wirtschaftlichen Druck zu stehen. Werden hier die Abgesänge auf die Theorie der 1980er-Jahre auf die Ökonomie übertragen? Oder übersieht man eventuell, dass die Idee einer der Unternehmenslogik sich entziehenden Kulturwissenschaft erst noch nachzuweisen ist?

Die Art und Weise, in der eine abgehobene Wirtschaftselite in den Medien präsentiert wird, in einen narratologischen Überblick zu bringen, gelingt in diesem Sammelband dafür sehr gut. Die untersuchten Analogien und ständigen Vereinfachungen verweisen deutlich auf die Gestalt, in der uns Ökonomie täglich begegnet – aber eben nicht nur diese. Das Verhältnis von Narration und Kontingenz ist das eigentliche Kernthema, das hier am Beispiel der Ökonomie verhandelt wird. Die Untersuchungen zu diesem Verhältnis machen den Band zur lohnenden Lektüre.

Titelbild

Georg Mein / Natalie Bloch / Wilhelm Amann (Hg.): Ökonomie – Narration – Kontingenz. Kulturelle Dimensionen des Markts.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
294 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770557288

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