Eine gelungene Mischung aus Krimi, (Psycho-)Thriller und Sozialdrama

Mechthild Lanfermanns dritter Roman „Wer ruhig schlafen kann“

Von Yvette RodeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvette Rode

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2012 legte Mechthild Lanfermann, die unter anderem als Reporterin und Redakteurin beim WDR, bei Radio Bremen, beim RBB und bei Deutschlandradio Kultur sowie als Dozentin für Hörfunkpraxis an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover arbeitet, mit Wer im Trüben fischt ihr Prosadebüt vor. Der Roman erzählt von den Ermittlungsarbeiten der Berliner Radioreporterin Emma Vonderwehr nach dem Mord an einem jüdischen Professor. Bereits ein Jahr später veröffentlichte Lanfermann einen weiteren Roman mit dem Titel Wer ohne Liebe ist, in dem Vonderwehr den Mord an einem Grundschullehrer aufdecken will, der bis zu seinem Tod in rechtsradikalen Kreisen verkehrte. Bei ihren Ermittlungen ist ihr der verheiratete Kommissar Edgar Blume behilflich, mit dem sie eine Affäre hat.

Im Juli dieses Jahres ist der dritte Teil dieser Romanreihe im btb-Verlag erschienen, den Lanfermann Wer ruhig schlafen kann nannte. Wie bei Wer im Trüben fischt und Wer ohne Liebe ist hat es Vonderwehr auch diesmal mit einem kniffligen Fall zu tun, der sie nicht loslässt. Dabei sollte sie nur als Urlaubsvertretung für einen Kollegen einspringen, um von einem Gerichtsprozess zu berichten, bei dem der Obdachlose Paul Koslowski verdächtigt wird, das Straßenmädchen Hilke Elmer ermordet zu haben. Alle Indizien sprechen gegen den Angeklagten und der Fall scheint gelöst zu sein – aber nicht für Vonderwehr. Nach der Verhandlung führt sie ein Gespräch mit Maren, einer Freundin der Toten, die von der Unschuld Koslowskis überzeugt ist und auf die Reporterin einen aufrichtigen Eindruck macht. Wie in ihren früheren Fällen (und Romanen) lässt sich Vonderwehr auch diesmal nicht von ihrer Intuition abbringen und ermittelt auf eigene Faust im Obdachlosenmilieu am Berliner Alexanderplatz. Bei ihren Nachforschungen findet sie heraus, dass sich Hilke vor ihrem Tod mehrmals mit dem erfolgreichen, aber in seiner Branche recht umstrittenen Recruiting-Manager Nikolaus Dorn getroffen hat. Nach einer Serie tragischer Ereignisse überkommt Vonderwehr der Verdacht, dass er mehr über den Mord an Hilke weiß. Am Ende des Romans muss sie nicht nur um das Leben des Mädchens, sondern auch um ihr eigenes bangen.

Wer ruhig schlafen kann wird auf dem Cover mit dem Label „Kriminalroman“ markiert. Zunächst beginnt er auch wie einer, da in der ersten Hälfte des Romans die Ermittlungsarbeiten von Vonderwehr im Vordergrund stehen. Ab der Mitte entwickelt er sich zu einem Psychothriller. Der dramaturgische Wendepunkt ist ein Interview Vonderwehrs mit Dorn, bei dem er sich als narzisstischer und machtbesessener Psychopath entpuppt, der nicht nur bei seinen Angestellten „mit stahlharter Hand die Spreu vom Weizen“ trennt, sondern auch gezielt nach ihrer „verwundbaren Stelle“ sucht, um Kontrolle über sie zu gewinnen. Auch Vonderwehr wird zu einem Opfer seiner Manipulationstechniken, als er sie dazu auffordert, an die „schwächste Stunde“ ihres Lebens zu denken. Sofort erinnert sie sich an die damals fünfzehnjährige Jenni, die sich nach einer Vergewaltigung das Leben genommen hat. Vonderwehr, die damals für Radio Bremen über den Fall berichtete, hat „alles drangesetzt“, um den Täter „hinter Gitter zu bringen“. Nach dem Tod von Jenni wurde ihr in der Presse vorgeworfen, das Mädchen durch ihre Berichte über den Prozess in den Suizid getrieben zu haben.

Es ist bemerkenswert, mit welcher Präzision Lanfermann Vonderwehrs Trauma herausarbeitet. Wie viele Menschen, die von einer posttraumatischen Belastungsstörung betroffen sind, hat auch Vonderwehr den Vorfall jahrelang verdrängt, bis sie beim Interview mit ihm konfrontiert wird und ihn in Gedanken erneut durchlebt: „Verfolgte sie dieses Unglück denn immer noch? Sollte sie anfangen, jetzt auch hier in jedem Gesicht den Vorwurf zu lesen, in jedem Flüstern ein Gerede über sie, Emma, zu hören? War sie nicht weit genug weggelaufen?“ Dadurch, dass Lanfermann Vonderwehr als traumatisierte Ermittlerin zeichnet, wird die Figur vielschichtiger und vermag bei den LeserInnen mehr Empathie zu wecken, als wenn sie nur eine ehrgeizige und hartnäckige Journalistin wäre, die nichts und niemand aus der Fassung bringen kann.

Zudem ist beachtlich, mit welcher Präzision und Realitätsnähe Lanfermann das Obdachlosenmilieu erzählerisch erfasst, in dem Vonderwehr den Großteil ihrer Recherchearbeiten leistet. Dabei wird sie mit dem Leid und Elend der Menschen, die auf der Straße leben, konfrontiert. Die meisten von ihnen, etwa ein Junge, den alle Cola nennen, stammen aus einem zerrütteten Elternhaus, haben die Schule abgebrochen, konsumieren regelmäßig Alkohol und Drogen. Außerdem leiden sie unter der Ignoranz der besser situierten Bevölkerungsschicht, die sie herablassend behandelt. Cola fungiert als das Sprachrohr aller Obdachlosen, wenn er Vonderwehr das Leid der perspektivlosen Jugendlichen schildert: „Für die meisten sind wir nur Abschaum. Die geben uns nicht mal die Reste von den Pommes, die schmeißen die lieber weg.“ Diese und ähnliche Passagen aus dem Obdachlosenmilieu, die sich durchaus als Aufruf zu sozialer Rücksichtnahme lesen lassen, zeigen eindrücklich, dass Wer ruhig schlafen kann mehr sein will als nur ein Krimi.

Lanfersmanns virtuose Verquickung unterschiedlicher Genres – Kriminalroman, Psychothriller und Sozialdrama – macht Wer ruhig schlafen kann zu einem hervorragenden Roman der – nicht zuletzt auch durch seine komplexen Charaktere – die LeserInnen in seinen Bann zieht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Mechthild Lanfermann: Wer ruhig schlafen kann.
btb Verlag, München 2014.
382 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783442747245

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