Trauer über den Tod Georg Trakls

Zu einem Gedicht Else Lasker-Schülers aus dem Jahr 1917

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Kein Gedicht Else Lasker-Schülers hat mich auf Anhieb so bewegt wie dieses. Ich kenne es seit etwa 10 Jahren. Die erste Lektüre verdanke ich einem Freund. Bei einer Tagung über Trauer analysierte der Psychoanalytiker Andreas Hamburger, was ihm das Gedicht seit vielen Jahren bedeutet. Angeregt davon, habe ich seither in Gesprächen mit anderen und mit mir selbst wiederholt die Frage gestellt, wie drei einfache Sätzen eine derartige emotionale Wucht entwickeln können.

Georg Trakl
Georg Trakl erlag im Krieg von eigener Hand gefällt.
So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb.

Kaum ein Gedicht Else Lasker-Schülers ist kürzer als dieses. Vielleicht ist es auch deshalb eines ihrer besten. Die sonst meist wort-, phantasie- und bildreiche Dichterin hat sich hier dem Konzentrationszwang einer alten literarischen Gattung gebeugt, des Epitaphs. Eine Grabschrift hat naturgemäß nur begrenzten Platz zur Verfügung. So sind hier auf nur zwei Zeilen die unerschöpflichen Stoffe verdichtet, von denen gute wie schlechte Literatur seit jeher lebt: Tod, Einsamkeit, Trauer, Liebe. Die aneinandergereihten Sätze werden immer lapidarer. Über die vier kindlich kleinen Worte der abschließenden Liebesbezeugung hinaus spricht sich die Trauer nur noch schweigend aus.

Mit der Ersparnis sprachlichen Aufwands korrespondiert die Zurückhaltung in der Verwendung poetischer Kunstmittel. Die prosanahen Sätze sind nur in Ansätzen rhythmisiert. Die sich reimenden Wörter stehen nicht am Ende der Verse, sondern sind so platziert, dass sie kaum auffallen. „Lieb“ reimt sich dabei nur unrein auf „Krieg“. Zur klanglichen Assonanz der beiden Wörter steht deren semantische Diskrepanz freilich in einer unerhörten Spannung. Auffällige poetische Abweichungen von der normalen Sprache weist das Gedicht sonst nicht auf. Nur ein Wort irritiert: „gefällt“. Es erweckt Vorstellungen von einem gefallenen Soldaten oder einem gefällten Baum.

Man muss das authentische Geschehen, das dem Gedicht zugrunde liegt, nicht kennen, um es zu begreifen und sich von ihm ergreifen zu lassen. Ein Mann tötet sich im Krieg selbst. Eine Frau, die ihn liebte, trauert um ihn. Dazwischen steht der Satz: „So einsam war es in der Welt.“ Zu den Verdichtungstechniken des Textes gehört es, dass die Einsamkeit sich auf beide Personen beziehen lässt, auf den Mann vor und bei seiner Tat wie auf die Überlebende in ihrer Trauer. In der Identifikation mal mit der einen, mal mit der anderen Person wird beim Lesen ein breites Spektrum möglicher Emotionen angerührt: etwas von der vage geahnten Verzweiflung eines Selbstmörders, doch auch von der emotionalen Wärme bei der Phantasie, von jemandem betrauert und geliebt zu werden; etwas von dem Mitleid der Frau und von ihrer Traurigkeit beim Verlust eines geliebten Menschen.

Weiß man mehr über die Zusammenhänge, in denen das Gedicht entstanden ist, eröffnen sich der Lektüre zusätzliche Aspekte. Die Dichterin lernte Georg Trakl im März 1914 in Berlin kennen. Zwei Wochen vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges besuchte sie ihn in Innsbruck. Im September 1914 erlitt der in Galizien eingesetzte Sanitätsleutnant unter wahrhaft schauderhaften Eindrücken der Schlacht bei Grodek einen Nervenzusammenbruch, versuchte sich zu erschießen und wurde zur Beobachtung in das Garnisonshospital Krakau eingewiesen. Dort nahm er sich in der Nacht vom 3. zum 4. November mit Kokain das Leben. Neun Tage vor seinem Tod hatte er Else Lasker-Schüler gebeten, nach Krakau zu kommen. Die Karte erreichte sie zu spät. Sie „wäre ja sofort abgereist“, schrieb sie später, und sie hätte ihn „froh machen können“, glaubte sie.

Mit zwei Gedichten gedachte sie seiner. Das Epitaph erschien 1917. Es enthält ein winziges Signal der beim Schreiben gewonnenen Distanz zu dem Toten: die Vergangenheitsform im letzten Satz. Sie hat mich einige Zeit lang irritiert, ja insgeheim empört. Warum schrieb die Dichterin nicht „Ich hab ihn lieb“? In der Identifikation mit dem toten Trakl las ich das Imperfekt als kleinen Liebesverrat. In der Identifikation mit der Dichterin lese ich es inzwischen auch als lebensnotwendige Bewältigung eines unwiderruflichen Verlustes.

Hinweise:

Der Beitrag ist die etwas überarbeitete Version eines Artikels, der am 2.11.2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Rahmen der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen „Frankfurter Anthologie“ erschien. Das Gedicht ist zuerst in Else Lasker-Schüler: Die gesammelten Gedichte. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1917, S. 117, erschienen. Es wurde unter anderem abgedruckt in Thomas Anz / Joseph Vogl (Hg.): Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918. Stuttgart: Reclam 2014. S. 67. Die erwähnte Interpretation von Andreas Hamburger erschien unter dem Titel „Erinnerter Abschied. Zur psychoanalytischen Interpretation des Trakl-Epitaphs von Else Lasker-Schüler nebst Anmerkungen zum Übertragungsangebot von Lyrik“ in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 22 (Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 2003): Trauer. Hg. von Wolfram Mauser und Joachim Pfeiffer. Würzburg 2003. S. 185-226.