Von der Humanisierung des Wahnsinns

Dietrich Geyers historische Untersuchung über die Anfänge der deutschen Psychiatrie

Von Jonas NesselhaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Nesselhauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Medizin ist ein eindrucksvoller Spiegel dessen, wie sich der Blick auf den Menschen und das Verständnis seines Körpers verändert hat. Materialität und die Funktionsweise des Körpers wurden in verschiedenen Kulturen und Traditionen unterschiedlich aufgefasst, oft noch stark religiös geprägt und reglementiert. So konnten Fortschritte in der Anatomie beispielsweise erst im 16. Jahrhundert (und bei Andreas Vesalius zunächst noch im Geheimen) erzielt und etwa der Blutkreislauf durch William Harvey erst Ende der 1620er-Jahre beschrieben werden.

Und auch der Blick auf die Psyche des Menschen wurde noch bis in die Frühe Neuzeit von bereits in der Antike etablierten Grundsätzen wie der Humoralpathologie bestimmt. Diese wohl von Hippokrates geprägte und später von Galenos weiterentwickelte ‚Viersäftelehre‛ weist dem Individuum einen von vier ‚Temperamenten‛ zu, jeweils durch eine Unausgewogenheit der zentralen vier Körpersäfte verursacht: Blut (Sanguiniker), Gelbe Galle (Choleriker), Schwarze Galle (Melancholiker) und Schleim (Phlegmatiker).

So überrascht es kaum, dass es ebenfalls bis zum späten 18. Jahrhundert dauerte, bis auch diese Sichtweise aktualisiert wurde, und es schließlich einen ‚Arzt für die Psyche‛ (den ‚psyche-iatros‛) gab – und sich mit der Psychiatrie eine heute zentrale Fachdisziplin der Medizin herausbildete. Tatsächlich geht der Ausdruck auf den deutschen Arzt Johann Christian Reil zurück, und daher ist es kein Zufall, dass Dietrich Geyer seine überblickende Monographie zur frühen Entwicklung des Fachs eben jenem Mediziner aus Halle an der Saale widmet.

Mit Trübsinn und Raserei legt der emeritierte Osteuropahistoriker nun aber keinen umfassenden Abriss der Psychiatriegeschichte vor, sondern beschränkt sich auf die Anfänge der jungen Disziplin in Deutschland. So führte der stark von der Aufklärung beeinflusste neue Blick auf den Menschen zu einem modernen Bewusstsein für den Körper (und konkret eben auch die Psyche), wurde zunächst aber hauptsächlich in Frankreich (in Paris bei Philippe Pinel) praktiziert und erst im frühen 19. Jahrhundert durch Forschungsaufenthalte und die Übersetzung zentraler Schriften nach Deutschland importiert.

Zwar gab es schon länger Tollhäuser (etwa der Narrenturm in Wien), diese glichen aber in einer Zeit mit sehr vagen Definitionen des ‚Wahnsinns‛ (wie ja ausführlichst von Michel Foucault herausgearbeitet) noch vorwiegend Strafanstalten und wurden überhaupt erst in dieser Zeit zum Spital gerechnet. Mit dem „Abschied vom überkommenen Hexen-, Teufels- und Wunderglauben“ geht nun auch eine staatliche „Irrenfürsorge“ einher – vorangetrieben durch Reil und den Theologen Heinrich Balthasar Wagnitz, und erneut in Halle, wo später auch der junge Wilhelm Grimm kurzzeitig zur Behandlung weilen wird.

Davon ausgehend stellt Geyer exemplarisch vier weitere Vorreiter der deutschen Psychiatrie vor, paradigmatisch unter dem Titel „Irresein als akademisches Problem“. Denn gut 400 Kilometer weiter südlich entwickelte der Chirurg Johann Autenrieth in Tübingen ein Einzelzimmer zur sicheren Unterbringung und notfalls Fixierung von „Gemüthskranken“ [sic], das als ‚Autenriethsches Zimmer‛ bald schon zum internationalen Standard. In Leipzig wiederum verfasste Johann Heinroth das einflussreiche „Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens“ samt späterem Anmerkungsapparat, während Alexander Haindorf das System psychiatrischer Kliniken von Münster und später Heidelberg aus reformierte. Friedrich Nasse (Bonn), der langjährige Herausgeber der „Zeitschrift für psychische Aerzte“, komplettiert den kenntnisreichen Überblick auf akademische Lehre, universitäre Forschung und medizinische Praxis des frühen 19. Jahrhunderts im noch kleinstaatigen Deutschland.

Von diesen zentralen fünf Stationen der deutschen Psychiatrie ausgehend, verfolgt Geyer die Entwicklung der „Anstaltspsychiatrie“, unterlag die Sorge (und möglichst Heilung) von ‚Irren, Verrückten oder Blödsinnigen‛ doch dem Staat. Vor allem die 1802 in Neuruppin errichtete Anstalt war zunächst beispielhaft, spiegelte das gewandelte Verständnis auf den menschlichen Geist wider und zeichnete sich sowohl durch die Anwendung neuer Methoden wie auch die genauestens festgelegte Organisationsstruktur aus. Zur gleichen Zeit leitete Johann Gottfried Langermann, der als Revisor die Anlage in Brandenburg 1810 besuchte, eine Anstalt in Bayreuth und zeichnete sich vor allem durch reformatorische Ansätze aus, die in der heutigen Zeit selbstverständlich wirken, etwa wenn er (wortwörtlich) die Patienten von ihren ‚Fesseln‛ löste. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch an den Beispielen der Berliner Charité oder den sächsischen Heilstätten in Waldheim und Sonnenstein finden – die Psychiatrie wandelte sich immer stärker von einer Strafanstalt (inklusive körperlicher „Straf- und Zähmungsmittel“) hin zur medizinischen Pflegeanstalt.

Mit den Ärzten Maximilian Jacobi, Albert Zeller und Christian Roller stellt Geyer drei beispielhafte Lebens- und Forschungsbiographien vor, die alle – in Siegburg, Winnenthal und Achern – fortschrittliche und reformierte „Musteranstalten“ leiteten und weiterentwickelten. Vor allem Forschungsreisen ins europäische Ausland, aber auch zu vorbildhaften Anstalten in Deutschland, prägten die Ärzte – exemplarisch zu sehen in der ‚Illenau‛, einer großflächigen und sowohl architektonisch wie gartenbaulich auf die therapeutischen Bedürfnisse abgestimmte Anlage. Der nahezu autarke Komplex im badischen Achern (mit Wäschereien und Küchen) verfügte zudem über eine Kirche, sollte der Heilungsprozess doch mit religiös-seelsorgerischer Unterstützung gelingen.

Immer wieder berücksichtigt Geyer dezidiert die Institutionalisierung der Psychiatrie, sowohl durch zentrale Veröffentlichungen, Lehrbücher und vor allem Fachzeitschriften als auch universitäre Forschung und die Einrichtung von Lehrstühlen oder Verbänden. Vor allem zur Mitte des 19. Jahrhunderts – in der Zeit des Vormärz – erlebte die Disziplin ihre „Professionalisierung“ und Akademisierung, nicht zuletzt durch zahlreiche Fachorgane wie die „Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie“ (ab 1844) oder die „Zeitschrift für die Beurtheilung und Heilung der krankhaften Seelenzustände“ (ab 1838).

Ein Ausblick schließt die umfassende Untersuchung ab, den weiteren Verlauf der deutschen Psychiatriegeschichte vom späten 19. Jahrhundert bis heute knapp skizzierend. So wurde etwa bereits 1917 und noch während des Weltkrieges die „Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie“ gegründet, aus der in der jungen Bundesrepublik dann das Max-Planck-Institut für Psychiatrie hervorging. Heute – und unter anderem nach der weitgreifenden Psychiatriereform der 1970er-Jahre – hat sich die Disziplin längst internationalisiert und standardisiert, etwa zu sehen an den Kategorien der American Psychiatric Association und deren Handbuch DSM.

Dietrich Geyers abgeklärte und mit Weitblick geschriebene Geschichte der Anfangsjahre deutscher Psychiatrie überzeugt sowohl durch seine detaillierten und teils anekdotischen Kenntnisse als auch die exemplarische Fokussierung auf prägende Einzelpersonen und ihren Wirkungskreis von Halle bis Siegburg. Die Akademisierung der Disziplin verfolgt er immer wieder anhand von Zeitschriften und zentralen Veröffentlichungen und verliert dabei nie die prägenden Fortschritte des europäischen Auslands aus den Augen. Auch wenn der abschließende Ausblick auf die weiteren Entwicklungen der Psychiatrie im 20. Jahrhundert nicht immer wertfrei und (etwa in seinen Kommentaren über die ‚Popularisierung‛ der Psychiatrie durch Manfred Lütz) teils zu absolut gesetzt ist, liegt mit Dietrich Geyers Trübsinn und Raserei ein umfassender und überzeugender historischer Abriss vor, der nicht nur aufzeigt, wie sich der Blick auf den Menschen und die Vorstellung seiner Psyche gewandelt hat, sondern ebenso, wie sich die Heil- und Therapiemethoden herausgebildet und geändert haben. Und nur durch die Berücksichtigung der Anfangsjahre, als die Psychiatrie noch in ihren Kinderschuhen steckte, ist dann auch das Verständnis der heutigen medizinischen Fachdisziplin überhaupt möglich.

Titelbild

Dietrich Geyer: Trübsinn und Raserei. Die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
352 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406667909

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch