Der Sprung ins kalte Wasser

Bekenntnisse eines Lehrers oder Warum hat er die Reißleine zu früh gezogen?

Von Stefanie HauckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hauck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sprung lautet der Titel von Wolfgang Winkels neuem Erzählband, der die Helden von zehn Kurzgeschichten vereint, allesamt waschechte Nonkonformisten und dem Leitmotiv folgend, das exemplarisch auf den Buchrücken gedruckt ist: "Wenn man eines Tages seine Leiche ins Wasser wirft, wird man sie zwanzig Kilometer flußaufwärts finden." Winkels Protagonisten sind selbsternannte gesellschaftliche Außenseiter, kompromißlose Individualisten, in sich gekehrt und rastlos umherirrend. Mit Ironie und Sprachwitz versucht er, sie dem Leser näherzubringen, durch seine beinahe emotionslosen Schilderungen schafft er jedoch Distanz, und eine Identifikationsmöglichkeit mit seinen Figuren ist kaum gegeben.

Wolfgang Winkel ist Lehrer und ehemaliger Fallschirmjäger, daher kennt er sich gut aus in den Milieus, in denen seine Erzählungen spielen. Gleich in der ersten Geschichte werden zukünftige Fallschirmjäger beschrieben, denen der erste Sprung unmittelbar bevorsteht. Die emotionale Zerissenheit der jungen Soldaten, ihr Pendeln zwischen Angst und Ergriffenheit werden thematisiert. Aber es geht nicht einfach nur um die Angst vor dem Sprung, weil man sich auf Neuland wagt, sondern die Angst wird als intensives, inneres Erlebnis zelebriert. Die Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen findet sich in symbolträchtigen Naturbeschreibungen und Verheißungen von Sieg und Tod wieder. Für die Kameraden, die sich der "geheimnisvollen Nähe des Himmels" bewußt sind, gibt es kein Zurück. Der Sprung, nach dieser Erzählung ist der Band benannt, ist jedoch in einer Hinsicht anders als die übrigen Geschichten: In dieser spielt Winkel noch unbelastet mit Ironie und Übertreibungen, er läßt für Rückschlüsse noch einiges offen, der Leser soll sich noch nicht festlegen.

Im Kasernengelände ist auch eine weitere Erzählung Winkels angesiedelt, OHNE BESONDERE VORKOMMNISSE heißt sie. Hier vermittelt Winkel seine Botschaft allerdings weniger verschlüsselt. Ein ehemaliger Soldat trauert um "verlorene Ideale, verlorene Jahre", vermißt die frühere "Geradlinigkeit" und "Unerschrockenheit" in der Armee. Käme es heute zu einer militärischen Bedrohung, würden "junge Männer Freiheit, Volk und Staat schützen, aus denen man Hilfspfleger, Suppenfahrer und Kindergärtner gemacht hatte".

Die Literatur Wolfgang Winkels wird mit den frühen Schriften Ernst Jüngers verglichen. Michael Buselmeier beispielsweise weist auf diese Ähnlichkeit in einem Artikel der FRANKFURTER RUNDSCHAU hin. Ein undurchschaubares Unterfangen, aber dennoch liegt den Texten beider Autoren eine Ideologie zugrunde, die im Totalitären wurzelt und sich eines radikalen Idealismus bedient. Winkel selbst spielt zaghaft auf sein Leitbild an: der Schauplatz der Erzählung ABRECHNUNG AM FAHRRADSTÄNDER ist das "Ernst-Jünger-Gymnasium". In dieser inhaltlich ambigen Geschichte greift Winkel zu satirischen Erzählstrategien in Wiglaf-Droste-Manier und versucht, die wenig sachlich geführte Diskussion um die Täter-/Opfer-Problematik, aus Drostes SCHOKOLADENONKEL BEI DER ARBEIT bekannt, provokant, aber ungeschickt weiterzutreiben. Aus der Sicht eines Sportlehrers werden die neusten Begebenheiten an der Schule geschildert. Auf ihn und seine Kollegen fällt der Verdacht, die Mädchen im Unterricht sexuell belästigt zu haben. Ein eigens dazu einberufener "Ausschuß gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung" soll die Vorwürfe prüfen. Das Ergebnis der Untersuchung lautet schließlich: "Fünfzehnjährige Mädchen können schon erstaunlich intrigant sein", und der Leser erfährt sodann, ein Sportlehrer sei ungeschoren davongekommen.

Winkels Helden sind Helden der Antimoderne. Ihre Eitelkeit und Arroganz läßt ihnen keinerlei Raum, über die Beweggründe ihres Handelns zu reflektieren. Was leistet dieses Buch also ? Winkel präsentiert seine Erzählungen sprachlich ausgefeilt, bedient sich gekonnt aller ihm zur Verfügung stehender Stilmittel, aber hinter seinem ausgeprägten Formalismus hinkt der fragwürdige Inhalt hinterher - und bleibt auf der Strecke.

Titelbild

Wolfgang Winkel: Der Sprung.
Chadwyck Healey, Lintig-Meckelstedt 1998.
123 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3931924033

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